Kitabı oku: «Die Gedächtnislosen», sayfa 6

Yazı tipi:

Julius Löbmann stand ebenfalls auf der Liste, war jedoch nicht auffindbar. Ihm war die Flucht gelungen. Da es so gut wie unmöglich war, aus Les Milles zu entkommen, musste Julius während einer seiner alltäglichen Wege ins nahe gelegene Dorf Saint-Cyr-sur-Mer geflohen sein, wo er als Teil eines Trosses von Zwangsarbeitern im Dienste der französischen Industrie und Landwirtschaft (GTE) arbeitete. Er muss sich wohl unversehens entschieden haben, als er begriffen hatte, dass seine Familie nicht entkommen würde. Er allein konnte fliehen, die anderen saßen im abgeschlossenen Bereich des Lagers in der Falle. Ich stelle mir vor, wie er sich von seiner Frau verabschiedet, von seinem Sohn, seinem Bruder, seinem Schwager und in der Nacht vor seiner Flucht kein Auge zugemacht hat. Und dann am eigentlichen Tag, an dem es galt, den richtigen Moment zu erfassen, um sich davonzustehlen, um in die Pinienwälder von Saint-Cyr-sur-Mer zu verschwinden oder auf dem Rückweg vom Wagen abzuspringen.

Die Chancen für einen geflohenen Juden, der ohne Geld, ohne Kontakte und ohne irgendwelche Kenntnisse über Frankreich sich selbst überlassen war, waren unter einem Regime, das mit Deutschland kollaborierte und aus freien Stücken antijüdische Verordnungen eingeführt hatte, äußerst gering. Es sei denn, das Schicksal entschied sich, großmütig zu sein und ihn mit einem dieser mutigen und mitfühlenden Franzosen zu begünstigen, die während des Krieges Juden in ihren Kellern oder auf ihren Dachböden versteckt hielten und ihnen regelmäßig heimlich brachten, was zum Überleben reichen musste. Aber selbst dieses Szenario konnte tragisch enden, wenn der Schutzengel denunziert und von der Gestapo oder der französischen Polizei verhaftet wurde und seine Schützlinge gefangen oder in ihren Löchern ohne irgendeine Hilfe zurückblieben.

Wer auf sich allein gestellt blieb, der musste schlau und verwegen sein; und schenkt man Lotte Kramer Glauben, so war Julius dies. Um nicht Gefahr zu laufen, seine Herkunft preiszugeben, gab er sich als taubstumm aus und ließ sich in einem großen Hotel an der Côte d’Azur wahrscheinlich irgendwo in der italienisch besetzten Zone zwischen Nizza und Menton als Liftboy anheuern. Ich weiß nicht, ob sein Patron geahnt hat, mit wem er es zu tun hatte, er besaß jedoch die Güte, trotz der fehlenden Papiere dieses ulkigen Kerls mit Pupillen so blau und Haaren so blond wie bei einem Deutschen ein Auge zuzudrücken.

Nach dem Einmarsch der Deutschen in die italienische Zone muss Julius miterlebt haben, wie Offiziere der Wehrmacht und der SS in dem Hotel abgestiegen sind. Wie viele Male täglich hat er wohl das Martyrium erleiden müssen, diese Männer auf ihre Etage zu fahren, in der Enge der Aufzugskabine ihre Uniformen zu streifen, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen, seine Hände zittern zu fühlen, wenn er den Knopf bediente, und sein Herz vor Angst trommeln zu spüren, dass ihm ein Blick, ein Reflex passieren mochte, ein »Bitte schön« oder ein »Danke« oder ein »Guten Morgen« – ein einziges Wort auf Deutsch und er wäre verloren gewesen. Im Sommer 1944 wurde er von diesem Druck befreit, als die Truppen der Alliierten in der Normandie und später in der Provence landeten und die Besatzer aus Frankreich verjagten. Vielleicht ging er nach Drancy in der Hoffnung, dort seine Lieben wiederzufinden, und erfuhr dann, dass alle Gefangenen nach Auschwitz gebracht worden waren. War Julius in diesem Moment bereits klar, wofür der Name Auschwitz stand?

Seit dem Sommer 1941 wussten die Briten, dass die Kommandos der SS, deren Funkverschlüsselung sie dechiffriert hatten, im Osten Europas Massaker anrichteten. In der Folgezeit gab es dafür immer mehr Indizien, die den Alliierten aus unterschiedlichen Quellen der deutschen Armee, von Vertretern der jüdischen Bevölkerung und von polnischen Widerstandskämpfern zugespielt wurden. Im Frühling 1942 zeigte sich der Daily Telegraph alarmiert: »Mehr als 700.000 polnische Juden sind bei einem der größten Massaker der Weltgeschichte ermordet worden.« Immer mehr Medien verbreiteten diese Informationen, selbst die Gaskammern wurden erwähnt. Am 17. Dezember 1942 verurteilten die Alliierten diese »bestialischen Vernichtungsmethoden« öffentlich und einhellig. Der britische Radiosender BBC übertrug die Erklärung, die wörtlich lautete: »Niemand wird niemals mehr sagen können, er habe nie etwas von Deportierten gehört. Diejenigen, die fähig sind zu arbeiten, werden in den Lagern ausgebeutet, bis sie vor Erschöpfung sterben. Die Kranken und Gebrechlichen sterben vor Kälte oder an Hunger oder werden brutal umgebracht.« Die amerikanischen, britischen und sowjetischen Regierungen wussten sogar, dass schon mehr als zwei Millionen Juden umgebracht worden und fünf Millionen aufs Schlimmste bedroht waren.

Da diese Informationen von Vichy-Frankreich zensiert wurden, wird Julius einen letzten Funken Hoffnung bewahrt haben, vor allem für seinen kleinen Fritz, diesen Jungen, der noch ein Kind war. Die Nazis würden doch wohl nicht auch noch Kinder ermordet haben. Aber an wen konnte er sich wenden und um Hilfe bitten? Seine ganze Familie, all seine Freunde waren verschwunden, und das befreite Frankreich kümmerte sich keinen Deut um die dem Tod entronnenen Juden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Amerika zu gehen, nach Chicago, jener Stadt, in die seine Familie geplant hatte zu fliehen, bevor sie von Mannheim fortgerissen wurde.

Während der Überquerung des Atlantiks muss Julius an Bord des Schiffes, das sich von einem in Feuer und Blut versinkenden Europa entfernte, ein Gefühl tiefer Traurigkeit bei der Vorstellung übermannt haben, diese Reise nun allein angetreten zu haben, mit der sich die Seinen als letzten Ausweg voller Bitterkeit abgefunden hatten, und von der er niemals geglaubt hätte, dass sie sich eines Tages in einen unerreichbareren Traum verkehren sollte: sie alle gemeinsam auf diesem Schiff, befreit vom Untergang ihres Heimatlandes. Die Augen auf den Horizont gerichtet, an dem bald schon der ersehnte amerikanische Kontinent aufscheinen sollte, wird Julius wohl gespürt haben, dass er dort niemals das Leben mit seinem Sohn Fritz teilen würde, auch nicht mit seiner Frau Mathilde und auch nicht mit seinem Bruder Siegmund.


4Die Leugnung des Karl Schwarz

CHICAGO WAR für die europäischen Juden eines der ersten Wunschziele, da es nach New York und Warschau mit etwa 270.000 Mitgliedern die drittgrößte jüdische Gemeinde weltweit beherbergte. Die Einflussreichsten und am besten Integrierten von ihnen waren deutscher Abstammung. Als Erste angekommen, hatten sie von 1840 an soziale, kulturelle und religiöse Einrichtungen aufgebaut, mit denen die Gemeinde aufblühte. Mit der Jahrhundertwende strömten Juden aus Osteuropa und Russland hinzu, die vor Pogromen aus ihren Ländern flohen, in den Dreißigerjahren schlossen sich ihnen die Opfer der Nazi-Verfolgungen an, wie etwa der ungarische Maler und Fotograf László Moholy-Nagy. Auch nicht jüdische Deutsche waren in Chicago emigriert, so einer der Gründer der modernen Architektur, Ludwig Mies van der Rohe, der Nazi-Deutschland weniger aus Gründen des politischen Widerstands verlassen hatte, sondern weil das Regime moderner Kunst gegenüber feindlich gesonnen war und seine Arbeit nicht schätzte. Seine minimalistische Architektur des »Fast nichts« prägt Chicagos Erscheinungsbild bis heute: Wolkenkratzer aus Stahl und Glas und vor allem die imperiale Crown Hall auf dem Campus des Institute of Technology, ein rechteckiger Grundriss aus Metall und Glas, eingefügt in einen grünen Garten.

Vor diesem Hintergrund wird Julius Löbmann wahrscheinlich schon bald andere Exilanten getroffen haben, vielleicht sogar Freunde oder ehemalige Mannheimer, die seine Familie, sein Geschäft gekannt hatten, mit denen er Erinnerungen an ein Deutschland austauschen konnte, das für immer verschwunden war. Immerhin war beinahe die Hälfte der 3.500 Mannheimer Juden, denen es gelungen war, sich ins Exil zu retten, in die USA ausgewandert. Auf diese Weise wird Julius wohl auch die Bekanntschaft von Erna Fuchs gemacht haben, die, wie er, ursprünglich aus dem Badischen stammte, das sie 1937 mit ihrer Familie verlassen hatte, um sich in Chicago niederzulassen. Er hat nicht lange gezögert, sie zu heiraten, denn nach Papieren aus den Archiven in Karlsruhe trug Erna 1949 bereits den Namen Löbmann und lebte unter derselben Adresse wie er. Sich schnell mit einer Jüdin aus seiner Heimat neu vermählt zu haben, die begreifen konnte, was er durchgemacht hatte, muss Julius vor großer Einsamkeit bewahrt haben. Denn auch wenn die Gemeinde in Chicago Emigranten offenherzig aufgenommen haben mag, so konnten sich doch viele Mitglieder keinen Begriff davon machen, was ihre Religionsbrüder unter dem Nationalsozialismus erlitten hatten. Umso weniger war das noch von der nicht jüdischen amerikanischen Gesellschaft zu erwarten, die vor dem Krieg doch recht wenig Mitgefühl gezeigt hatte.

Als sich 1938 für die europäischen Juden immer deutlicher ein düsteres Schicksal abzeichnete, hatten Meinungsumfragen ergeben, dass mehr als 80 Prozent der Amerikaner gegen eine Erhöhung der Einwanderungsquote waren. Ein Jahr später stellten sich mehr als 60 Prozent der Amerikaner in Umfragen gegen einen von Senator Robert Wagner und der Abgeordneten Edith Rogers vorgeschlagenen Gesetzentwurf, der die Aufnahme von weiteren 20.000 deutsch-jüdischen Kindern außerhalb der festgelegten Quote vorsah. Das Projekt wurde von antisemitischen Interessengruppen vereitelt, bevor es überhaupt noch dem Kongress zur Abstimmung vorgelegt werden konnte.

Ahnte Julius, welche Verbindung zwischen dem Mangel an Solidarität in den USA und dem Schicksal seiner Familie bestand? Viele jüdische Immigranten waren den USA dennoch dankbar dafür, überhaupt aufgenommen worden zu sein und eine Chance zur Integration und zum sozialen Aufstieg erhalten zu haben, wie nur wenige andere Länder sie boten. Der starke deutsche Akzent von Henry (Heinz) Kissinger, einem bayerischen, 1938 nach New York geflohenen Juden, hinderte diesen nicht daran, ein legendärer amerikanischer Außenminister zu werden. Wie viele Briefe von Juden beinhalteten nicht dieses Bekenntnis zum Patriotismus: »Wir sind schon echte Amerikaner geworden!« Nur wenige all jener, die in andere Länder emigriert waren, haben das von sich sagen können. Selbst in Israel ist Juden die Integration häufig schwergefallen, da sie sich weigerten, Hebräisch zu lernen und von einer tiefen Sehnsucht nach ihrem Heimatland durchdrungen waren.

Als das Kriegsende verkündet wurde, wird Julius Löbmann voller Erwartung versucht haben, irgendetwas über seinen Sohn, seine Frau und die anderen herauszufinden. Dann wird er aber auch die Bilder über die Vernichtungslager in den Medien gesehen haben, die mitten unter Bergen von Leichen lebendige Tote zeigten. Die Hoffnung muss sich schlagartig aufgelöst haben. Welche Spuren blieben ihm von diesen Verschwundenen? Einige Fotografien vielleicht, Gegenstände, Kleider und die Möbelstücke, welche die Familie von Mannheim aus nach Chicago geschickt hatte. Es sei denn, diese wären niemals heil in Chicago angekommen, da die Nazis nach dem Einmarsch in die Niederlande zahlreiche Container mit jüdischem Eigentum gestohlen hatten, die im Hafen von Rotterdam darauf warteten, ihren Besitzern über den Atlantik zu folgen.

Mit dieser letzten Plünderung nahm man den Flüchtlingen, von denen viele mit dem Lebensminimum emigriert waren, noch den letzten Rest dessen, was das Dritte Reich ihnen nicht schon vorher geraubt hatte. Für sie war das Exil von einem schwindelerregenden finanziellen und gesellschaftlichen Niedergang begleitet, von dem sich nur die wenigsten erholen sollten, denn andere Hürden wie die Sprachbarriere oder die Schwierigkeit, ihre deutschen Diplome im Ausland anerkennen zu lassen, kamen hinzu. Die Bewährungsprobe war vor allem für diejenigen besonders traumatisch, die in Deutschland Karriere gemacht hatten und die nun, 40-jährig, 50-jährig, die soziale Leiter bis zum Boden hinunterfielen. Eine Mannheimerin, die ein Kaufhausimperium besaß und führte, wurde in New York Putzfrau. Erfolgreiche Geschäftsmänner, die in ihrem Geburtsland als Vorbild dienten, waren plötzlich auf den Platz eines Assistenten verbannt. Rechtsanwälte und Mediziner fanden sich in einer kräftezehrenden körperlichen Arbeit wieder, wobei ihnen, selbst wenn sie alt waren und krank, keine andere Wahl blieb, da es in den Vereinigten Staaten keinerlei soziale Absicherung gab. Zur Erniedrigung, die mit dem sozialen Abstieg einherging, gesellte sich die materielle Ungewissheit. Nicht wenige sahen für sich keinen anderen Ausweg als den Suizid.

Julius Löbmann muss in den Genuss der Hilfe von Verwandten oder jüdischer Organisationen gekommen sein, denn glaubt man den Adressen, die auf den an meinen Großvater gerichteten Briefen stehen, hat er keine Armut erlebt. Anfang 1947 lebte er in einem gepflegten Ensemble von mehreren kleinen Backsteingebäuden in Wicker Park, einem Viertel mit vielen polnischen Emigranten. Zwei Jahre später wohnte er gemeinsam mit seiner Ehefrau Erna in Kenwood, einer hübschen Gegend am Rande des Michigansees, deren Häuser im georgianischen Stil und dem des Art déco errichtet worden waren und die eine Zeit lang der Chicagoer Elite als Rückzugsort gedient hat. Das Paar lebte in einem anspruchslosen, doch behaglich erscheinenden Gebäude auf einer breiten von Bäumen und Villen gesäumten Allee, nicht unweit der Synagoge und der jüdischen Schulen.

So ungefähr stellte sich die Situation von Julius Löbmann dar, als er im Januar 1948 von den beiden Inhabern der Mineralölgesellschaft, Karl Schwarz und Max Schmidt, Reparationszahlungen einforderte. Kurz zuvor war in der amerikanisch besetzten Zone ein Gesetz verabschiedet worden, welches vorsah, dass sämtliche Güter, die unter dem NS-Regime geraubt oder »zwangsverkauft« worden waren, ihren Eigentümern oder deren Erben zurückerstattet werden mussten. Das Rückerstattungsgesetz setzte mit der Verkündung der Nürnberger Gesetze am 15. September 1935 einen Stichtag fest, nach welchem jedwede Transaktion jüdischen Eigentums anfechtbar war. Die amerikanische Zone war in dieser Frage Vorreiter und äußerst kategorisch. Die Fluggesellschaft PanAm machte in den USA mit dem Thema sogar Werbung: »Sie müssen nach Deutschland wegen Rückerstattungsforderungen? Tägliche Flüge der PAA in die wichtigsten deutschen Städte.« Die Airline bot Flugtickets zu niedrigen Preisen an, die für Julius und auch den Großteil der Flüchtlinge aber unbezahlbar blieben, wohingegen jene, die sie sich hätten leisten können, sich dagegen sträubten, ins Land der Täter zurückzukehren.

Die Briten warteten zwei Jahre lang, bevor sie ihrerseits einen rechtlichen Rahmen für Rückerstattungen schufen, der demjenigen der Amerikaner ähnlich war. In der französischen Zone hingegen war das Gesetz weniger zwingend, da es den Stichtag erst auf den 14. Juni 1938 festsetzte, den Tag, von dem an Juden dazu gezwungen worden waren, ihre Geschäfte und Unternehmen in einem öffentlichen Register einzutragen, um deren Arisierung zu vereinfachen. Die Franzosen waren der Auffassung, dass es bei einer Übernahme vor diesem Datum Angelegenheit des Klägers sein sollte, die Illegalität der Transaktion zu beweisen.

Karl hatte sicherlich vom Rückerstattungsgesetz gehört. Nach dem Krieg hatten die amerikanischen Besatzungsbehörden seine Firma unter Aufsicht gestellt, da sie dank des vollständig erhaltenen Registers die vielen in Mannheim arisierten jüdischen Firmen und Grundbesitze ausfindig gemacht hatten, unter denen sich auch die Mineralölgesellschaft befand. Allerdings muss Opa wohl gedacht haben, dass er zu jener Gruppe gehörte, die einen »fairen Preis« bezahlt hatte, und folglich bald vom Verdacht, Juden ausgebeutet zu haben, befreit sein würde. Viele Käufer dachten wie er, denn das NS-Regime hatte die Bürger bei bestem Gewissen zu Komplizen gemacht, indem es diese Verbrechen legalisierte. In Karls Vorstellung hatte er folglich völlig legitim gehandelt, als er das Unternehmen im öffentlichen Register der zum Verkauf stehenden jüdischen Firmen fand und den damaligen »Marktpreis« bezahlte – und zwar mit einem Vertrag, den die Behörden für gültig erklärten. Und dies nur umso mehr, als er davon überzeugt gewesen zu sein schien, dass die Transaktion »in freundschaftlichster Weise erfolgt« sei, wie er es in den zahlreichen mit Julius Löbmann und vor allem dessen Rechtsanwälten geführten Briefwechseln, deren Kopien ich im Keller des Mannheimer Hauses gefunden habe, stets wiederholte.

So antwortete mein Großvater der Rechtsanwältin Rebstein-Metzger wie selbstverständlich, dass er nicht das Geschäft der Firma Löbmann weitergeführt, sondern schlicht die materiellen Güter gekauft und auf diesem Fundament seine eigene Firma gegründet hätte. Er war überzeugt, sich als besonders großzügig erwiesen zu haben, indem er zumindest zum Marktpreis Objekte gekauft habe, die gar keinen Wert besessen hätten. »Bei der Bewertung der Einrichtungsgegenstände wurde jeder Gegenstand bis in das Kleinste (ein Knäuel Schnur, Packpapier, Stempel, Bleistiftspitzmaschine etc.) bewertet«, unterstreicht er. Ihm zufolge habe er außerdem eine Summe von 5.000 Reichsmark für Verpackungen und leere Tonnen bezahlt, die sich bei den Kunden der Löbmanns befanden und die er nie mehr habe zurückholen können. Es war für ihn offensichtlich, dass »es sich nicht um eine tatsächliche Arisierung gehandelt hat«. Und so vermochte er sich nicht vorzustellen, »in welcher Form Herr Löbmann Rückerstattungsansprüche stellen möchte«.

Die Rechtsanwältin erwiderte: »Der Kauf- und Übernahmevertrag zeigt klar, dass es sich um einen Geschäftskauf im Ganzen handelte und nicht nur um einen Verkauf von Einrichtungsgegenständen. Sie haben sich sogar das Recht ausbedungen, den Firmennamen Siegmund Löbmann & Co. mit oder ohne Zusatz weiterzuführen. Richtig ist nur, dass Sie lediglich Einrichtungsgegenstände bezahlt haben, so wie dies bei derartigen Verkäufen damals eben üblich war. Ich kann auch nicht erkennen, dass Sie wenigstens diese Gegenstände angemessen bezahlten. Aus Ihren mitübersandten Anlagen ergibt sich vielmehr, dass überall nur die sog. Liquidationswerte, und zwar abgerundet, eingesetzt wurden.« Meinem Großvater fiel nichts Besseres ein, als den Ton noch weiter zu verschärfen, indem er der Rechtsanwältin schrieb, dass es sich bei den Einrichtungsgegenständen »um sehr alte Stücke« gehandelt habe, »welche im freien Handel seinerzeit billiger zu haben gewesen wären, abgesehen davon, dass sich für diese Dinge infolge ihrer Unansehnlichkeit anderweitig kein Liebhaber mehr gefunden hätte«.

Nach mehreren erfolglosen Briefwechseln mit der Rechtsanwältin Rebstein-Metzger schrieb Opa schließlich Julius Löbmann persönlich: »Ich und meine Frau haben sich aufrichtig gefreut, dass Sie den hinter Ihnen liegenden Leidensweg wenigstens lebend überstanden haben, und das Schicksal Ihres Herrn Bruders und Schwagers tief bedauert. Sind die Familien ebenfalls umgekommen? Obwohl wir und wohl die meisten Deutschen das grausame Schicksal Ihrer Glaubensgenossen nicht gewollt haben, müssen wir nun alle darunter leiden. Dies zeigt auch unsere Auseinandersetzung, mit welcher ich ja nicht gerechnet hatte, nachdem ich Ihnen seinerzeit bestimmt nichts in den Weg legte und unsere ganzen Vereinbarungen in freundschaftlichster Weise erfolgten (…). Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind ja bei uns ganz trostlos. Ich glaube, Sie machen sich ganz falsche Vorstellungen vom Umfang unseres Geschäftes.« Er beendete seinen Brief wie folgt: »Wie geht es Ihrer Familie? Hoffentlich ist hier auch alles wohlauf? Meine Frau wurde dieses Jahr bereits 2-mal an Darmgeschwüren operiert und muss sich im September einer weiteren Operation unterziehen. So ist immer etwas.«

Mein Großvater hatte die Situation 1938 sicherlich weniger ausgenutzt als andere, da er nur einen Preisnachlass von zehn Prozent im Vergleich zum ursprünglichen Preis ausgehandelt hatte. Nichtsdestotrotz scheint ihm fünf Jahre nach dem Krieg nicht bewusst gewesen zu sein, dass das Dritte Reich per se ein Unrechtsstaat war und dass folglich jegliches in dieser Zeit vereinbarte Geschäft unter dieser Bedingung betrachtet werden muss. Er war wohl ehrlich schockiert, als er erfuhr, dass die Juden, die angeblich deportiert worden waren, um, wie die Nazis es behauptet hatten, im Osten zu arbeiten, in Wirklichkeit in grauenvollen Lagern ermordet worden waren. Aber er hatte die Dimension dessen so wenig begriffen, dass er seinen Schmerz mit dem von Julius Löbmann verglich – »müssen wir nun alle darunter leiden«. Und dann auch diese misstönende Bemerkung: »So ist immer etwas.«

Viele, die Betriebe arisiert hatten, reagierten wie Karl Schwarz, als man sie aufforderte, Juden zurückzugeben, was ihnen zustand: Sie verwiesen auf ihr eigenes Unglück, ihren miserablen Gesundheitszustand, ihre Schwierigkeiten, den Kopf über Wasser zu halten. Das fehlende Schuldbewusstsein und die Ausblendung wurden dadurch gestützt, dass sich darin die vorherrschende Geisteshaltung der Deutschen spiegelte, die folglich kaum auf Kritik stieß. Anstatt Mitgefühl für die Opfer des Nationalsozialismus zu bezeugen, bemitleideten sie sich unerlässlich selbst ob ihres eigenen Schicksals.

Die deutsch-jüdische Politologin Hannah Arendt, die in die Vereinigten Staaten emigriert war, machte zwischen August 1949 und März 1950 eine Reise nach Deutschland und war wie vor den Kopf gestoßen darüber, wie sehr die Bevölkerung in »Gefühlsmangel, Herzlosigkeit, billige[r] Rührseligkeit« erstarrt war. »Ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern oder aber um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt«, sei »schwer zu sagen«, schreibt sie. 1967 lieferten die beiden Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich ihre Antwort auf diese Frage in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern. Ihnen zufolge war diese »Verleumdung und Verdrängung« die Konsequenz eines Traumas, dessen Ursache aber nicht etwa die im Dritten Reich begangenen Verbrechen waren: »Hitler repräsentierte eine Allmachtvorstellung, sein Tod und seine Entwertung durch den Sieger bedeutete auch den Verlust eines narzisstischen Objekts und damit eine Ich- oder Selbstverarmung und -entwertung.« Mit dieser Niederlage sahen sich die Deutschen, die den Führer und den Nationalsozialismus auf Händen getragen hatten, »wie selbstverständlich von der persönlichen Verantwortung entbunden«. Eine solche Verweigerung öffnete einer verblüffenden Verharmlosung der Vergangenheit Tür und Tor.

Diese Haltung konnte sich in den folgenden Jahren nur umso mehr verfestigen, als die Regierung unter dem ersten Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, sie sowohl mit einer moralischen Rechtfertigung als auch mit einem gesetzlichen Rahmen untermauerte, den der Historiker Norbert Frei »Vergangenheitspolitik« genannt hat. Kaum an die Macht gelangt, begrub der Kanzler die von den Amerikanern und Briten ins Werk gesetzte Entnazifizierung, dieses Unternehmen zur Reeducation and Reorientation. »Durch die Denazifizierung ist viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden«, sagte Adenauer bei seiner Regierungserklärung am 20. September 1949. »Die Kriege und auch die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, dass man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbringen muss.« Wo es ihr »vertretbar« erschien, war die Bundesregierung entschlossen, »Vergangenes vergangen sein zu lassen«, wie der Kanzler es formulierte. Diese Formel fand über sein eigenes politisches Lager hinaus Zustimmung, da die Entnazifizierung weitgehend unpopulär war, selbst unter Sozialdemokraten. Die Geburt der Bundesrepublik sollte auch einen Ausgangspunkt bilden, um einen Schlussstrich ziehen zu können unter die angebliche Einteilung der Deutschen durch die Alliierten in zwei Klassen: »politisch Einwandfreie« und »Nichteinwandfreie«. Dieser Wunsch mochte nachvollziehbar erscheinen, doch abgesehen von wenigen Ausnahmen diente er lediglich dazu, am Ende alle Deutschen in die Kategorie der Einwandfreien zu überführen.

So war eines der ersten Gesetze, die der Bundestag verabschiedete, ein Straffreiheitsgesetz, von dem unter anderem Zehntausende Nazis profitierten, die zu einer Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten verurteilt worden waren, einschließlich solcher Straftäter, denen etwa eine Körperverletzung mit Todesfolge zur Last gelegt wurde. Das Gesetz nützte zugleich jenen »Illegalen«, die in den Untergrund abgetaucht waren, um den Gerichten zu entkommen. Anfangs gaben sich die alliierten Hohen Kommissare noch eher zurückhaltend angesichts einer solchen Rechtsbeugung, erklärten sich schließlich aber unter dem Druck Adenauers doch einverstanden.

Das war nur ein Vorspiel. 1951 erlaubte ein weiteres Gesetz, das unter der Bezeichnung »131er-Gesetz« bekannt wurde, die mehr als 300.000 Beamten und Berufssoldaten, die von den Alliierten entlassen worden oder bei inzwischen aufgelösten Behörden in den Ostgebieten beschäftigt gewesen waren, wieder zu integrieren und ihnen ihr Recht auf Rente zu sichern. Zehntausende, die tief in Verbrechen verwickelt waren, profitierten von diesem Gesetz, ja sogar die kriminellen Häscher der Gestapo. Am 31. März 1955 waren etwa 77 Prozent der Beamten des Verteidigungsministeriums, 68 Prozent des Wirtschaftsministeriums, 58 Prozent des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung und mehr als 40 Prozent des Innenministeriums Nutznießer dieses Gesetzes. Eines der wenigen gegenüber der Amnestiepolitik kritisch eingestellten Blätter, die Frankfurter Rundschau, enthüllte, dass im Außenministerium zwei Drittel der leitenden Positionen von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP besetzt waren. Adenauer mühte sich eiligst, im Geiste seiner Zeit eine Antwort zu liefern: »Man kann doch ein Auswärtiges Amt nicht aufbauen, wenn man nicht wenigstens zunächst an den leitenden Stellen Leute hat, die von der Geschichte von früher her etwas verstehen. (…) Ich meine, wir sollten jetzt mit der Naziriecherei Schluss machen.«

Die sensibelsten Bereiche waren Bildung und Justiz, wo der Prozentsatz der ehemaligen Parteimitglieder unter den Beschäftigten extrem hoch war. Lehrer, die zuvor Tugenden des Nationalsozialismus gelehrt hatten, sollten nun demokratische Werte vermitteln. Die personelle Kontinuität des Dritten Reiches im Rechtswesen der Bundesrepublik stellte ein beachtliches Hindernis bei Strafverfolgungen von NS-Verbrechern dar. Viele Richter und Staatsanwälte waren kaum daran interessiert, das zu verurteilen, was sie selbst mit geschaffen hatten, und zögerten Untersuchungen so lange hinaus, bis sie diese schließlich einstellen konnten. Sie waren übrigens bestens positioniert, um sich selbst von jeglicher Mitverantwortung freistellen zu lassen, und so wurde trotz ihrer engen Verstrickungen im Dritten Reich kaum einer von ihnen je verurteilt.

1954 sollte ein neues Amnestiegesetz die Entnazifizierung vollends in Stücke fleddern. Unter dem Einfluss der FDP, die das Justizressort innehatte und bei den ehemaligen Nazis, die sie verteidigte, sehr populär war, wurde das strafmildernde Prinzip des »Befehlsnotstands« eingeführt, das den Angeklagten de facto seiner Verantwortung enthob, auch wenn er ein Kriegsverbrecher war oder ein hochstehender Nazifunktionär gewesen ist, da alle Befehle immer »von oben« kamen. Das Gesetz, das weitgehend vom Bundestag bestätigt wurde, glich einer Generalamnestie. Unmittelbar darauf fielen die juristischen Strafverfolgungen von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auf ein extrem niedriges Niveau ab. Die Legende, dass es im Dritten Reich nicht möglich gewesen sein sollte, einem kriminellen Befehl den Gehorsam zu verweigern, ohne sein Leben riskiert zu haben, war zum offiziellen Narrativ geworden.

In seinem sich über fünf Jahre hinziehenden Briefwechsel mit Julius Löbmann und dessen Rechtsanwälten gab Karl Schwarz seinen larmoyanten Tonfall nie auf. »Ich kann mir auch denken, dass Sie selbst jeden Pfennig notwendig gebrauchen können. Ohne die Berechtigung Ihres Anspruches anzuerkennen, mache ich Ihnen deshalb den Vorschlag, Ihnen DM 4.000 und zwar in monatlichen Raten von mindestens DM 200 zu zahlen. Diese DM 200 müssen wir uns bei den augenblicklichen Verhältnissen direkt vom Munde absparen. Es ist deshalb das alleräußerste vertretbare Angebot, ohne die ganze Existenz zu gefährden. Mehr lässt sich in den nächsten Jahren nicht herauswirtschaften, da wir ja ganz von vorne anfangen müssen.« Und er schließt wie folgt: »Ich glaube, dass Sie für die heutigen Verhältnisse auch entsprechendes Verständnis haben.«

Unter der Oberfläche eines Dementis ließ mein Großvater das Eingeständnis durchscheinen, dass der von ihm gezahlte Preis zwar den damaligen Verhältnissen entsprochen habe, tatsächlich aber nicht »angemessen« gewesen sein mochte. »Wenn wir bei dem Kauf die Sache von einem Sachverständigen hätten nachprüfen lassen«, so hatte er der Rechtsanwältin Rebstein-Metzger geschrieben, »hätten wir nicht einmal die Hälfte des Kaufpreises an die Firma L. bezahlen dürfen.« Dass er die Übernahme nicht von einem Sachverständigen überprüfen ließ, geschah vielleicht aus Mitgefühl für die Juden. Aber diese Äußerung zeigt zugleich, dass er stets im Bilde war über die Unrechtmäßigkeit der Gesetze. Er muss gewusst haben, dass die »Schätzungen« der NSDAP ganz bewusst lächerlich gering ausgefallen waren und dass die Löbmanns keine andere Wahl hatten, als einen niedrigen Preis vorzuschlagen, um den Verkauf zu besiegeln und mit dem Geld ihre baldmöglichste Flucht ins Exil finanzieren zu können. Karl Schwarz stellte sogar in Aussicht, »höhere Raten« zahlen zu wollen, sollte er dazu »in die Lage« sein. Aber Julius Löbmann antwortete nicht. Nach Monaten ohne Nachricht erhöhte er sein Angebot auf 5.000 Deutsche Mark.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺652,87