Kitabı oku: «Ruanda», sayfa 4

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Ob er sich schuldig bekenne, fragt ihn die Richterin. »Nicht schuldig«, lautet die spontane Antwort Serombas, und sie ist noch nicht ganz verklungen, da zeigt die Kamera Bilder von einer zerstörten Kirche, in die die Stimme eines Mannes hineinspricht, der beschreibt, wie er mit einem Bulldozer die Kirche zerstören und später die Leichen in eine Grube schieben musste. Als die Kamera den Mann ins Bild nimmt, ist ein Gefangener in rosafarbener Gefängniskleidung zu sehen, der, während er im Gefängnis von Kibuye spricht, von weiteren Gefangenen umgeben ist, die wie er wegen des Massakers in der Kirche von Nyange bereits verurteilt worden sind und jetzt übereinstimmend aussagen, dass es der Priester Athanase Seromba gewesen sei, der damals, im April 1994, darauf bestanden habe, einen Bulldozer einzusetzen. Auch ein Überlebender kommt zu Wort. »Ich habe den Priester Seromba gesehen, als die Kirche zerstört wurde«, sagt er, um sich nach kurzer Überlegung verwundert zu fragen: »Wie kann er behaupten, dass er unschuldig ist?«

Schnitt. Wieder das Leichenfeld, wieder das Aufstöhnen der Zuschauer. Dann der Gerichtssaal von Nyanza, einer ruandischen Stadt südlich von Kigali. Das Strafgericht verhandelt gegen fast ein Dutzend Angeklagte, allen werden Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Es ist der Moment der Urteilsverkündung. Die Angeklagten stehen vor der Richterbank, es sind Männer zwischen 30 und 60 Jahren. Direkt hinter ihnen sitzen dicht gedrängt die Zuhörer, die jedes Wort des Vorsitzenden Richters aufmerksam zu verfolgen scheinen. Fünfmal die Todesstrafe, Freiheitsstrafen von sechs Jahren bis lebenslänglich, dreimal Freispruch verkündet er, und außerdem haben die Verurteilten hohe Schadensersatzleistungen an die Opfer bzw. Überlebenden zu leisten. »Das Gericht hat alles in allem ein gutes Urteil gefällt«, meint ein Mann, als er nach der Verhandlung nach seiner Meinung gefragt wird. Und weiter: »Mehr konnten die Richter nicht machen, auch wenn noch viele Fragen offen bleiben.« Was für Fragen das sind, erklären andere. »Die Angeklagten haben nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich weiß, dass einer, der nur sechs Jahre bekommen hat, einen Mord begangen hat. Ich habe es selbst gesehen«, gibt jemand zu bedenken. Ein anderer wirft ein: »Gerechtigkeit? Nein, die gibt es hier nicht für uns Überlebende. Die Strafen sind viel zu niedrig. Was wirklich passiert ist, hat das Gericht nicht aufdecken können.« Eine Frau schließlich bringt das verbreitete Unbehagen auf den Punkt: »Wir hätten die Täter selbst befragen müssen. Dann hätten sie sich nicht, unterstützt von ihren Anwälten, herausreden können.«

Wahrheit, Gerechtigkeit, Strafe – drei Begriffe, die für ihre volle Bedeutung, auch und vor allem für den Versöhnungsprozess, offensichtlich eine andere Form der Justiz benötigen. Das ist die Folgerung, die sich allen Zuschauern geradezu aufzwingt. Welche Form der Justiz das sein könnte, daran lässt der Film keinen Zweifel. Es ist die Gacaca-Justiz. Damit nähert sich die Veranstaltung ihrer eigentlichen Botschaft. Getreu der verbreiteten pädagogischen Grundregel, die Adressaten einer Botschaft »dort abzuholen, wo sie stehen«, beginnt die nächste Filmsequenz mit Aufnahmen von Gefangenen, die wie die meisten Zuschauer im Lagerraum Zivilkleidung tragen. Wir hören wieder die Stimme aus dem Off, die nun von der Religion spricht, die beiden, Tätern wie Opfern, bei der Aufklärung der vergangenen Verbrechen hilft. Den Tätern, indem sie es ihnen zur Gewissenspflicht macht, die Völkermordtaten zu gestehen und die Opfer um Verzeihung zu bitten. Den Opfern, indem sie ihnen die Pflicht auferlegt, das Geständnis der Täter anzuhören und ihnen zu verzeihen. Danach kommt ein Gefangener ins Bild und erzählt: »Ja, ich war an schlimmen Dingen beteiligt. Ich gehörte zu einer Gruppe von ungefähr 30 Personen und ich erinnere mich, dass wir in einer Nacht 26 Menschen getötet haben. Darunter waren auch viele Kinder. Die Toten haben wir in Latrinen geworfen. Was ich getan habe, bereue ich. Ich bin mir sicher, Gott hat mir verziehen. Die Menschen werden mir auch verzeihen, da habe ich keine Zweifel.« Ein zweiter Gefangener ist zu sehen, und auch er berichtet: »Ich weiß nicht, wie viele Menschen ich getötet habe. Ich weiß aber, dass unter ihnen auch Kinder waren. Und ich weiß, dass ich nicht allein war. Von denen, die hier vor mir stehen und mir zuhören, waren auch einige dabei. Wenn sie sich nicht stellen und gestehen, werde ich ihre Namen sagen. Ja, das werde ich.«

So geht das noch mehrmals: Ein Gefangener tritt auf, sagt den Umstehenden, welche Verbrechen er begangen hat, versichert, dass er seine Taten bereut und auf Verzeihung hofft, und tritt ab. Der letzte Gefangene jedoch ist ausführlicher in der Darstellung seiner Taten, und dass das kein Zufall ist, sehen wir später, als die Opfer sich äußern. »Auch ich habe Böses getan«, beginnt er sein Geständnis. »Ich habe drei Kinder getötet, doch das habe ich nicht allein getan. Zwei andere waren noch mit dabei, nämlich … [er nennt die Namen]. Dann habe ich mich einer Gruppe angeschlossen. Mit der bin ich zu einem Haus gegangen. Alle, die in dem Haus waren, haben wir getötet. Das tut mir leid, und ich bitte die Angehörigen um Verzeihung.« Der Gefangene macht eine kleine Pause, sein Blick bleibt starr auf das ihm hingehaltene Mikrofon gerichtet, dann fährt er fort: »Ich bitte auch die alte Frau um Verzeihung, die vor der Tür eines anderen Hauses saß, in dem ich mehrere kleine Kinder getötet habe. Die alte Frau hat alles gesehen. Ich habe die Kinder mit der Machete getötet und im Hof in einem Erdloch vergraben. Andere waren da noch bei mir. Ich erinnere mich genau, dass … [er nennt einige Namen] mit dabei waren.« Nach diesen Worten macht die Kamera einen Schwenk auf das Gesicht einer älteren Frau. Mit unbewegter Miene sagt sie in Richtung des Gefangenen: »Du also warst es, der meine Enkelkinder getötet hat. Ja, ich erkenne dich. Verzeihen kann ich dir nicht, das ist Sache meiner Kinder, die überlebt haben. Denn deren Kinder hast du getötet. Was ich nur verzeihen könnte, ist der Tod meines Mannes. Er wurde umgebracht. Von wem, weiß ich nicht. Wenn der Mörder gestehen würde, wenn er aufrichtig bereuen würde, dann würde ich ihm, glaube ich, verzeihen.«

Zweimal noch treten Täter und ihre Opfer beziehungsweise deren Hinterbliebene auf und schildern entweder ihre Taten oder ihre Bereitschaft, Geständnissen zuzuhören und zu verzeihen. Passend dazu weist Justizminister Mucyo von der Leinwand herunter darauf hin, dass ein Geständnis das Gewissen erleichtere. Viele geständige Völkermörder hätten ihm gesagt, dass sie sich nach dem Geständnis besser gefühlt hätten. Sie seien ruhiger geworden, weil sie nicht länger mit der Angst vor einer Entdeckung leben müssten. Auch dürfe nicht vergessen werden, dass durch ein Geständnis die Überlebenden endlich erführen, wie ihre Angehörigen umgekommen und wo sie begraben worden seien. Wer gestehe, versichert Mucyo dem Gefängnispublikum, könne damit rechnen, dass sein Fall so schnell wie möglich vor einem Gacaca-Gericht verhandelt werde. Außerdem komme er in den Genuss einer Strafmilderung, die die normalerweise vorgesehene Strafe um bis zur Hälfte verkürzen könne. Damit nicht genug. Die verkürzte Freiheitsstrafe verbüße er wiederum nur zur Hälfte im Gefängnis. Die andere Hälfte leiste er in Form gemeinnütziger Arbeit ab, indem er Häuser oder Straßen baue oder, bei entsprechender Ausbildung, im Gesundheitswesen arbeite. Während dieser Zeit wohne er selbstverständlich bei seiner Familie.

So weit Mucyo in die Stille des Lagerraums hinein, in dem seit mittlerweile gut einer Stunde die Gefangenen den Film sehen, aufmerksam und sehr diszipliniert, nur durch die besagten Völkermordszenen zu kurzen Unmutsäußerungen oder Entrüstungsrufen hingerissen. Das ändert sich fast schlagartig, als die Vorführung sich ihrem Ende nähert. Anspannung und Konzentration weichen einer allgemeinen Empörung, die alle Gefangenen zu erfassen scheint. Am Ende kommt der Film noch einmal auf seinen Anfang zurück. Er zeigt Bilder von Arusha, von den Lebensbedingungen und der Behandlung der Angeklagten dort und lässt Gerichtsangestellte zu Wort kommen. So erklärt Amadou Dieng, der Kanzler des Gerichts, auf den Vorwurf, das Gericht kümmere sich nicht um die Sicherheit von Belastungszeugen, mehrere seien gar nach ihrer Rückkehr nach Ruanda umgebracht worden, lapidar, der Tod liege nicht in der Hand des Gerichts, jeder müsse mal sterben. Zwei Angeklagte sind zu sehen, wie sie offensichtlich gut gelaunt neben der Anklagebank stehen und zur Begrüßung ihre Verteidiger umarmen. Aufnahmen von Einrichtungen in Arusha wie der Gefängnisküche oder des Gymnastikraums gehen über zu Ausschnitten aus einem Interview mit Jean Paul Akayesu, der wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. »Ich habe hier zugenommen«, sagt ein erkennbar übergewichtiger Akayesu, »das Essen ist hier viel zu fett, ich habe jetzt eine Diät beantragt.«

Dann ist der Film aus. Jetzt können Fragen gestellt werden, ja es sollen, bitte schön, Fragen gestellt werden. Die ganze Angelegenheit, gibt die Gefängnisleiterin zu bedenken, sei zu wichtig, als dass sie einfach nur zur Kenntnis genommen werden könne. – Eine kurze Pause, dann melden sich die ersten Gefangenen. Die Fragen beziehen sich nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, auf Arusha und die dortigen Verfahren. Die Botschaft des Films, am Ende noch einmal zugespitzt, war klar genug. Außerdem ist der Kontrast zur eigenen Situation im Gefängnis so groß, dass Verständnisfragen überflüssig wirken. Wie sagte noch ein geständiger Völkermörder in seiner kurzen, vor einem ruandischen Gericht abgegebenen Erklärung unter dem Beifall der Gefangenen: »Wir sind manipuliert worden. Man hat uns benutzt, und diejenigen, die uns benutzt haben, sind heute schon wieder oben. Ihnen geht es gut, aber wir sind hier, in diesem Gefängnis.«

Die Fragen, die gestellt werden, beziehen sich hauptsächlich auf die gemeinnützige Arbeit und auf die Dauer der Gacaca-Verfahren. Ein Gefangener will wissen, wann die Unschuldigen freigelassen werden, ein anderer, wie die gemeinnützige Arbeit organisiert ist und ob auch bereits Verurteilte dazu herangezogen werden können. Schließlich fragt eine Frau – und während sie die Frage stellt, wird es so still, dass das Summen einer Fliege zu hören ist –, was denn mit den eigenen Toten sei, über die würde niemand reden. Sie selbst habe ihre ganze Familie im Krieg verloren. Jetzt sei sie im Gefängnis, völlig unschuldig, und die Mörder ihrer Familie liefen frei herum. »Ich möchte wissen«, sagt sie, »wer meine Familie umgebracht hat. Ich möchte, dass auch diese Leute bestraft werden.«

Der Erste, der auf Seiten der Staatsvertreter das Wort ergreift, ist der Gacaca-Beauftragte der Provinz. Das wichtigste Ziel von Gacaca sei es, herauszufinden, wer schuldig und wer unschuldig sei, erklärt er. Wenn alle sich beteiligten, könne das schnell gehen. Um die große Zahl von Häftlingen in den Gefängnissen zu verringern, unter denen, wie er wisse, auch viele Unschuldige seien, gebe es kein besseres Mittel als Gacaca, das müsse man einfach verstehen. Nach ihm skizziert der Vertreter des Justizministeriums noch einmal in groben Zügen das System der gemeinnützigen Arbeit, die Möglichkeit der Strafmilderung bei frühzeitigem Geständnis sowie die Art und Umstände der zu erledigenden gemeinnützigen Arbeiten. An die Gefangene gewandt, die im Namen ihrer eigenen Toten Gerechtigkeit gefordert hatte, fährt er fort: »In der Tat hat es während der Befreiung des Landes von dem völkermörderischen Regime Morde gegeben, die von Angehörigen der Befreiungsarmee begangen wurden. Das ist sehr bedauerlich, kann aber nicht im Entferntesten mit dem Völkermord gleichgesetzt werden. Wenn einzelnen Soldaten angesichts der Gräuel, die sie auf dem Vormarsch sehen mussten, die Nerven durchgegangen sind und sie die Täter oder vermeintlichen Täter getötet haben, ist das etwas völlig anderes als die kaltblütige Ermordung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Natürlich werden auch die Täter dieser vereinzelten Vergeltungsaktionen zur Verantwortung gezogen werden, allerdings nicht vor Gacaca-Gerichten. Die sind nur für die Bestrafung der Völkermordtäter zuständig. Die anderen Täter – und ich sage noch einmal: es handelt sich nur um Ausnahmefälle –, werden, weil sie Soldaten der Befreiungsarmee waren, vor ein Militärgericht gestellt und, sofern schuldig, bestraft.«

In der zweiten Fragerunde fragt zunächst wieder eine Gefangene, und zwar in den ansteigenden Applaus ihrer Mitgefangenen hinein, ob diejenigen, die zu Unrecht inhaftiert worden seien, eine Entschädigung erhielten. Eine andere Gefangene weist darauf hin, dass viele alles verloren hätten. Ihr Eigentum sei beschlagnahmt worden, in ihren Häusern wohnten andere Menschen – wie solle da die Freiheit aussehen? Eine ältere Gefangene meint, sie sei jetzt schon acht Jahre im Gefängnis. Sie wolle nicht im Gefängnis sterben. Die Alten sollten als Erste freigelassen werden. Viele, auch sie selbst, seien grundlos ins Gefängnis geworfen worden, oft direkt aus den Flüchtlingslagern. Gacaca solle daher bald beginnen, es sei wirklich dringend. Diesen Wunsch äußert auch die nächste Gefangene, die sich zu Wort meldet. Nicht nur viele Alte, auch viele Kinder und Jugendliche seien noch in den Gefängnissen, ergänzt sie. Die aber bekämen dort keine schulische Ausbildung, sie säßen die Zeit nur ab, was für die Betroffenen wie für die Zukunft des Landes ein unerträglicher und gefährlicher Zustand sei.

Nun ist es der Vertreter des Justizministeriums, der als Erster antwortet. Die Einrichtung der Gacaca-Justiz sei ein schwieriges und daher langwieriges Unterfangen, sagt er. Er geht auf den Aufbau der Gerichte ein, auf die Rolle der Richter und die verschiedenen Verfahrensstufen. »Gerechtigkeit herzustellen ist nun mal nicht einfach. Auf allen Ebenen müssen viele aktiv werden, damit das Ziel erreicht werden kann. Willkür, zum Beispiel in Form von Beschlagnahmungen ohne rechtliche Grundlage, darf es dabei nicht geben. Die Gesetze gelten für alle, ausnahmslos.« Der Gacaca-Vertreter der Provinz wendet sich direkt an die älteren Gefangenen und antwortet auf ihre Fragen mit einer Gegenfrage. Ob sie denn wirklich glaubten, dass die alten und die jungen Gefangenen einfach so freigelassen werden könnten. »Du und du und du«, er zeigt auf zwei ältere und einen jüngeren Gefangenen, »ihr seid auch zu eurer eigenen Sicherheit hier. Viele Überlebende oder Angehörige von Opfern wollen sich rächen. Wenn wir euch freiließen, ohne dass eure Unschuld feststeht, wärt ihr in Gefahr, und das wollen wir vermeiden. Ich weiß, es ist schwierig, die eigene Unschuld zu beweisen, weil es oft keine Zeugen gibt. Aber wir werden für jeden Häftling eine Akte anlegen und so, systematisch, die Wahrheit herausbekommen.«

Mit diesen Worten endet nach etwa zwei Stunden die Veranstaltung. Die Gefangenen klatschen höflich, als die Gefängnisleiterin sich bei den Staatsvertretern für deren Kommen bedankt, und verlassen den Lagerraum. Die meisten schweigen, einige fragen sich leise murmelnd, wann die angekündigten Verfahren endlich anfangen. Den zwei Faltblättern, die draußen verteilt werden, eines über die Vorteile von Geständnissen, ein anderes, das mit Zeichnungen und szenischen Darstellungen versehen ist, über die verschiedenen Phasen eines Gacaca-Verfahrens, wird kaum Beachtung geschenkt. Gleichgültig werden sie entgegengenommen. Die Gefängnisleiterin bedankt sich bei mir für mein Interesse an der Aufarbeitung des Völkermords. Jederzeit könne ich wiederkommen, Erfahrungen aus Deutschland seien willkommen. Auf meine letzte Frage, wie viele Gefangene denn schon gestanden hätten, erwidert sie, dass bis jetzt noch kein Gefangener gestanden habe. »Ich verstehe das auch nicht, es können doch nicht alle unschuldig sein«, sagt sie noch.

Vermutlich hat die Gefängnisleiterin recht. Dass keine Gefangene, kein Gefangener eine Tat, die verbrecherisch sein kann, begangen haben soll, ist eher unwahrscheinlich. Doch wie können sie, oder zumindest eine nennenswerte Anzahl von ihnen, dazu bewegt werden, von den Taten zu sprechen, vielleicht sogar die eigene Tatbeteiligung einzugestehen? Was sollte, diesseits der Ebene unterschiedlichster individualpsychologischer Dispositionen, geschehen, damit auch aufseiten der Täter eine aktiv betriebene Vergangenheitsaufarbeitung möglich ist? Und, diesen Überlegungen vorangestellt und allgemeiner: Warum ist es überhaupt von Bedeutung, diesen Fragen am ruandischen Beispiel nachzugehen? Welches kann und sollte das Ziel einer von außen kommenden Beschäftigung mit dem Völkermord in Ruanda sein?

1.1 Ferne Verbrechen und Formen des legitimen Umgangs damit

Sich über das Verhältnis von Verbrechen, die in anderen Ländern begangen werden, und über unsere angemessene Reaktion darauf Gedanken zu machen, legt nahe, mit Immanuel Kant zu beginnen. In seiner 1795 erschienenen Schrift »Zum ewigen Frieden« findet sich die folgende Passage:

»Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.«3

Die Passage steht am Ende des dritten und letzten der Definitivartikel, die einen dauerhaften Frieden gewährleisten sollen, und sie steht dort ziemlich unvermittelt. Überschrieben ist der Artikel mit »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein«, und in dieser Formulierung ist er die nach Kant logische Folgerung aus den kritikwürdigen Zuständen im europäischen Kolonialismus. Zwar habe »ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht […] als der andere«, doch hätten europäische Nationen ihr Besuchsrecht bei fremden Ländern und Völkern auf schreckliche Weise missbraucht, da der Besuch durchweg zu einer Eroberung geworden sei, die allerlei Übel gezeitigt habe.4 Begleitet worden seien die Verstöße gegen das Hospitalitätsrecht von einer selbstgerechten Arroganz der Eroberer,5 wobei – das sagt Kant nicht, muss aber aus Gründen der inhaltlichen Verbindung zur zitierten Textpassage gedanklich hinzugefügt werden – das eine wie das andere umso schärfer ins Auge fällt, als sich im Rahmen der kolonialen Expansion eine globale öffentliche Sphäre herausgebildet hat, in der derartige Missstände bekannt gemacht werden können. Die Welt ist enger zusammengerückt, eine »im Entstehen begriffene Infrastruktur der Nachrichtenübermittlung« führt dazu, dass Rechtsverletzungen nicht nur mitgeteilt werden können, sondern die europäischen Bevölkerungen darüber hinaus mit den Entrechteten mitzufühlen in der Lage sind.6

In der Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts war dies eine naturgemäß utopische Vision. Ein Weltbürgerrecht über die kommunikative Kraft des wechselseitigen Wissens zu konstruieren, in diesen Kontext auch eine wachsende Beachtung von Menschenrechten zu stellen und aus beidem die beständige Annäherung an einen sich ausbreitenden Friedenszustand zu folgern, weist weit über den damaligen Status quo hinaus. Noch waren die Staaten die einzigen Rechtssubjekte, war ihre Souveränität nach innen ein Freibrief für den Umgang mit der eigenen Bevölkerung, wie ihre Souveränität nach außen dem Machtstreben freien Lauf ließ, einschließlich des Rechts der freien Kriegführung. Dass Menschen Individuen mit auch völkerrechtlich zu beachtenden Rechten sind, dass eine Verletzung dieser Rechte zugleich eine Verletzung fundamentaler Normen darstellt, auf die, eben weil sie die »öffentlichen Menschenrechte« betreffen, reagiert werden muss, war eine Vorstellung, die sich keineswegs in der Realität spiegelte.7 Und daran sollte sich auch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nichts ändern.

Mittlerweile umfasst die durch die Änderung im 20. Jahrhundert angestoßene Entwicklung schon viele Jahrzehnte. Wenn auch der Staat immer noch das primäre Völkerrechtssubjekt ist, so ist der individuelle Mensch ihm längst nicht mehr schutzlos ausgeliefert. Er hat ganz im Gegenteil insofern ebenfalls den Status eines Völkerrechtssubjekts erhalten, als eine Reihe von Völkerrechtsverträgen Staaten zur Beachtung der Menschenrechte verpflichten, deren wichtigste gewohnheitsrechtliche und sogar zwingend verpflichtende Rechtskraft haben. Um seine Ansprüche gegen die rechtsverletzende Staatsmacht durchzusetzen, kann das Individuum heute vor internationalen Instanzen rechtliche Schritte unternehmen und erforderlichenfalls Klage einreichen, es kann aber auch wegen der Verletzung internationaler Normen namentlich aus dem Bereich des Völkerstrafrechts vor Gericht gestellt und verurteilt werden.8 Beides zusammen hat aus den Rechten, die dem Menschen kraft seiner Menschheit zustehen (ob unmittelbar wie beim Recht der Menschenrechte oder, wegen seiner anderen Zielrichtung, mittelbar wie beim humanitären Völkerrecht) eine immer präzisere Kategorie für rechtliches und politisches Handeln gemacht. Menschenrechte haben eine universelle Evidenz gewonnen,9 die den ihr zugrunde liegenden normativen Bestand im Staats- und Völkerrecht zu einem öffentlichen Menschenrecht im Sinne Kants vereint. Und was den »ewigen Frieden« anbelangt, der unter diesen Umständen näher rücken soll, so ist tatsächlich festzustellen, dass die Welt in den zurückliegenden Jahrzehnten friedlicher geworden ist. Gefühlt mag es eine Zunahme an Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen gegeben haben, faktisch ist jedoch die Zahl zwischenstaatlicher und innerstaatlicher bewaffneter Konflikte teilweise deutlich zurückgegangen.10

Da somit alle Folgerungen der Kant’schen Beobachtung eingetreten sind, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass aus aktueller Sicht auch die Voraussetzung zutreffend sein muss: eine Rechtsverletzung an einem Platz der Erde wird an allen gefühlt. Der Terminus »Rechtsverletzung« stellt dabei klar, dass Voyeurismus als alleiniges Motiv für die Entstehung des Gefühls ausscheidet (die menschliche Natur sollte nicht zu sehr überfordert werden). Es muss auch ein Recht verletzt worden sein, das als fundamental empfunden wird, und zwar als so fundamental, dass sich über alle Kulturgrenzen hinweg mühelos die Überzeugung bildet »Hier ist etwas geschehen, was nicht hätte geschehen dürfen«. Ins materielle Recht übertragen bedeutet das: Verbrechen sind begangen worden, die die normativen Grundfesten der Welt erschüttern, die aufgrund ihrer Schwere jeden Menschen betreffen und darum, wie es in der Präambel zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs heißt, »die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren«.11 Die Art dieser Verbrechen ergibt sich aus der Auflistung im Römischen Statut (Artikel 5), es sind das Verbrechen des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen des Angriffskrieges.

Damit kann an dieser Stelle festgehalten werden: Der aktuelle Rechtszustand scheint die Beobachtung Kants zu beglaubigen. Deren Plausibilität ist derart, dass nicht erkennbar ist, mit welchen durchschlagenden Argumenten (die hauptsächlich der Schule des politischen Realismus entstammen) sie angegriffen und beseitigt werden kann.12 Die Existenz machtpolitischer Realitäten und fragwürdiger Allianzen ändert nichts daran, dass es weltweit einen Mindestbestand gemeinsamer Rechtsüberzeugungen mit einem strafbewehrten Schutz gibt. Von den 193 UN-Mitgliedstaaten sind 124 dem Römischen Statut beigetreten, weitere 28 haben das Statut unterzeichnet, stimmen folglich seinem Inhalt zu und planen einen Beitritt. Und die 41 Staaten, die das Statut bislang noch ablehnen (Stand: März 2016), verweisen zur Begründung nicht etwa auf ihre Opposition gegen den bestimmten Taten unterstellten Unrechtshalt, sondern sie befürchten eine zu große Beschneidung ihrer nationalen Souveränität, sollten eigene Staatsangehörige vor dem Internationalen Strafgerichtshof erscheinen müssen. Im Ergebnis heißt das, de lege lata machen das Völkerrecht und, dadurch beeinflusst, das einzelstaatliche Recht massive Rechtsverletzungen »an allen Plätzen« der Welt fühlbar.

Wie aber kann das, was theoretisch möglich ist, in die Praxis umgesetzt werden? Wie – und mit welcher Folge – kann und soll eine Rechtsverletzung von der internationalen öffentlichen Meinung wahrgenommen werden? Was sind also, um die Überschrift dieses Abschnitts noch einmal aufzugreifen, Formen des legitimen Umgangs mit fernen Verbrechen?

Eine nahe liegende Antwort dürfte lauten: Sie müssen zunächst einmal publik gemacht werden. Ohne Informationen über das Geschehene ist dessen Einordnung und Bewertung nicht möglich. Ein klassisches und vielleicht auch erstes Beispiel hierfür ist die Berichterstattung des britischen Korrespondenten William Howard Russell von den größeren Kriegsschauplätzen des 19. Jahrhunderts. In die zeitgenössische Berichterstattung, die, militärischen oder patriotischen Interessen gehorchend, auch an Massakern nichts Anstößiges fand, sofern sie den proklamierten Kriegszielen dienten, mischte sich bei ihm ein deutlicher Ton der Entrüstung über den Einsatz zügelloser Gewalt. »Sowie die aufständischen Sepoys und all jene, die tatsächlich die Waffe gegen uns erhoben haben, bestraft worden sind«, schrieb er 1858 über die Bekämpfung des indischen Aufstands in der Times, »muß das rücksichtslose Blutvergießen aufhören – sollen die aufgebrachten Zivilisten Britisch-Indiens sagen, was sie wollen. Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, gar Vergeltung muß nach einer gewissen Zeit gestillt sein. […] ganze Distrikte zu bestrafen, weil dort Missetaten verübt wurden oder weil feindliche Truppen dort ihr Lager errichtet haben, ist ebenso ungerecht wie unklug.«13

Was vorher bildlich transportiert worden war – man denke an die Darstellung der unerbittlichen Dynamik von Kriegsgewalt in den Radierungen Jacques Callots oder der sadistischen Grausamkeiten einer entfesselten Soldateska in den Zeichnungen Francisco de Goyas –14 hat Russell in eine sprachliche Botschaft gekleidet, die, wahrheitsgemäß und um den eigenen moralischen Standpunkt besorgt, ein möglichst großes Lesepublikum erreichen wollte. Seitdem hat es eine zunehmend engere Verbindung zwischen verbalen und visuellen Formen der Berichterstattung über entferntes Geschehen gegeben, das als eklatant normwidrig empfunden wurde. Während des Ersten Weltkriegs noch durch Text und Foto, während des Zweiten Weltkriegs schon durch Film und kommentierenden Text, in den folgenden zwischen- und binnenstaatlichen Kriegen durch einen technisch immer ausgefeilteren medialen Mix – Rechtsverstöße wurden mitgeteilt beziehungsweise angeprangert (von der jeweils anderen Kriegspartei), Bewertungen wurden nahe gelegt beziehungsweise vorgegeben.15 Inzwischen scheint es so zu sein, dass die bloße Textmitteilung entsprechende bildhafte Assoziationen freisetzt, wie umgekehrt auch rein bildliche Darstellungen einen entsprechend eindeutigen Text zu erzählen vermögen. Fast könnte man sagen, der zeitgenössische Mensch erkennt ein Verbrechen, wenn er es sieht oder wenn er von ihm hört. Vermutlich kann auch unterstellt werden, dass er um die subjektive Beeinflussbarkeit der Informationsübermittlung weiß (von der technischen ganz zu schweigen). Doch selbst wenn Propagandazwecke verfolgt oder nach der Devise »If it bleeds, it leads« das Verlangen nach Schauergeschichten befriedigt werden, schon die Veröffentlichung derartiger Informationen sind, abgesehen von den seltenen Fällen ihrer puren Erfindung, Referenzzeichen stattgefundener Gewalt, zumindest aber Spuren einer tödlichen Realität.16 Das trifft im Übrigen auch auf die Fälle zu, in denen zu oberflächlich berichtet wird, weil der Beobachtungspunkt zu weit vom Geschehen entfernt liegt. Den afrikanischen Kontinent von hauptsächlich drei Standorten aus (Kairo, Nairobi, Johannesburg respektive Kapstadt) journalistisch zu betreuen, birgt leicht die Gefahr in sich, reale Handlungsabläufe, die sich in großer Entfernung von dort an entlegenen Orten abspielen, nicht richtig zu erfassen.17 Aus der Welt ist das tatsächliche Geschehen aber dennoch nicht, es wartet gewissermaßen nur auf seine vollständige Erfassung und Bekanntgabe.

Die Reporterin Janine di Giovanni, die in den vergangenen zwanzig Jahren aus vielen Krisengebieten berichtet hat, bemerkte vor einiger Zeit zu ihrem Berufsverständnis: »Ich glaubte damals (und tue es gelegentlich noch heute), dass das, was man schreibt oder fotografiert oder filmt, manchmal einen Menschen erreicht und etwas bewirkt.«18 Damals, als sie noch uneingeschränkt an ihre Arbeit glaubte, das war 1993, das Jahr, in dem der Bosnienkrieg noch grausamer wurde und sie darüber berichtete. Seitdem ist der eigene Blick auf die Arbeit nüchterner geworden, ohne dass sich jedoch Resignation breit gemacht hätte. Die Hoffnung, gehört zu werden, eine Reaktion hervorzurufen, besteht noch, wenn auch nicht mehr fortwährend. Und so gesehen bewegt sie sich auf der Höhe der Möglichkeit, etwas zu bewirken, die eben auch keine laufend existierende Gewissheit ist. Echte Empfindung, »wirkliche Leidenschaft, die zu Taten aufrüttelt«, stellen sich nicht von allein ein. Sie bedürfen eines gelungenen Anstoßes.19

Damit komme ich zu einer weiteren Antwort auf die oben gestellte Frage nach dem legitimen Umgang mit fernen Verbrechen. Die Nachricht von ihnen sollte auf eine Weise in die Welt gesetzt werden, die über das Erkennen der Nachricht hinaus sinnvolle Konsequenzen möglich macht. »Making Sense of Mass Atrocity« lautet der Titel eines Buches, das sich mit solchen Konsequenzen beschäftigt.20 Angesichts des Leids der Opfer mag das beinahe brutal-nüchtern und instrumentell klingen, nichtsdestoweniger trifft es den Kern dessen, worum es geht. Wiedergutmachen, wie es der einschlägige englische Begriff »reparation« nahe legt,21 lässt sich das erlittene Leid nicht mehr. Menschen sind getötet oder verletzt worden, das ist Teil der Realität und kann nicht ungeschehen gemacht werden. Allerdings hätte es nicht geschehen dürfen, und das als Handlungsaufforderung zu registrieren ist die Aufgabe der Institutionen, die stellvertretend für alle diejenigen handeln, die ein Verbrechen zu erkennen in der Lage sind. Moralisch gebotene Reaktionen sind hier viele denkbar, angefangen von unmissverständlicher Kritik in den Medien über politischen Druck seitens einzelner Staaten bis hin zu kollektiven Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft. Und natürlich die Reaktion, die gewöhnlich mit Verbrechen verknüpft ist und ihnen durch Verfahren und Strafzumessung einen konkreten Unwertgehalt zuweist: die der Justiz. Deren Zuständigkeitsbereich hat sich parallel zum Verständnis von Verbrechen, die auch Völkerrechtsverbrechen sind, von der nationalen zur internationalen Gerichtsbarkeit erweitert. Nach allgemeiner Ansicht gilt heute: »Das Opfer einer schweren Verletzung internationaler menschenrechtlicher Bestimmungen oder eines gravierenden Verstoßes gegen das internationale humanitäre Recht soll ungehinderten Zugang zu einem wirksamen justiziellen Beistand nach dem Völkerrecht haben. Darüber hinaus soll das Opfer Zugang zur Unterstützung seitens der Verwaltung und anderer Körperschaften haben sowie zu Mechanismen, Modalitäten und Verfahren, die das nationale Recht bereithält. Völkerrechtliche Verpflichtungen, die den Rechtsweg und faire und unabhängige Verfahren gewährleisten, sollen Teil der nationalen Gesetze sein.«22

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22 aralık 2023
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9783866744875
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