Kitabı oku: «Ruanda», sayfa 5
Gegenüber anderen Formen der Reaktion hat die justizielle zudem einen besonderen Vorteil: Sie ist potenziell die Reaktionsform mit der größten Wirkung. Kritik kann von anderen Nachrichten überlagert werden und verpuffen, politischer Druck auf eine unklare Adressatensituation stoßen und ins Leere gehen, Sanktionen können die Falschen treffen und die Lage verschlimmern. Ein Justizverfahren dagegen ist, vorausgesetzt, es wird ernsthaft betrieben,23 dem Ideal der Gerechtigkeit verpflichtet. Ein Sachverhalt muss aufgeklärt, historische Hintergründe müssen ausgeleuchtet werden. Die Beweiswürdigung erfolgt auf einer möglichst umfassenden Basis von Informationen, die zulasten, aber auch zugunsten des Angeklagten sprechen können. All dies geschieht nicht in einem abgeschlossenen Raum, sondern vor den Augen der Öffentlichkeit, die sich so ein Bild von den zur Verhandlung stehenden Verbrechen und dessen Folgen machen kann. Dass dabei auch, unterschiedlichen Vorverständnissen folgend, selektiv wahrgenommen wird, tut dem Umstand keinen Abbruch, dass beides über das Strafverfahren einen Platz in der öffentlichen Debatte besetzt. Die Öffentlichkeit wird Zeugin einer Grenzziehung zwischen Verhalten, die noch politisch oder bereits kriminell sind, zwischen individueller Schuld und kollektiver Verantwortung und, immer wieder und in immer neuen Facetten, einer Misere, in die staatlich entfesselte Gewalt, ausgeübt von willigen Helfershelfern, Menschen ungeachtet ihres Alters, ihres Geschlechts oder ihrer sozialen Stellung, jäh zu stürzen vermag.24 Aus vereinzelten Informationen über ein Verbrechen wird eine Nachricht, aus der Nachricht wird ein Verfahren und aus dem Verfahren letztendlich die öffentliche Feststellung, inwieweit es eine Rechtsverletzung gegeben hat und wer dafür verantwortlich ist. Das unterscheidet das richterliche Urteil von anderen Formen des Umgangs mit Verbrechen. Der Normbruch, wie er sich in der Begehung des Verbrechens manifestiert, wird nicht nur benannt, er wird darüber hinaus auch sanktioniert, wodurch die Geltung der Norm unterstrichen und das Normbewusstsein der Menschen gestärkt wird. Anders gewendet drückt die Strafe den Willen der Menschen in der internationalen Gemeinschaft aus, das Recht gegen das Unrecht zu verteidigen. Zugleich schafft sie die Voraussetzung für die Entstehung und Festigung eines Normvertrauens, das mit zunehmender Intensität auch eine stärkere präventive Wirkung entfaltet.25 Die Zuversicht, nicht das Opfer von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen zu werden, ist aufs Engste verbunden mit der Botschaft an Machthaber und ihre Funktionäre, dass sie sich mit einer sie beunruhigenden Wahrscheinlichkeit für vergangene Taten werden verantworten müssen, selbst wenn sie zwischenzeitlich in der internationalen Politik angekommen zu sein scheinen.26
Dass die Justiz nach dem Völkermord in Ruanda eine wichtige Rolle spielen würde, lag auf der Hand. Wie anders sollte die »Kultur der Straflosigkeit«, auf die von vielen Seiten regelmäßig anklagend verwiesen wurde, weil sie das Land in den Abgrund geführt habe, überwunden werden. Das Beispielhafte dieses Vorhabens und seine unmittelbare Anschlussfähigkeit an vorherige und zum Teil noch andauernde Versuche, massenhaftem, schlimmstem Unrecht mit den Mitteln des Rechts zu begegnen – beginnend mit den Verfahren vor den internationalen Militärtribunalen von Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg, fortgesetzt 1993 mit der Einsetzung des Ad-hoc-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien und später dann durch gemischte, internationalisierte Gerichte27 – schienen mir Grund genug für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema. Dass in diesem Kontext auch die Rechtsprechung des zweiten vom UN-Sicherheitsrat eingesetzten Ad-hoc-Tribunals, das seit 1994 speziell für Ruanda zuständig war, berücksichtigt werden würde, verstand sich von selbst. Doch im Fokus meines Blicks auf die post-genozidale Entwicklung Ruandas sollte die Justiz des Landes stehen, allen voran die Gacaca-Justiz. Das würde bedeuten, mit Anwälten, Staatsanwälten und Richtern zu sprechen, Politiker und Militärs aufzusuchen und natürlich Täter sowie Opfer und darüber hinaus viele Menschen unterschiedlicher sozialer Stellung und Herkunft zu Wort kommen zu lassen. Dass das nicht immer einfach sein würde, zumal wenn weiße Hautfarbe und rundum abgesicherter Lebensmodus auf sehr großes Leid und materielles Elend stoßen würden, ahnte ich und sollte doch etliche Male von der Heftigkeit des Kontrasts überrascht werden. Kompensieren wollte und konnte ich das durch meine Überzeugung von einem legitimen Umgang mit den mir noch fernen Verbrechen, eine Überzeugung, die sich bereits durch einige der eben dargestellten Überlegungen gefestigt hatte, für die jedoch im Juni 2002 allein schon ausgereicht hätte, dass zum 1. Juli desselben Jahres ein ständiger internationaler Strafgerichtshof seine Arbeit aufnehmen sollte und einen Tag vorher, am 30. Juni, in Deutschland nach dem Vorbild anderer Länder ein Völkerstrafgesetzbuch in Kraft treten würde,28 das die Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu einem nationalen Anliegen machte.
1.2 Die Wahrheit der Sieger, die Wahrheit der Besiegten und die Notwendigkeit einer Vereinbarkeit von beidem
Die Feststellung, dass auch nach größtem Unglück das Leben weitergeht, ist banal, aber von beträchtlicher Tragweite. Das Leid der Opfer29 kann noch so groß, das Verbrechen der Täter noch so abscheulich sein, für beide gibt es, wenn auch sicherlich keinen Alltag im üblichen Wortsinn mehr, so doch ein Gefüge von alltäglichen Abläufen, Erwartungen und Zwängen, denen sie sich nicht oder allenfalls durch Flucht aus dem eigenen Leben entziehen können. Aber das Leben, das weitergelebt wird, bedarf, damit es in Würde weitergelebt werden kann, gewisser Voraussetzungen, die von dritter Seite erbracht werden müssen. Da ist zunächst die Unterstützung in der individuellen Sphäre der Betroffenen zur Linderung ihrer psychischen oder physischen Verletzungen. Auf diesen Aspekt soll jetzt noch nicht eingegangen werden. Dann ist da die Unterstützung, die Gesellschaften, einzelne Staaten oder die Staatengemeinschaft zu leisten imstande sind. Sie bildet sozusagen das Fundament, auf dem die individuelle Unterstützung praktiziert werden kann. Über diverse Aktivitäten gibt sie den Rahmen vor, der über die Wahrnehmung von Tätern und Opfern entscheidet, mithin letztlich darüber, wie sich eine Gesellschaft ihrer annimmt und die eigene soziale Zukunft organisiert.
Eine dieser Aktivitäten, zeitweilig die wohl wichtigste, ist die justizielle. Nicht nur dass bei ihr als Reaktionsform auf geschehenes Unrecht Legalität und Legitimität zusammenlaufen, sie begründet über die Verhandlung der Tat auch ein Narrativ, das die gerichtlich festgestellte Wahrheit enthält. Dass sich das Narrativ vielleicht später ändern wird, ist erfahrungsgemäß nicht auszuschließen. Erst aber ist es in der Welt und mit ihm eine Wahrheit, die, wie es vor Gericht sein sollte, dem Streben nach Gerechtigkeit entspringt und zugleich Befriedigung und Frieden schaffen soll.
Wie kommt das Gericht zu dieser Wahrheit? Indem es versucht, den Sachverhalt, der Gegenstand des Verfahrens ist, wahrheitsgemäß zu klären, müsste die nahe liegende Antwort lauten. Schließlich ist es Aufgabe eines Gerichts, ein schuldangemessenes Urteil zu sprechen, wozu eben untrennbar gehört, über Beweismittel herauszufinden, was tatsächlich geschehen ist, und zwar so, dass das Ergebnis unabhängig von der subjektiven Betroffenheit der Beteiligten bestehen bleibt, von der Anklage oder der Verteidigung eingelegte Rechtsmittel also nicht greifen. Allerdings beschreibt diese Antwort ein Ziel, das umso schwerer zu erreichen ist, je stärker sich die Taten von der »normalen« Kriminalität unterscheiden. Wo der Täter allein der Gesellschaft gegenübersteht, ist die Tätigkeit von Gerichten in weitaus größerem Maße von externer sozialer Zustimmung getragen als dort, wo der Täter in Übereinstimmung mit großen Teilen der Gesellschaft oder im Auftrag von deren Führung gehandelt hat. Was im ersten Fall gewöhnlich problemlos als wahr und als tragfähige Grundlage für einen Richterspruch anerkannt wird, ist im zweiten leicht Gegenstand von Kontroversen und Ablehnung, eben weil der Normbruch (weitgehend) konsensuell begangen wurde und die Betroffenheit darum groß ist. Einige Beispiele aus der Geschichte mögen dies verdeutlichen, bevor wir uns vor diesem Erfahrungshorizont wieder Ruanda zuwenden:
Dass die sogenannten Hauptkriegsverbrecher NS-Deutschlands sich 1945/46 für ihre Taten vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verantworten mussten, stieß auch in Deutschland auf breite Zustimmung. Doch schon die Nachfolgeprozesse gegen weitere Repräsentanten des NS-Systems riefen Abwehrreaktionen hervor, die sich in der Breite und Tiefe noch ganz erheblich verstärkten, als auch die vielen kleinen Täter, Unterstützer und Mitläufer in den Fokus der Justiz gerieten. Nach eigener Überzeugung und getragen von einer allgemeinen Stimmung waren nicht sie schuld an den NS-Verbrechen, allenfalls waren sie seit 1933 respektive 1939 auf unglückliche Weise in die deutsche Geschichte verstrickt, eher noch irregeleitet worden, und, wenn sie sich ihre eigenen Verluste vergegenwärtigten, eigentlich auch Opfer.30 Mehr als zehn Jahre sollte es dauern,31 bis die Wahrheit über die Dimension der NS-Verbrechen sich durchzusetzen begann, bis deutsche Gerichte, sich stützend auf historiografische Forschung, sie aber teilweise auch weiter befördernd, das richtige Täter-Opfer-Verhältnis unmissverständlich machten. In den folgenden Jahrzehnten wurde das von Deutschen und im deutschen Namen begangene Unrecht schließlich zu einer fest etablierten Wahrheit. Die Vorstellung von den begangenen Verbrechen wurde so konkret und das moralische Unwerturteil so eindeutig, dass die Thematisierung der durchaus auch vorhandenen eigenen Leiderfahrungen als ungehörig und Versuch einer Relativierung oder Aufrechnung empfunden wurde.32 Es sollte noch einige Zeit dauern, bis die Tatsache, dass auch Deutsche Opfer von Bombenkrieg, Vertreibungen und Vergewaltigungen geworden waren, erwähnt werden konnte, ohne den Verdacht eines unanständigen Geschichtsrevisionismus aufkommen zu lassen.33 Neben der dominanten Wahrheit deutscher Verbrechen hat seitdem auch die sekundäre Wahrheit alliierter deutscher Opfer ihren Platz.
Einen völlig anderen Weg beschritt das post-franquistische Spanien. Als General Francisco Franco im November 1975 starb, wurde die schon Monate zuvor in einem Klima großer Anspannung diskutierte Frage akut, wie das Land mit 40 Jahren Diktatur und, den Bürgerkrieg 1936 bis 1939 eingeschlossen, Hunderttausenden von Toten umgehen sollte. Die Anhänger des Diktators und Nutznießer seines Regimes setzten auf den Fortbestand der politischen Ordnung und ihrer rechtlichen Unantastbarkeit, während die schnell erstarkende demokratische Opposition den Bruch (la ruptura) mit der Vergangenheit forderte. Beide Positionen waren in ihrer apodiktischen Formulierung unvereinbar und hätten, wie gemäßigte Kräfte in den jeweiligen Lagern erkannten, Spanien in einen Strudel der Gewalt gezogen, der aller Wahrscheinlichkeit nach in einen neuen Bürgerkrieg geführt hätte. Die gemäßigten Kräfte des franquistischen Establishments und einflussreiche Teile der Opposition verständigten sich daher darauf, Konsensfindung und nicht ideologische Maximalforderungen zur Richtschnur der neuen Politik zu machen.34 Basierend auf dem Topos des Bürgerkriegs als eines tragischen »Bruderkriegs« (guerra fratricida) entwickelten sie das Narrativ einer beiderseitigen Verstrickung in Gewalt und Schuld, die, um nicht zu einer gefährlichen Hypothek für die Zukunft des Landes zu werden, in die Vergangenheit verbannt werden müsse. Ein virtueller »Pakt des Vergessens« (pacto del olvido) markierte Schlussstrich und Neubeginn.35 Amnestiegesetze sicherten den Übergang zur Demokratie, der, abgesehen von kleineren Erschütterungen, erfolgreich verlief. Dass nicht ein einziger Täter franquistischer oder republikanischer Verbrechen vor Gericht gestellt wurde und die folgenden fast vier Jahrzehnte Franco-Diktatur ein Kapitel in der spanischen Geschichte waren, das tunlichst geschlossen bleiben sollte, gefährdete zu keinem Zeitpunkt ernsthaft die Herausbildung und Konsolidierung demokratischer Strukturen in Spanien.36 Sieger und Besiegte verzichteten auf die juristische Feststellung ihrer Wahrheit, und auch alle außerjuridischen Initiativen, die Tabuisierungsstrategien aufzubrechen, blieben, jedenfalls bis Ende der 1990er Jahre, erfolglos. Seither hat es mehrere Versuche gegeben, die Straflosigkeit für Diktaturverbrechen aufzuheben und eine Erinnerungskultur zu schaffen. Erfolg ist ihnen nicht bzw. nur in geringem Maße beschieden gewesen. Die systematische Aufklärung der Diktaturverbrechen wurde 2005 mit dem Hinweis, dass eine Lösung gefunden werden müsse, die »beide Lager zufrieden stelle und dazu diene, Wunden vernarben zu lassen und nicht neue aufzureißen« ad acta gelegt.37 Dabei ist es bis heute geblieben.38 Ein Erinnerungsgesetz (ley de memoria histórica), das im Oktober 2007 vom Parlament verabschiedet wurde, ordnet die verschiedenen Sphären der Erinnerung ebenfalls deutlich dem Erhalt des inneren Friedens unter.39 Trotz gelegentlicher Kritik an diesem Zustand bleibt als Fazit festzuhalten, dass sich im gesamtgesellschaftlichen Rahmen gesehen beide Seiten mit dem Beschweigen der Vergangenheit arrangiert haben. Wahrheiten gab es nur auf jeweils einer Seite und dort blieben sie auch. Die Frage einer auch nur partiellen Vereinbarkeit dieser Wahrheiten stellte sich nicht.
Wieder anders verhielt es sich in Frankreich. Nach der Befreiung des Landes im August 1944 kam es zu einer Welle der Säuberung (épuration) in den vormals besetzten Gebieten. In einem ersten Schritt wurden zwischen 8000 und 9000 tatsächlicher oder vermeintlicher Kollaborateure hingerichtet, ohne Gerichtsverfahren und unter Umständen, die Wut und Rache als bestimmendes Motiv erkennen ließen. Danach fanden Prozesse gegen zirka 125 000 Angeklagte statt, von denen gut drei Viertel wegen diverser Kollaborationshandlungen verurteilt wurden, etwa 1600 zum Tode.40 Mit Beginn der Vierten Republik erlahmte 1946 jedoch der Verfolgungseifer deutlich. Zwei Amnestiegesetze von 1951 und 1953 sorgten nicht nur dafür, dass die allermeisten Verurteilten wieder das Gefängnis verlassen konnten. Auch zwei Drittel der Beamten, Richter und Diplomaten des Vichy-Regimes gelangten in der neuen Republik wieder in Amt und Würden.41 Die »Republik des Schweigens« (la République du silence) sollte die Vierte Republik deshalb von Jean-Paul Sartre genannt werden.42 Aber auch nach ihrem Ende 1958 (als sie von der Fünften Republik unter Charles de Gaulle abgelöst wurde) dauerte das Schweigen an. Vorherrschend war das Selbstbild von einem Frankreich als Opfer der NS-Aggression, in dem die Résistance ebendiese Aggression und die nachfolgende Besatzung letztlich erfolgreich bekämpft hat und das sich nunmehr dem erfolgreichen politischen und sozialen Wiederaufbau des Landes widmete.43 Dass auch Franzosen an NS-Verbrechen beteiligt waren, die Kollaboration mithin eine ausgeprägte antisemitische Komponente hatte, trat erst allmählich in das Bewusstsein der Bevölkerung. Mit Erstaunen und Erschrecken wurde noch Mitte der 1990er Jahre zur Kenntnis genommen, dass ein hoher Vichy-Beamter, der bereitwillig die NS-Vernichtungsziele durchzusetzen geholfen hatte, nach der Befreiung seine Karriere fortsetzen und 1978 sogar Finanzminister werden konnte.44 Mittlerweile ist jedoch auch dieser Teil der französischen Geschichte in der Gesellschaft angekommen, ja hat sogar deutlich deren Verständnis, selbst Opfer geworden zu sein, überlagert.45 Rückblickend haben sich damit zwei Wahrheiten herausgebildet. Die eine als Katalysator eines Selbstheilungsprozesses, eine einfache, nahe liegende und wohl auch bequeme Wahrheit, die andere als Anerkenntnis der eigenen Täterrolle, eine schwierigere Wahrheit, die den Wechsel vom Opfer- zum Täterverständnis implizierte. Vereinbarkeitsprobleme mit jeweils anderen Wahrheiten stellten sich nicht. Im ersten Fall lag dies an der Schnelligkeit, Härte und Nachhaltigkeit ihrer Durchsetzung, im zweiten am Zeitablauf und dem fortwirkenden, von Besatzung und Résistance angebotenen Neutralisierungspotenzial.
Ein letztes Beispiel für den Versuch der Vergangenheitsaufarbeitung kann dem südafrikanischen Modell entnommen werden. Dieses Modell, das 1995 nach einer beinahe 50-jährigen Zeit der Apartheid (1948–1994) in Form einer Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC) eingeführt wurde,46 kann heute als Inbild einer nicht-strafjustiziellen Variante der »Übergangsjustiz« (Transitional Justice, ein Begriff, der sich auch seit jener Zeit durchzusetzen begann) gelten. Ihr Vorteil ist, dass sie ein Kompromiss zwischen divergierenden Forderungen ist. Wenn, wie in Südafrika, von den vormaligen Machthabern und Apartheid-Befürwortern eine Generalamnestie gefordert wird, die Anhänger der Befreiungsbewegungen aber eine umfassende Strafverfolgung nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse verlangen, ist die Wahrheits- und Versöhnungskommission eine Zwischenlösung zur Überwindung einer konfrontativen und möglicherweise explosiven Situation. Die Opfer können öffentlich zur Sprache bringen, was ihnen angetan wurde, die Täter dürfen eine Amnestie beantragen, über die ein Gremium von 19 Juristinnen und Juristen entscheidet. Wird die Amnestie abgelehnt, geht die Zuständigkeit des weiteren Verfahrens auf die ordentlichen Gerichte über. Bis 1998, dem letzten Jahr ihrer Tätigkeit, sammelte die Kommission Informationen über Zehntausende von Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen. Etliche Morde und Anschläge konnten aufgeklärt werden, viele Opfer erhielten eine Entschädigung. Eine Amnestie wurde nicht ganz einem Drittel der über 7000 Antragsteller gewährt, die sich im Übrigen, wie auch die Täter in allen anderen Verfahren, auf beide Seiten des Konflikts verteilten. Nicht nur die Stützen des Apartheid-Regimes wie z. B. Angehörige der Sicherheitskräfte mussten sich verantworten, sondern auch Mitglieder der Befreiungsbewegungen, die Sabotageakte oder Verbrechen in den eigenen Reihen begangen hatten.47 Im Zeichen der angestrebten friedlichen Zukunft Südafrikas sollte die gesamte gewaltgeprägte Vergangenheit Gegenstand öffentlicher Debatte werden. Die individuell-faktische oder forensische Wahrheit (factual or forensic truth) sollte übergehen in die von einem größeren Personenkreis geteilte persönliche oder narrative Wahrheit (personal or narrative truth), die wiederum zu einer sozialen oder dialogischen Wahrheit (social or dialogue truth) und am Ende zu einer die ganze Gesellschaft erfassenden heilenden und restaurativen Wahrheit (healing and restorative truth) werden sollte.48 Mit anderen Worten, die Wahrheits- und Versöhnungskommission hatte die Aufgabe, eine Vereinbarkeit der beiderseitigen Opfer- und Tätererfahrungen herzustellen, um dann über einen zentralen Aspekt dieser Erfahrungen, nämlich korrespondierende Leidensgeschichten, die Voraussetzung für einen inneren Frieden in der Gesellschaft zu schaffen.
Außer den hier skizzierten vier verschiedenen Wegen, mit einer gewaltvollen Vergangenheit in einer Weise umzugehen, die deren destruktives Potenzial möglichst unschädlich macht, gab und gibt es bekanntlich noch andere Ansätze, die den Besonderheiten des vorangegangenen Konflikts Rechnung tragen.49 Dennoch können die dargestellten Beispiele als ein Muster gesehen werden, das Strukturen und Konstanten von Übergangsszenarien aufweist, die auch eine Einordnung der für und in Ruanda gewählten Lösung erlauben. Fassen wir auf dieser Grundlage das wesentliche Ergebnis noch einmal kurz zusammen (ich gehe dabei, wie eingangs angesprochen, von der Prämisse aus, dass die justiziell festgestellte Wahrheit nicht Gerechtigkeit bedeuten muss, dass sie aber eine Annäherung an das, was in der betroffenen Gesellschaft als gerecht empfunden wird, überhaupt erst möglich macht): In einer Gesellschaft, die sich durch Förderung und Akzeptanz von Verbrechen moralisch ins Abseits gestellt hat (wie die deutsche zwischen 1939 und 1945), stellt sich das Problem der Vereinbarkeit gegensätzlicher Wahrheiten nicht ernstlich. Die Opfer sind tot oder leben anderswo, den Umgang mit den vergangenen Verbrechen machen die Mitglieder der Gesellschaft, der die Täter angehören, unter sich aus. Weder Verdrängung noch Akzeptanz noch Bekenntnis können den inneren gesellschaftlichen Frieden gefährden, erfahrenes Unrecht vermag das begangene nicht ansatzweise zu beseitigen. Wo hingegen Täter und Opfer weiterhin zusammenleben, das Kräfteverhältnis annähernd gleich ist und das wechselseitig zugefügte Unrecht nach vorherrschender Überzeugung nicht in einem zu deutlichen Missverhältnis steht (so im post-franquistischen Spanien), wird vergangenes verbrecherisches Geschehen tabuisiert. Tätergruppen sind auch Opfergruppen und umgekehrt. Um des gesellschaftlichen Friedens willen soll die Vergangenheit schlicht dem Vergessen anheim fallen.
Wo allerdings, trotz allseits begangener Verbrechen, die unterschiedliche Größe beider Gruppen das jeweils erfahrene Leid leicht in ein narratives Ungleichgewicht bringen kann (so in Südafrika nach dem Ende der Apartheid), muss durch justizielle Aufklärung und Wahrheitsfindung versucht werden, das Fundament für eine friedliche Entwicklung zu legen. Dass dieses Ziel auch durch eine relativ schnelle Racheaktion und anschließendes Beschweigen erreicht werden kann (wie das Beispiel Frankreich zeigt), erklärt sich durch die eindeutige Verwerflichkeit des Täterhandelns aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft, die sich ausschließlich als Opfer sieht. Eben dieses Opferverständnis erleichtert später wegen ihrer sozial konsolidierenden Wirkung die Hinnahme einer zweiten Wahrheit, die zu Tage bringt, dass die Opfergruppe auch erheblich mit Tätern und Mitläufern durchsetzt gewesen ist.
Wie eine Gesellschaft, die am Anfang einer Nach-Konflikt-Phase steht, sich zu diesem Konflikt verhält, welches Maß an faktisch verifizierbarer Information sie zulässt, hängt damit im Ergebnis entscheidend von zwei Faktoren ab, von der moralisch-rechtlich gebotenen Bewertung des vergangenen Geschehens und von der konkreten Machtkonstellation. Ist das Unwerturteil eindeutig und die Wucht der verbrecherischen Botschaft derart, dass die internationale Gemeinschaft erschrocken bis empört ist, gibt es nur eine Wahrheit, und zwar die, die das Verbrechen vorgibt. Sind darüber hinaus der Machtwechsel abgesichert und das alte Regime beseitigt, stößt die Akzeptanz dieser Wahrheit auch auf keine größeren Schwierigkeiten. Anders verhält es sich dann, wenn die Zuweisung des verbrecherischen Verhaltens an nur eine Seite zweifelhaft ist und Teile des alten Regimes weiterhin politisch oder sozial präsent sind. Zur Sicherung des Friedens ist dann ein Arrangement notwendig, das sich zwischen den zwei Polen des einvernehmlichen Vergessens und der gemeinsamen Aufarbeitung bewegt.
Gehen wir nun zurück nach Ruanda und der Situation dort, bevor eine Haltung zur Vergangenheit entwickelt wurde: Im Juli 1994 war das Land von der Armée Patriotique Rwandaise (APR), dem militärischen Arm der Rebellenorganisation Front Patriotique Rwandais (FPR), erobert worden, der Völkermord war beendet. Am 4. Juli waren APR-Kämpfer in die Hauptstadt Kigali einmarschiert, am 17. des Monats hatten sie die letzte größere Stadt, Gisenyi, im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Zaire, besetzt. Zwei Tage später hatte die FPR infolge des vollständigen Sieges beschlossen, ihre Kampfaktivitäten einzustellen.50 Kurz zuvor war bereits Pasteur Bizimungu, ein Hutu aus dem für seine fanatische Hutu-Ideologie berüchtigten Norden, der sich der Tutsi-dominierten FPR angeschlossen hatte, zum Staatspräsidenten des neuen, post-genozidalen Ruanda bestimmt worden. Und Faustin Twagiramungu, ein Hutu aus dem Süden, der auch in Opposition zum alten Regime gestanden hatte, sollte Premierminister werden. Das Amt des Vizepräsidenten und zugleich auch die Positionen des Verteidigungsministers und Generalstabschefs waren Paul Kagame zugedacht worden, dem Chef der FPR und Sieger des Krieges.51 Was in dem Friedensvertrag von Arusha im August 1993, also noch Monate vor dem Völkermord, vereinbart worden war, die Machtteilung zwischen Hutu und Tutsi in einer Übergangsregierung,52 war damit bekräftigt worden. Die Zeichen standen, soweit erkennbar, auf Kooperation und Verständigung. Es sollte ein Staat geschaffen werden, gegründet auf den Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechts und unter Beteiligung aller Kräfte und politischer Parteien, die nicht in Völkermord und Massakern verwickelt waren. Aufbau, Versöhnung und Einheit waren die Ziele, denen sich alle verpflichtet fühlten. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung war es darum, in den Ausweisdokumenten den Hinweis auf die ethnische Zugehörigkeit, während des Völkermords von buchstäblich lebensentscheidender Bedeutung, zu streichen.53
Der Arusha-Vertrag hatte auch von der Einsetzung einer internationalen Kommission gesprochen, die die während des Krieges begangenen Menschenrechtsverletzungen untersuchen sollte.54 Jetzt, nach dem Völkermord, spricht niemand mehr von einzelnen Akten der Menschenrechtsverletzung. Jetzt handelt es sich um hunderttausendfachen Mord, um Folter und andere Grausamkeiten, die die menschliche Fantasie sich auszudenken fähig ist. Und es geht darum, ein weiteres Verharren des Landes in der Apokalypse zu verhindern. »Wir mussten versuchen, dass die Überlebenden, die Opfer mit den Tätern zusammenleben konnten, und das in einem großen Durcheinander, denn wir wussten nicht, wer wofür verantwortlich war – wer ist Opfer, wer nicht und warum, wer ist verantwortlich für das, was geschehen ist und warum – und entdeckten dabei, dass wir nirgendwo anknüpfen konnten. Wir mussten den Anfangspunkt selbst bestimmen.«55
3,2 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Einwohner Ruandas, waren vor der vorrückenden APR in die Nachbarstaaten Burundi, Tansania und Zaire geflüchtet, oft nach Gemeinden (communes) geordnet56 und unter Mitnahme öffentlicher Gelder, administrativer Unterlagen und Waffen. Hinter sich gelassen hatten sie ein Land im Schockzustand, ein Land, in dem bapfuye bahagazi, vom Tod gezeichnete Menschen, umherirrten und Ansammlungen von Geiern und Hunden auf die unzähligen Leichenfelder früherer Massaker hinwiesen.57 Der Staat Ruanda und mit ihm ein Großteil seiner Bewohner waren verschwunden. Ihn wieder herzustellen und bescheiden funktionsfähig zu halten, würde einen Einsatz von Menschen, Kapital und Material erfordern, der 1994 nicht zur Verfügung stand. Um ein nahe liegendes Beispiel zu wählen: Von den vormals 758 Richtern gab es im November 1994 noch 244, von den 70 Staatsanwälten noch 12 und von den 631 Mitarbeitern in Justizbehörden noch 137.58 Richter und Staatsanwälte waren überdies in der belgischen Tradition des kontinentaleuropäischen Rechtssystems ausgebildet und sprachen Französisch, was auf den Argwohn der, zumindest auf Leitungsebene, nahezu ausschließlich anglophonen FPR stieß. Diese hatte schon während des Völkermords gefordert, und die Forderung durch etliche Festnahmen untermauert, dass die für den Völkermord Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden müssten – »to end impunity«, wie der Slogan in Anspielung auf die Straflosigkeit ethnisch motivierter Straftaten in der ruandischen Vergangenheit lautete – und waren darin von allen Parteien der Übergangsregierung und des Übergangsparlaments unterstützt worden.59 Alle, Hutu wie Tutsi, wollten keinen Zweifel daran lassen, dass das künftige Ruanda nicht mit der Hypothek ungesühnter Verbrechen belastet werden dürfe.
Mit diesem Vorsatz standen beide Bevölkerungsgruppen nicht allein. Die internationale Gemeinschaft, über deren Versagen zur Verhütung und Bekämpfung des Völkermords schon viel geschrieben worden ist,60 richtete im November 1994 einen Strafgerichtshof ein, dessen Aufgabe es war, Völkermordverbrechen und »systematische, weitverbreitete und flagrante Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht«, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1994 begangen worden waren bzw. noch begangen werden sollten, zu ahnden.61 Nach dem Willen des UN-Sicherheitsrats sollte sich der Gerichtshof, dem Beispiel des im Mai 1993 geschaffenen Jugoslawien-Tribunals folgend (mit dem es im Übrigen organisatorisch eng verzahnt war), auf ehemals hochrangige, einflussreiche Täter konzentrieren, um durch deren Bestrafung »zur nationalen Aussöhnung wie auch zur Wiederherstellung und Wahrung des Friedens« beizutragen.62
Dass Ruanda, das 1994 nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats war, als einziges Mitglied dieses Gremiums gegen die Einsetzung des Ruanda-Tribunals stimmte, mutet vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung und etlicher inhaltsgleicher Erklärungen ruandischer Politiker in den Monaten zuvor befremdlich an. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Die Gegenstimme markierte jedenfalls einen deutlichen Missklang, der sich bis heute, mal mehr, mal weniger klar vernehmbar, durch das Verhältnis zwischen dem »Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda« und Ruanda selbst zieht. Das Tribunal sei nicht effizient genug, blind für die ruandische Geschichte und Kultur und unsensibel gegenüber den Überlebenden, lauten die Vorwürfe. Auch darauf wird noch zurückzukommen sein.
Ende August 1996 wurde vom ruandischen Übergangsparlament das erste Gesetz verabschiedet, das eine strafrechtliche Ahndung von Völkermordverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermöglichen sollte.63 In den gut zwei Jahren, die seit dem Völkermord vergangen waren, war mit Hochdruck an dem Wiederaufbau der Justiz gearbeitet, waren Staatsanwälte und Richter ausgebildet worden und hatten in Kigali Konferenzen stattgefunden, die internationales Wissen über den Umgang mit Massenverbrechen vermitteln wollten.64 Das Gesetz wies die Verfahren noch zu bildenden Sonderkammern bei den ordentlichen Gerichten und den Militärgerichten zu (Artikel 19). Die Tatverdächtigen wurden je nach Tatschwere in vier Kategorien eingeteilt, vom Organisator des Völkermords und Massenmörder über den einfachen Mörder und Schläger bis hinunter zum Plünderer (Artikel 2). Die Höchststrafe konnte auf Tod lauten, doch bestand generell die Möglichkeit, das Strafmaß durch ein frühes Geständnis erheblich zu mildern (Artikel 15 und 16), im günstigsten Fall sollte z. B. ein Mörder nur eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren erhalten. »Durch ein System, das geringere Strafen für geständige Verdächtige vorsah, sollte dazu beigetragen werden, die Wahrheit über das, was zwischen 1990 und 1994 geschehen war, herauszufinden«, meinte dazu Martin Ngoga, von Juli 2006 bis Oktober 2013 Generalstaatsanwalt von Ruanda, und im Hinblick auf die Kategorisierung der Täter fügte er hinzu »sie berücksichtigte den Umstand, dass zwar die Beteiligung der Bevölkerung am Völkermord sehr hoch gewesen war, doch nur eine kleine Zahl von Führern den Völkermord geplant und dazu aufgerufen hatte. Die Kategorisierung der Verdächtigen entsprach dem Grad ihrer Verantwortlichkeit für begangene Verbrechen.«65