Kitabı oku: «Johannes Schaller – eine andere Biografie», sayfa 3

Yazı tipi:

»Du hast es gut«, begrüßte mich Eppers am Abend. »Du brauchst keine Wache mehr zu schieben. Darauf müsstest du eigentlich einen ausgeben.«

»In Ordnung. Ich trage mich für Sonnabend zum Ausgang ein.«

Es war ein später Sonnabendnachmittag. Ich wurde unruhiger, je mehr der Abend heranrückte, putzte meine Schuhe, holte meine Ausgangsuniform aus dem Schrank, lief hinüber zur Bügelstube, um die Falten aus meiner Hose zu plätten, bürstete meine Jacke aus, ging duschen, rasierte mich, wusch meine Haare, rieb sie intensiv trocken, zog frische Socken und Unterwäsche an.

Eppers lag auf seinem Bett, las ein Buch. »Du musst dich nicht beeilen«, lachte er. »Der Schwof geht erst um sechs los. Die Frauen und Mädchen kommen erst so gegen sieben. Sie kommen überall her, aus der Stadt, von den Dörfern. Sie kommen mit den Omnibussen, mit der Bahn, manche kommen mit dem Fahrrad. Sie wissen, wo die Männer sind.« Eppers schwang seine Beine aus dem Bett, gähnte. »Im Prinzip geht es erst nach um acht los. Dann sind die meisten von uns schon besoffen.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Kasernenhof. »Dann hast du mehr Auswahl.« Er lachte in sich hinein, warf sich sein Handtuch über die Schulter.

Es dämmerte bereits, als wir die Kaserne verließen. Wir gingen ein Stück stadteinwärts, überquerten die Hauptstraße, gingen auf dem Spazierweg, der zwischen dem Fluss, der vom Osten herankam, und der Landstraße in die Stadt hineinführte. Der Wasserlauf machte eine Biegung von der Straße weg. Wege führten in die weitläufige Aue, in die feuchten Wiesen. Während wir gingen, sah ich hinter den Baumkronen bereits die Lichter der Stadt. Musik klang zu uns herüber. An einer Wegbiegung sagte Eppers: »Ich muss hier entlang.« Er deutete in Richtung des Seitenweges, dessen Ende sich bereits in dem Nachtdunkel verlor. Am Ende des Weges sah ich durch das Gebüsch ein hell schimmerndes Kleid und blondes Haar. Verärgert, weil Eppers mich nicht eingeweiht hatte, ging ich weiter, beobachtete, wie eine Frauengestalt sich von einem Baumstamm löste, das Gestrüpp zur Seite bog, sich mir in den Weg stellte. Erschrocken trat ich einen Schritt zurück, sah das Gesicht der Frau vor mir. Es war Carola Schwarz.

»Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie und es machte ihr Freude, mein Erschrecken zu beobachten. »Du bist also der Schaller?«, Carola trat etwas zurück, musterte mich mit funkelnden Augen: »Habe ich das nicht gut gemacht?«

»Was?«

»Na, dass du jetzt in der Verwaltung bist.«

Wie, als würde ich ihr gehören, umschlang sie meinen Hals, küsste mich, fuhr mit ihrer Zunge in meinem Mund herum, lehnte ihren Kopf zurück, betrachtete mein Gesicht. »Ich war neugierig, wer das ist, der mich da vorn am Kasernentor so blamiert hat. Ich habe mir deine Unterlagen geholt und gelesen, dass du zu den Sternen fliegen willst. Eigentlich ist Martina für die Besetzungsnachweise zuständig. Sie hatte auch schon den Eppers für diese Planstelle eingetragen. Sie ist ganz verrückt nach ihm. Ich habe Eppers ausradiert und dich dafür eingetragen.«

Carola drängte mich. Oben auf der Landstraße gingen Soldaten in Richtung des Tanzlokals. »Du brauchst keine Angst zu haben. Diese Leute kennen mich nicht. Mein Mann ist mit seiner Kompanie auf dem Schießplatz.«

Ich schob meine Hand unter ihren Rock, umfasste ihr Gesäß. Carola half mir ihren Schlüpfer herunterzuziehen. Ich musste in die Knie gehen, um in ihre Vagina einzudringen.

Wir gingen weiter. Jeden zweiten oder dritten Schritt blieb ich stehen, zog Carola an mich heran, küsste sie, liebkoste ihr Gesicht, ihren Hals, umfasste ihre Brüste. Diesmal drängte ich. »Es war alles so schnell vorhin.«

Wieder gingen wir. Ich konnte nicht genug kriegen von ihrem Entgegenkommen, ihrer Zärtlichkeit. »Carola.«, sagte ich, »wenn ich hier fertig bin, nehme ich dich mit.«

Diesmal war es Carola, die unser Gehen beendete. Sie schlang wieder ihre Arme um meinen Hals, legte ihr Gesicht an das meine und wir standen, als wollten wir uns nicht wieder voneinander lösen.

Doch dann ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie nahm ihre Arme zurück, sah mich an: »Zu spät, Johann.« Unbewusst gingen wir aneinandergeschmiegt tiefer in das Nachtdunkel des Parks hinein, gingen nebeneinander her, schwiegen, küssten uns, wussten, dass der Morgen anders sein würde.

»Johann«, begann Carola. »Ich bin fünf Jahre älter. Ich habe mit siebzehn mein erstes Kind gekriegt. Damals war ich in den Mann meiner Schwester verliebt. Ich habe sogar sein Passfoto aus der Geldbörse meiner Schwester geklaut und in meinem Portemonnaie versteckt. Eines Tages hat sie das mitgekriegt. Seitdem ist Krieg zwischen uns. Meine Neugier waren immer Männer, die älter waren als ich. An einem Tanzabend, da kam einer und holte mich immer wieder zum Tanz. Danach bin ich mit ihm vor die Tür gegangen. Er war zärtlich, drängend und ich war neugierig. Am nächsten Wochenende kannte er mich nicht mehr. Ich begriff, dass ich schwanger war, stellte ihn zur Rede. Er hat mich ausgelacht, denn ich würde ja jedes Wochenende hier beim Tanz sein. Ich habe mich geschämt, dass er mich zu einer Hure stempelte. Ich bekam meinen Sohn Mirko. Mein Vater und meine Mutter haben keinen Aufruhr gemacht. Im Gegenteil. Als Mirko da war, war es nicht mehr mein Kind, es war ihres. Sonnabends oder sonntags, wenn ich den Kinderwagen nahm, um mit Mirko spazieren zu gehen, kam ich mir vor, als würde ich mein eigenes Kind entführen. In der Innenstadt war ein großer Imbiss eröffnet worden, in den ich mühelos auch mit Kinderwagen hineinkam. Ich war neugierig, wollte einfach nur unter anderen Menschen sein, setzte mich an einen leeren Tisch, wollte warten bis der Menschenandrang an der Verkaufstheke nachließ, um mir eine Bockwurst zu kaufen. Robert kam beiläufig an meinen Tisch, trank einen Kaffee, aß seine Wurst.

Ich hatte Hunger. ›Würden sie mal auf mein Kind aufpassen? Ich will mir nur eine Wurst kaufen.‹ Er sah mich an, zog seine Augenbrauen zusammen. ›Sie werden doch nicht ihr Kind einem wildfremden Mann überlassen?‹ Er stellte sich wieder in die Reihe vor der Verkaufstheke, brachte mir eine Bockwurst und für Mirko einen Schokoladenriegel.

Es war, als hätte ich seit diesem Tag wieder ein Ziel. Jeden Sonnabend fuhr ich mit Mirko mit der Straßenbahn zum Markt, setzte mich immer wieder auf den gleichen Platz, beobachtete den Eingang, in der Hoffnung, Robert würde kommen. Eines Tages war er da. Er saß mit einem älteren Ehepaar am Tisch. Ich überwand meine Schüchternheit, ging auf den Tisch zu, schob meinen Kinderwagen heran, fragte: »Ist bei Ihnen noch ein Platz frei?«

Robert sah auf, erkannte mich, lachte. »Na klar. Das sind meine Mutter und mein Vater«, erklärte er mir kauend. »Sie wollen sich heute einen Fernseher kaufen.«

Roberts Mutter musterte mich. Sein Vater blickte zur Seite, als sei es ihm peinlich, sich zwischen mich und seinen Sohn zu drängen. Sie standen auf. Auch Robert wollte aufstehen.

»Lass man«, legte Roberts Vater die rechte Hand auf seine Schultern. »Wir können uns den Apparat auch alleine kaufen. Kümmere du dich um deine Frau.« Roberts Mutter lächelte, nickte mir zu. Seitdem war ich verheiratet.

Robert war Reparaturschlosser in der Braunkohle. Ich nähte Pantoffeln in der Schuhfabrik. Wir zogen in die Mansardenzimmer in seinem Elternhaus in Zwingau. Das Dorf war verwahrlost. Die Häuser standen grau und niedrig neben den von Braunkohlestaub verschmutzten mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen. Der Putz fiel von den Außenwänden und die Fensterrahmen waren von Wind und Regen zermürbt. Alle wussten, eines Tages würden die Bagger kommen, die Häuser zermalmen, den Boden aufreißen, um die Braunkohle aus der Erde zu holen. An warmen Junitagen saßen Robert und ich am Giebelfenster unserer Mansarde. Vor uns sahen wir die Bagger, die Abraumhalden. Vor unserem Haus war noch eine Wiese. Das grüne Gras war immer ein Zeichen für uns, dass es auf dieser Welt noch anderes gab. Manchmal hörten wir sogar Nachtigallen schlagen. Wenn wir dann aus dem Fenster sahen und der Himmel war wolkenlos, strahlten uns die Sterne an. Wir träumten, die Sterne zu uns ins Zimmer zu holen.

»Robert«, fragte ich, »wollen wir nicht da hoch fliegen?« Betreten stand er neben mir, als schämte er sich dafür, dass er noch hier war. Ich wurde schwanger als er zur Armee eingezogen wurde. Bei seinem ersten Urlaub sagte er mir, er habe sich für die Offiziersschule beworben. Dann kam er drei Jahre nur aller vier Wochen nach Hause. Nach seiner Ernennung zum Unterleutnant wurde er hierher als Zugführer versetzt. Wir erhielten eine sonnige Neubauwohnung. Ich bekam in der Kaserne Arbeit im Verpflegungslager. Eines Tages kam Major Meier, mein jetziger Chef, zu mir und fragte mich, ob ich nicht bei ihm arbeiten wolle. Die Gewerkschaft hätte zugestimmt und auch die Staatssicherheit hätte genickt. Er hatte in den Unterlagen gelesen, dass mein Mann aus Zwingau stammte. Er, Meier, war damals als Flüchtling mit seiner Mutter auf einem Gutshof nahe Zwingau einquartiert worden. Ich hatte zugestimmt. Außerdem gab es dort mehr Geld. Mein Mann wurde Kompaniechef, soll im nächsten Jahr zur Militärakademie gehen. Vielleicht wird er noch ein großer Kommandeur.«

Carola horchte auf. »Ich muss jetzt gehen. Sie spielen schon ›Muss i denn zum Städtele hinaus‹.« Vorsichtig bog sie die Zweige der Büsche am Wegrand zur Seite, stieg die kleine Böschung hinauf, die unseren Weg von der Landstraße trennte, kam zurück, schüttelte den Kopf. »Es sind noch zu wenige Leute auf der Straße.«

Carola wartete noch eine Weile. Bevor sie wieder losging küsste sie mich noch einmal, rieb mit ihrem rechten Zeigefinger auf meinem Nasenrücken, sagte drohend: »Mein lieber Schaller, wenn du eines Tages von deinem Sternenflug zurückkommst, oben auf der Bühne stehst, einen großen Orden empfängst, ich mit meinem Mann unten in der ersten Reihe sitze und du kennst mich nicht mehr, weil ich einen dicken Arsch habe, dann erzähle ich Jeder und Jedem, dass du mich gevögelt hast.« Sie bekräftigte ihre Drohung durch ein heftiges Nicken, drehte sich, sprang auf die Straße.

Ich hörte, wie ihre Absätze auf das Pflaster schlugen. Ich ging los als das Klacken ihrer Absätze immer leiser wurde.

Am Montag kam Carola wie immer als wäre nichts gewesen. Nur manchmal, wenn sie glaubte, ich würde es nicht bemerken, beobachtete sie mich aus den Augenwinkeln. Um ihren Mund spielte dann ein Lächeln.

Eppers hatte für das Wochenende Sonderurlaub beantragt. Ich hatte mit Verwunderung festgestellt, dass in den letzten Wochen seine rosaroten Briefe ausgeblieben waren. Er kam Montagvormittag vorzeitig zurück.

»Gibt es denn zu Hause etwas Neues?«, fragte ich.

Eppers zuckte die Schultern. »Der Bahnhof steht noch, die Straßenbahn fährt noch. Außerdem habe ich nicht viel mitbekommen.« Er stellte sich ans Fenster, hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, blickte stumm auf den Kasernenhof.

»Ein anderer?«

Eppers zog resigniert seine Mundwinkel nach unten, nickte zu sich in die Fensterscheibe hinein.

Am Diensttagnachmittag ließ er wieder antreten, zog die Reihen auseinander, kontrollierte die Ausrüstung, marschierte mit der Wache zum Kasernentor. Seine Befehle waren wie immer klar und exakt.

Am Mittwochmorgen erwachte ich von der Salve einer Maschinenpistole. Ungläubig sprang ich aus dem Bett. Am Kasernentor war plötzlich lautes Rufen. Offiziere rannten hastig über den Kasernenhof. Oben vom Krankenrevier kam ungewöhnlich schnell der Sanitätskraftwagen gefahren. Klosch kam kopfschüttelnd ins Zimmer, legte seine Mütze ab, hing seinen Mantel an die Garderobe, stellte wie gewöhnlich seine Tasche an ihren Platz, schloss die Panzerschränke auf, schob mir die Kartenblätter hin, die ich für eine Bataillonsübung zusammenkleben sollte.

»Was ist denn da draußen los?«, fragte ich neugierig.

»Der Wachhabende hat sich am Kasernentor erschossen.«

»Eppers?«

»Ja, ich glaube er heißt Eppers.« Dann tippte er sich an die Stirn. »Wegen eines Mädchens.«

Meine Knie zitterten. Ich setzte mich auf meinen Stuhl am Schreibtisch.

Vom Flur her kam ein durchdringender Frauenschrei: »Nein!« Eine Tür wurde aufgeschlagen. Schnelle Frauenschritte waren zu hören. Der Schrei riss mich von meinem Stuhl hoch. Ich öffnete die Tür, sah Martina den langen Kasernenflur entlang rennen. Carola rannte hinter Martina her, rief immer wieder laut und ängstlich: »Martina, Martina.« Carola verlor ihren rechten Schuh, schleuderte den linken gegen die Wand, lief auf Strümpfen weiter, holte Martina ein. Beide verschwanden sie hinter der Tür der Damentoilette.

Nach einer Weile kam Carola zu uns in die Ausgabestelle. Sie lehnte sich erschöpft gegen den Türrahmen, legte ihren Kopf zurück, schloss die Augen, öffnete sie wieder. »Johann«, sagte sie, »Martina ist schwanger.«

Klosch horchte auf, weil Carola mich beim Vornamen nannte.

Ich suchte wieder meinen Stuhl: »Von Eppers?«

Carola nickte. Über ihr Gesicht rannen Tränen. Sie holte ein Taschentuch hervor, begann sich die Augen trocken zu reiben, schluchzte. Sie verließ das Zimmer wieder.

Ich wollte beginnen an den Kartenblättern die Ränder zu beschneiden. Doch meine Hände zitterten. »Stabsfeldwebel«, sagte ich. »Ich muss noch einmal auf die Unterkunft. Ich habe meine Essenmarken noch im Spind.«

Klosch sah von seinem Tisch auf, betrachtete mich eine Weile, nickte dann, hob drohend seinen rechten Zeigefinger. »Aber mach keine Scheiße.«

Ich lief über den Kasernenhof zur Unterkunftsbaracke. Die Sonne überflutete an diesem Tag bereits ungewöhnlich hell die Kasernenanlage. Die Luft war für einen Tag mild und es roch nach regennasser Erde. Im Zimmer setzte ich mich auf Eppers Stuhl, starrte auf sein Bett. Auf dem Kopfkissen lag noch das Buch, in dem er immer gelesen hatte. Draußen auf dem Flur hörte ich den Schreiber gehen, die angekommenen Briefe zu verteilen. Er erschrak, als er mich am Tisch sitzen sah, drehte unschlüssig einen rosaroten Brief in den Händen.

»Gib her«, sagte ich. »Ich schicke ihn zurück.«

Als der Schreiber wieder die Tür geschlossen hatte knickte ich den Brief zusammen, schob ihn in meine linke Brusttasche. Ich wusste, ich würde diesen Brief nie zurückschicken oder lesen.

Bettina

Es war mein letzter Urlaub vor dem Ende meiner Wehrdienstzeit. Ich hatte bei Klosch zwei Tage Sonderurlaub beantragt, um in der Woche meine Arbeitsstelle und meinen Studienbeginn zu klären.

»Willst du nicht länger machen?«, fragte mich Klosch. »Das hier ist eine Unteroffiziersplanstelle.«

Ich schüttelte den Kopf.

Carola kam ins Zimmer.

»Es hat nicht geklappt, Frau Schwarz«, rief Klosch zu Carola hinüber. »Dieser Schaller will unbedingt zu den Sternen fliegen.«

Carola nickte nur, als hätte sie das schon vorher gewusst, drückte mir fest die Hand. »Viel Glück, Johann.«

»Ich komme noch einmal für ein paar Wochen zurück.«

»Wir werden uns nicht mehr sehen. Mein Mann muss seinen Urlaub nehmen. Wir fahren an die Ostsee.« Sie suchte meine Augen: »Martina. Es ist ein Junge.«

Ab Berlin war der Zug überfüllt. Wir standen dicht aneinander gedrängt im Gang, hatten die Koffer und Taschen zwischen unsere Waden geklemmt, stützten uns an den Wänden ab, lehnten uns gegeneinander. Ich hatte auf dem Perron einen Platz neben der Toilettentür gefunden.

»Reisende von Bahnsteig sieben. Beim Umsteigen bitte beeilen«, hallte die Lautsprecheransage unter dem Hallendach.

Ich sah zu, wie immer noch mehr Menschen die Treppe aus der Unterführung heraufhetzten, den Zug entlangliefen, einen Einstieg suchten. Bettina warf mit letzter Kraft ihren Koffer auf den Bahnsteig, stolperte die Treppen herauf, griff nach dem Henkel ihres Koffers, schleppte ihn neben sich her, kam zu unserer Wagentür, warf den Koffer auf die Wagenstufen. Ich entriss ihr den Koffer, schob ihn rücksichtslos in das Wageninnere, fasste Bettina an der Hand, zog sie in den Wagen.

»Die Türen schließen«, hallte es wieder über den Bahnsteig. Die Bahnhofsaufsicht schlug unsere Tür zu. Ein Pfiff ertönte. Der Zug fuhr an. Bettina fiel gegen mich, versuchte sich gegen die Wand zu stemmen, blies mir ihren Atem ins Gesicht.

»Tut mir leid«, keuchte sie. »Aber es geht nicht anders.« Bettina erholte sich, stützte sich immer noch mit der rechten Hand an der Wand ab. Es war ihr peinlich mit ihrem Gesicht so nah an dem meinen zu sein. Sie legte ihren Kopf zur Seite, sah aus dem Fenster des fahrenden Zuges. Ich beobachtete wie ihre Augäpfel hin und her gingen, um die wechselnde Landschaft vor dem Fenster zu erfassen. Ab und zu versuchte sie sich zu drehen, ihr Gewicht von einem Bein auf das andere zu verlagern. Sie berührte mich dabei, lächelte mich entschuldigend an.

Ein Ehepaar quälte sich mit seinen Koffern durch den Gang. Immer wieder erklärte die Frau: »Wir haben Platzkarten in einem Wagen weiter hinten.« Sie drückte die Gangtür auf. Beide stiegen über die Koffer, drängten sich durch die Stehenden.

Ich sah, dass es Bettina schwer fiel, noch zu stehen Ich drückte meinen Rücken gegen die Nachbarn, um Platz zu gewinnen. »Setz dich auf meinen Koffer.«

Bettina seufzte erleichtert, setzte sich, sah zu mir auf. »Danke.«

In dem Gedränge fiel meine Schirmmütze neben sie. Sie hob die Mütze auf, gab sie mir. »Urlaub?«

»Ja, mein letzter. In vier Wochen bin ich wieder zu Hause.«

»Ich war auf einem Lehrgang bei Brandenburg. Zu Hause bin ich in einer Kunstmalergruppe für Laien. Jedes Jahr einmal organisiert die Gewerkschaft ein zentrales Treffen. Da halten Professoren von der Kunsthochschule Vorträge und Seminare. Wilhelm, mein Gruppenleiter, hat mich vermittelt. Da kann man viel lernen. Diesmal stand vor allem das Zusammenspiel von Licht und Schatten im Mittelpunkt.«

»Du malst? Was denn? So etwas?« Ich deutete auf das Werbeplakat über ihrem Kopf. Es zeigte ein mittelalterliches Portrait. Das Gesicht auf dem Plakat war von einer großen grauen Perücke umrahmt. Darunter waren in weißer Schrift das Datum und der Ort der Ausstellung angegeben.

Bettina drehte ihren Kopf nach oben, betrachtete kurz das Plakat, lachte. »Nein. So malt man heute nicht mehr. Die kannten damals keine Fotografie.«

»Was malst du dann?«

»Alles Mögliche. Ich probiere mich aus. Wenn du sehen willst, was ich male, musst du mich mal besuchen.«

Bettina und ich stiegen zusammen aus. Zielstrebig steuerte sie auf dem Bahnsteig in Richtung der Treppen in die Unterführung zu, drehte sich noch einmal um. »Ich wohne unten an der Saale, Weidenplan acht.«

Vor den Treppen zur Unterführung stand ein Buckliger. Unter seiner Mütze quoll dichtes, gelocktes graues Haar hervor. Sein Gesicht war knochig. Ich erkannte nur die borstigen Augenbrauen.

Bettina ging auf ihn zu, stellte ihren Koffer ab, umarmte den alten Mann. Er bückte sich, um den Koffer aufzunehmen. Doch Bettina wehrte ab. Beide verschwanden in dem Gedränge.

Ich hatte es nicht eilig, wartete bis das Geschiebe der Aussteigenden aufhörte. Auf dem anderen Bahnsteig standen Doppelstockwagen. An einem der Waggons war ein auf großes weißes Schild ›Pendelzug Hauptbahnhof-Neustadt und zurück‹ geschrieben. Ich wanderte den Zug entlang bis zum Ende des Bahnsteiges. Durch das Gewirr der Oberdrähte und Leitungsmasten erkannte ich hinter den Kirchtürmen der Stadt am Horizont die weißen Silhouetten hoher Wohnblocks. Die Horizontlinie wurde von Hochhauskonturen unterbrochen. Ich wandte mich um, ging zur Fahrplanübersicht. Neben der Übersicht war ein Gleisplan angebracht. Eine blaue Linie markierte die Strecke des Pendelzuges. Rote Linien zeigten den Verlauf von Gleisstrecken an, die geplant waren.

Ein Grauhaariger trat neben mich, hatte meine verwunderte Neugier beobachtet. »Das sind die Strecken unserer Stadtbahn. Ich bin nur gespannt, welche Farbe den Zügen gegeben wird.«

Ich lächelte zufrieden in mich hinein, dachte: »Einmal wirst du dabei sein«, ging zurück, um in die Unterführung hinabzusteigen. Das Gedränge hatte gewechselt. Aufsteigende hasteten die Treppen herauf, stießen mich an, stolperten über meine Tasche. Verärgert blickten sie auf, weil sie nicht mehr damit rechneten, jemand würde ihnen entgegenkommen, fluchten.

Vor den Treppen in der Unterführung stand ein Ehepaar mit Kinderwagen. Ein Mädchen im Alter von zwei und eines von drei Jahren standen um den Kinderwagen herum. Die Frau bückte sich ständig, um die Decke zurecht zu ziehen, in die das dritte Kind im Kindersportwagen eingehüllt war. Sie sah die Treppen zu mir prüfend herauf, ob sie mit dem Kinderwagen gefahrlos die Treppen hinaufsteigen konnte.

Mich durchfuhr es heiß. Mein Herz hämmerte. Es war Marion. Ich erkannte sie sofort an ihren schmalen und engen Augen, dem schmalen Nasenrücken, den breiten Nasenflügeln, der Hautfalte auf ihrer Oberlippe, dem etwas zu langem Kinn.

Marion war füllig geworden. Ein leichtes Doppelkinn machte ihr Gesicht rund. Das Runde ihres Gesichts wurde von ihrem kurzen Haarschnitt betont. Das Haar war an den Spitzen blond gefärbt. Die verschwitzten Haarsträhnen im Nacken stießen bei jeder Bewegung über ihren Blusenkragen. Ihre Brüste hingen prall in ihrer bunten Bluse. Wenn sie sich bückte fiel eine Bauchfalte über ihren Rockbund. In dem engen Rock zeichneten sich die Konturen ihres Unterbauches. Die kräftigen Oberschenkel ließen ihren Körper kleiner erscheinen.

Der Mann nahm die beiden Mädchen an die Hand, führte sie die Treppen bis zur Zwischenstufe hinauf, redete mit ihnen. Die Mädchen nickten, standen still, sahen zu, wie ihr Vater die Treppen wieder hinabstieg. Marion umfasste die Kinderwagenstange, der Mann griff in die Vorderräder des Wagens. Beide hoben sie ihn über die Treppen, setzten ab, als sie die beiden Mädchen erreichten.

Langsam stieg ich die Stufen herab. Wir begegneten uns auf der Zwischenstufe. Grasshof erkannte mich, hob grüßend die Hand, drehte die Handfläche der linken Hand zu mir als Zeichen, dass er die Zeit des Soldatseins hinter sich hatte. Er trug jetzt eine Brille.

Marion erkannte mich nicht. Für sie war ich nur ein Jemand in Uniform. Sie bückte sich wieder, um die Decke über ihrem Kind zurechtzurücken, die beim Herauftragen des Kinderwagens verrutscht war.

Marion und Grasshof brachten ihre Kinder auf den Bahnsteig. Oben ertönte die Lautsprecheranlage hinter mir her. »In den Pendelzug nach Neustadt bitte einsteigen.«

Mein Herz schlug immer noch heftig, als ich in die Bahnhofsvorhalle einbog. Es war alles immer noch so, wie ich es kannte, die Fahrkartenschalter, die Gepäckaufbewahrung, die Fahrplanaushänge, der Blumenladen, die Werbung. Mich bemächtigte ein Gefühl, Zeit verloren zu haben, ging über den Bahnhofsvorplatz unter der Brücke durch zur Straßenbahnhaltestelle. Über mir fuhr der Pendelzug. Marion und Grasshof fuhren mit diesem Zug Richtung Neustadt in ihr zu Hause.

Die Gewohnheit des Dienstablaufs machte die Zeit bis zu meiner Entlassung von der Wehrpflicht kurz.

Ich saß im Zug, hörte das Rattern der Räder auf den Gleisen und je näher ich meiner Stadt kam, umso mehr begann mich meine Zukunft zu drücken. Da war nicht mehr das morgendliche Aufstehen nach Disziplin, war nicht mehr der Gang in den Speisesaal, der Schlüsselempfang für die Panzerschränke, das Warten auf Klosch, auf Carola. Ich war frei. War ich frei? Eingebettet in den organisierten Ablauf jeden Tages war ich immer ich selbst gewesen. Ich stieg in die Straßenbahn, schloss die Augen. Die Bahn fuhr an, bremste. Beim zweiten Bremsen wusste ich, dass ich aussteigen musste.

»Na, da bist du ja«, begrüßte mich meine Mutter. Ich hörte aus ihrer Bemerkung die Sorge heraus, wie es mit mir weitergehen sollte. Im Flur stand ein Kinderwagen.

»Der ist für Barbara. Sie hat gestern einen Jungen geboren. Den Kinderwagen hat dein Vater bezahlt.« Meine Mutter putzte ohne aufzusehen weiter Gemüse. »Wir wollen sie morgen am Nachmittag besuchen. Vormittags sind wir nicht gern gesehen. Da ist im Krankenhaus viel Betrieb, sauber machen, Hygiene, Visite, Versorgung der Mütter. Wenn du mitkommen willst, musst du Barbara natürlich ein Geschenk mitbringen. Spielzeug braucht so ein Säugling noch nicht. Am besten ist, du kaufst einen Strampelanzug. Aber in Blau. Es ist ein Junge. Und Blumen. Wenn man Mutter wird, freut man sich immer über Blumen.« Die Nüchternheit meiner Mutter weckte in mir das Verlangen, mich wieder in meiner Dokumentenstelle zu verstecken.

Ich ging noch am Nachmittag los, fuhr mit der Straßenbahn bis zum Markt, ging auf das Kaufhaus zu, in dem es eine Abteilung für Kinderbekleidung gab. Neben dem Eingang in das Kaufhaus waren die großen Fensterscheiben der Auslagen. Zwischen Schaufensterpuppen, die sonst Tag und Nacht einsam im Licht standen, beobachtete ich an diesem Nachmittag zwei Frauen in weißen Kitteln hinter den Scheiben, die die Puppen neu ankleideten, sah ihnen neugierig zu. Ich erkannte Bettina. Mit offenem weißen Kittel bemühte sie sich einer männlichen Puppe eine Jacke überzuziehen. Ihr blondes Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem Stummel gebunden. Zwischen ihre Lippen hatte sie Sicherheitsnadeln geklemmt. Ich klopfte an die dicke Schaufensterscheibe. Verärgert sah Bettina auf. Ihre Verärgerung löste sich auf, als sie mich erkannte. Sie deutete mit ihrem Kopf auf die Tür in der Dekorationswand. Ich verstand nicht. Wieder deutete sie auf die Tür, zeigte mit der Hand die Richtung an. Ich ging in das Kaufhaus hinein.

Bettina kam durch die Tür der Dekorationswand, begrüßte mich lachend. »Ah, der Soldat.«

»Gefunden«, lachte ich.

»Du Lügner. Du hast noch nicht einmal angefangen, mich zu suchen.«

»Na, ja«, versuchte ich mich zu rechtfertigen, »ich bin erst heute Mittag angekommen.«

»Hör zu«, sagte sie, »ich habe in einer halben Stunde Feierabend. Fahr hoch in die vierte Etage. Da ist ein Imbiss. Ich komme dorthin. Da können wir zusammen eine Tasse Kaffee trinken.«

Bettina ging zu ihrer Schaufensterpuppe zurück. Ich kaufte im Erdgeschoss einen Blumenstrauß, stieg in die Kinderabteilung in der zweiten Etage, kaufte einen Strampelanzug, fuhr dann wie mit Bettina verabredet in die vierte Etage.

Ich hatte kaum meine Bockwurst und meinen Kaffee auf einem der Tische abgestellt, stieß Bettina die Schwingtür auf, überflog den Gastraum, ging zur Verkaufstheke, zapfte den Kaffeeautomaten an, setzte sich zu mir an den Tisch.

»Woher weißt du, dass ich hier arbeite?«

»Meine Schwägerin hat einen Sohn geboren. Ich will sie morgen besuchen. Meine Mutter hat mich angewiesen für den Säugling einen Strampelanzug zu kaufen.«

»Ach so«, hörte ich aus Bettinas Stimme eine leichte Enttäuschung heraus. Sie hob den Kopf, schaute verloren in den Saal. »Kinder sind etwas Schönes.«

»Soll ich dich nach Hause bringen?«

Bettina schüttelte den Kopf. »Ich muss nachher zu meiner Malgruppe.«

»Du hast mich eingeladen, um mir zu zeigen, was du malst.«

»Am besten ist es am Sonnabend. Ich bin mit meiner Mutter allein zu Hause. Da male ich und muss nebenbei auf die Tochter meiner Schwester aufpassen. Ihr Kerl sitzt im Knast. Er hat Autos geklaut, auseinandergenommen und alles als Ersatzteile verkauft. Meine Mutter arbeitet drei Schichten in einer Baumwollspinnerei, kommt am Sonnabend aus der Nachtschicht, muss schlafen.«

»Weidenplan acht, hast du mir gesagt.«

»Du weißt die Adresse also noch?« Bettina stand von ihrem Stuhl auf, gab mir einen flüchtigen Kuss auf die rechte Wange. »Also dann bis Sonnabend.«

Am anderen Nachmittag gingen meine Mutter, mein Vater und ich zu Barbara auf die Entbindungsstation. Barbara lag mit aufgelöstem hellem Haar in ihrem Kopfkissen, hatte ihre Arme neben sich gelegt, lächelte uns zu. Mein Vater ging an sie heran, tätschelte ihr die Hand, stellte sich dann stolz an das Fußende des Bettes. Meine Mutter strich ihr zärtlich über die Wangen. »Alles gut verlaufen? Und gesund?«

Barbara nickte.

Meine Mutter ging zur Seite, um mir Platz zu machen. Ich legte Barbara die Blumen auf das Deckbett, drückte mein Gesicht an das ihre. »Herzlichen Glückwunsch.« Ich beugte mich wieder auf. Barbara sah mich verlegen an. Ihre blauen Augen strahlten.

Am Sonnabend ging ich los. Am Freitag hatte ich schnell noch drei langstielige rote Rosen gekauft, hatte sie in durchsichtige Folie einschlagen lassen, legte sie während meiner Straßenbahnfahrt vorsichtig auf meinen Schoß. Eine junge Frau setzte sich neben mich: »Oh. Rote Rosen!« Die Frau legte ihren Kopf zur Seite: »Sind die für mich?« Ich schüttelte verlegen den Kopf. Die Frau lachte, winkte mir lächelnd zu, als sie ausstieg.

Die Fahrstrecke der Bahn bis zum Flusshafen war lang. Sie führte aus meinem Industrieviertel über den Bahnhofsplatz durch die belebte Einkaufsstraße zum Markt, fuhr in die Altstadtviertel ein, überquerte einen seichten Flussarm. Fast zerfallene Häuser standen bis an das Wasser heran. Die Bahn machte einen Bogen, bog in das mit alten Bäumen gesäumte Villenviertel ein, fuhr unter den Bäumen bis zur Ruine der mittelalterlichen Burg, an deren mächtigen Mauern träge das trübe Wasser des Flusses vorbeiströmte, ließ die Altstadt und das Villenviertel hinter sich. Ich stieg am Friedhof der Vorstadt aus. Rechterhand der Straße erstreckte sich ein Ruinenfeld. Das Feld war eine Fabrik gewesen, die Teile für Flugzeugmotoren gebaut hatte. Nur Mauerreste waren noch da. Zwischen den Mauern, die stehen geblieben waren, wucherte Unkraut in den Fugen der Betonflächen. An den Flächenrändern wuchsen Jungbäume zu einem Waldsaum heran. Ich lief an der Friedhofsmauer entlang, fand mich plötzlich auf einem Dorfplatz wieder. Vor mir erhob sich eine weißgetünchte Kirche mit einem Schieferdach. Um die Kirche duckten sich Katen mit grauen Fassaden. An einer Hauswand erinnerte eine Metalltafel, dass hier einmal ein schwedisches Regiment gelagert hatte. Hinter dem alten Dorfplatz tauchten plötzlich die hellen Mauern von Neubaublöcken auf. Das Neubauviertel wurde durch eine Reihenhaussiedlung abgelöst.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
270 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783961451753
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre