Kitabı oku: «Die chinesische Dame», sayfa 4
˘ ˘ ˘
Die Tür wurde so rasch geöffnet, dass Christian das Gefühl hatte, sie habe auf ihn gewartet. Frau Armbrust trug eine frisch gebügelte weiße Bluse und einen dunkelblauen Rock. Sie hatte die hochgezogenen Augenbrauen eines staunenden und die Unterlippe eines zutiefst traurigen Menschen. Christian konnte verstehen, warum Vater an ihr Gefallen gefunden hatte – in ihrer Jugend und im mittleren Alter musste sie eine äußerst schöne Frau gewesen sein: groß, schlank, erhaben. Noch immer strahlte die über Fünfzigjährige diesen Stolz aus.
Ihre großzügig geschnittene Neubauwohnung war penibel aufgeräumt. An dem Kleiderständer hingen nur ihr Lodenmantel und ein grüner Damenhut, auf einem Stehpult lag ein weißes Netbook. Zugeklappt, kein Papier, kein Stift, kein Notizzettel. Drei Yuccapalmen schmückten das Wohnzimmer, die einzigen Pflanzen in ihrer Bleibe.
Frau Armbrust brachte Darjeeling und englisches Mürbgebäck, beides servierte sie auf Augarten-Porzellan. Christian ließ sich in das beige Ledersofa sinken und griff nach den Keksen. Er war überraschte, wie freundlich sie ihn empfing, obwohl er sie zuvor so unverblümt nach ihrem Verhältnis zu Vater befragt hatte.
Frau Armbrust bestätigte: Sie hatte auf Wunsch seines Vaters für die chinesische Dame Hotel und Transfer zum Flughafen gebucht. Noch am selben Abend gab es von München eine Direktverbindung nach Schanghai. Alles passte zusammen.
Christians Blick fiel durch die halb geöffnete Tür ins Schlafzimmer. Über das Doppelbett hatte Frau Armbrust eine goldfarbene Überdecke gelegt. Am Kopfende lagen fünf gelbe Polster, zu einer Pyramide drapiert. So arrangiert man sein Schlafbett nur, dachte Christian, wenn man vorhat, lange zu verreisen. Aber Frau Armbrust dachte vielleicht anders, ganz anders.
Er hatte mit den Keksen gekrümelt. Rasch holte sie Besen und Schaufel. Von Vater wusste Christian: Es gab keine Sitzung, zu der sie nicht bestens vorbereitet erschien. Sie hatte ein phänomenales Zahlengedächtnis, war fleißig und loyal, vor allem aber schätzte Vater ihre Ehrlichkeit – würde sie lügen, könnte sie nächtelang nicht schlafen, hatte ihm Vater einmal erzählt. Böse grinsend. Deshalb hatte er ihr die Prokura gegeben. Worüber sich Lutz geärgert hatte, fühlte er sich doch von Vater auf den Rang verwiesen.
Christian bat Frau Armbrust, ihm die Adresse der Chinesin in Schanghai zu nennen. Sie zögerte und erzählte etwas von Datenschutz: „Herr Selikowsky hat darauf bestanden, Adressen nicht an Dritte weiterzureichen, nicht wahr!“
Was für eine Floskel für eine Frau, die nicht lügen konnte, schoss es Christian durch den Kopf.
„Ich bin kein Dritter!“, empörte er sich.
Sie antwortete nicht.
„Wozu die Geheimniskrämerei?“
„Ich fühle mich Herrn Selikowsky verpflichtet. Immer noch!“ Christian schüttelte den Kopf: „Frau Armbrust, bitte! Das ist absurd!“
Sie schwieg. Doch er wusste, dass sie Konflikte kaum ertragen konnte. Lief ihr etwas gegen den Strich, verließ sie den Raum. Zumindest innerlich.
Aus diesem Grund setzte er sich so, dass sie weder aufstehen noch seinem bohrenden Blick ausweichen konnte. Und schwieg.
Neben ihrem Breitwandfernseher entdeckte er ein gerahmtes Foto vom 30-jährigen Firmenjubiläum. Die Führungsmannschaft posierte vor dem Werkstor. Vater umarmte mit seiner Rechten Lutz und Christian, mit der Linken Frau Armbrust. Sie lächelte stolz. Im Vordergrund bemerkte Christian die junge Praktikantin, die Auslöser seiner Albträume war. Eine Gänsehaut überkam ihn.
Lange saßen er und Frau Armbrust wortlos einander gegenüber.
„Wissen Sie Christian“, sagte sie schließlich, „ich bin in einem katholischen Internat groß geworden. Da lernt man, sich an Versprechen zu halten. Auch über den Tod hinaus!“
„Frau Armbrust, Ihre Loyalität in Ehren, aber dieses Versprechen haben sie mit meinem Vater als Firmeninhaber getroffen! Der Laden gehört ab sofort meinem Bruder und mir. Und als neuer Firmenmiteigentümer gebe ich Ihnen jetzt die Anweisung, mir bitte die Adresse der chinesischen Dame zu geben!“
Er konnte in ihrem Gesicht einen Kampf sehen. Dann stand sie auf und ging zum Stehpult. Widerwillig klappte sie das Netbook auf und zog die Lade des Pults heraus, in dem sich ein kleiner Drucker verbarg. Ordentlich, wie Frau Armbrust war, hatte sie alle Visitenkarten gescannt. Sie fertigte für Christian einen Ausdruck an: Die chinesische Dame residierte in Schanghai und hieß Li Hong.
˘ ˘ ˘
In der Kälte, auf dem Weg zum Bauernhaus, versuchte Christian seine Gedanken zu ordnen: Sollte jemand am Tod seines Vaters Schuld haben, so lag der Schluss nahe, dass diese Person kurz vor Vaters Ableben mit ihm Kontakt hatte. In Frage kamen also sein Bruder – diesen Verdacht wollte er gar nicht an sich heranlassen – die chinesische Dame und Frau Armbrust. Wenn aber Frau Armbrust damit etwas zu tun hatte, warum hatte sie ihm dann die Visitenkartenkopie von Li Hong ausgedruckt, sie hätte genauso gut ihre Hilfe verweigern können. Oder wollte sie bloß von sich ablenken?
Dann aber wurde ihm klar: Frau Armbrust war weder vor noch zu Vaters Todeszeitpunkt in seinem Büro gewesen; sogar vor Christians Augen hatte sie im Vorzimmer gewartet und schließlich mit der Chinesin die Firma verlassen. Frau Armbrust hatte also ein Alibi – durch ihn selbst!
Sie konnte nicht einmal das seltsame Geräusch im Büro seines Bruders verursacht haben, denn er wusste von der Rezeptionsdame des Tirolerhofs: Frau Armbrust hatte zu diesem Zeitpunkt die Rechnung für die chinesische Besucherin beglichen.
Aus welcher Perspektive er auch versuchte, in das mysteriöse Ableben seines Vaters Licht zu bringen, immer wieder kam er zum selben Ergebnis: Der Schlüssel war die chinesische Dame – nur sie konnte ihm erzählen, was kurz vor Vaters Tod passiert war.
Mit durchnässten Schuhen erreichte Christian das Bauernhaus. Er ging ins Arbeitszimmer und schaltete Vaters privaten Computer ein. Für einen Moment blitzte die Versuchung auf, Vaters E-Mails zu lesen, doch sofort verwarf er die Idee, denn er war sicher: Wenn Vater überhaupt via Mail relevante Informationen austauschte, so hätte er seinen Account bestens gesichert. Stattdessen googelte Christian nach „Li Hong“. Auf Deutsch fand er kein Ergebnis, nur eine News-Meldung in einer englischsprachigen Lokalzeitung: Für eine Firma namens Shanghai – Gold Eagle Enterprise hatte eine gewisse Li Hong den Ankauf einer schottischen Lodenfabrik verhandelt. Der Transfer führte zu gewalttätigen Protesten der Belegschaft. Und einem Polizeieinsatz. Möglicherweise schreckte diese Li Hong also vor harten Konfrontationen nicht zurück, viel mehr konnte Christian aus dem Artikel allerdings nicht herauslesen.
Obwohl er nicht wusste, wie spät es jetzt in Schanghai war, wählte er die Telefonnummer auf der Visitenkarte. Er probierte es mehrmals, schließlich hörte er eine schlaftrunkene Stimme. Li Hong gab sich über den Tod des Vaters erschüttert. Trotzdem hatte Christian den Eindruck, nicht der Erste zu sein, der ihr davon erzählte. Auf seine Frage, was bei Ihrem Treffen mit Vater genau passiert war, antwortete sie: „Nichts besonderes. Ihr Vater wirkte ein wenig müde.“
„Was wurde denn besprochen?“, hakte Christian nach.
„Tut mir leid, wir haben Stillschweigen vereinbart.“
„Wenn es sich um Privates handelt, wäre es besser, wenn Sie jetzt ehrlich sein würden“, appellierte Christian, „und bei Geschäftlichem sowieso!“
„Es ist hier zwei Uhr nachts, ich habe schon geschlafen und muss morgen früh raus. Gute Nacht.“ Sie legte auf. Was war so geheim, dass es nicht einmal der eigene Sohn erfahren durfte? Christian hatte den Eindruck, ihre Müdigkeit war vorgetäuscht, um das Telefonat rasch zu beenden. Lange überlegte er und rang sich zu einer Entscheidung durch; er wusste nur noch nicht, wie er es Sonja sagen sollte.
Christian fand sie im Badezimmer. Während er unterwegs gewesen war, hatte sie sich ein schwarzes Wollkleid und schwarze Strümpfe gekauft, obwohl sie Schwarz nicht mochte. Sie stand vor dem Spiegel und probierte das Kleid.
„Sieht gut aus“, sagte er.
„Irgendwie trist.“
„Soll es ja auch, oder?“
Sie zupfte das Kleid an den Schultern zurecht.
„Sonja … ich habe nachgedacht.“
Unsicher zog sie die schwarzen Strümpfe hoch und lehnte sich an die Badewanne: „Klingt nach großer Entscheidung!“ Es war ihm unangenehm: „Meine Familie sagt mir nicht die Wahrheit!“
„Deine Mama sieht nicht so aus, als würde sie lügen!“
„Schon, aber die weiß nicht viel. Vater hat ihr bestimmt nie große Geheimnisse erzählt – weil sie ein offenes Buch ist. Aber mein Bruder … der spielt mit verdeckten Karten.“ Er hockte sich vor Sonja hin, schaute ihr in die Augen: „Wenn jemand mehr zu Vaters Tod weiß, dann ist es die chinesische Dame!“
Ihre Miene wurde Sekunde für Sekunde düsterer.
Christian gab sich einen Ruck: „Ich hab mich entschlossen: Ich flieg nach Schanghai.“
„Wann?“
„Mit der nächsten Maschine.“
„Soll heißen, du lässt mich hier oder in Wien allein … und flanierst durch China?“
Er presste die Lippen aufeinander.
„Und unsere Hochzeit?“
„Verschieben wir. Um vier Wochen.“
Sie starrte ins Leere und schwieg.
„Versteh mich bitte! Ich muss einfach wissen, was genau vor Vaters Tod passiert ist!“
Ihr Gesicht sagte alles. Vorsichtig griff er nach ihren Fingern, sie zog ihre Hand zurück. Er konnte ihren abweisenden Blick kaum ertragen: „Ich kann mir nicht erklären, warum Vater in drei Tagen nach China reisen wollte. Und warum er schon mal drüben war. Heimlich! Ich frag mich die ganze Zeit: Was hat die chinesische Frau bei Vater überhaupt gemacht? Was weiß sie? Hat sie was mit Vaters Tod zu tun?“
Sonja stellte sich vor den Spiegel. Durch das kalte Neonlicht des Aliberts sah sie in dem schwarzen Kleid älter aus. Christian vermutete, sie lag mit ihrer Einschätzung richtig: Schwarz stand ihr nicht, gar nicht.
Plötzlich huschte ein sanftes Lächeln über ihr Gesicht; abrupt drehte sie sich zu ihm: „Ich komm mit!“
Der Satz traf ihn mit voller Wucht. Es war keine Frage, es war ein Entschluss.
„Ich wollte schon einmal nach Peking fliegen“, sagte sie, „vor fünf Jahren. Bin dann aber kurz vor der Reise krank geworden. Allein wirst du dort eh nicht weiterkommen!“
Er horchte in sich hinein, wollte er mit ihr reisen? Ihre Anwesenheit machte die Sache höchstwahrscheinlich nicht einfacher, Sonja verlangte permanent nach Aufmerksamkeit. Aber er konnte sie jetzt unmöglich enttäuschen, wollte nicht noch einen Nebenkriegsschauplatz eröffnen und ihm war ja klar, wie sehr sie spontane Aktionen liebte.
„Warum eigentlich nicht“, überlegte er laut, „und wenn ich in Schanghai alle Fragen geklärt habe, machen wir uns noch ein paar schöne Tage!“
Ihr Lächeln wurde breiter: „Vielleicht könnten wir auch ein Kloster besuchen. Für meine Diplomarbeit. Mich interessiert, was im Buddhismus der Begriff Himmel bedeutet.“
„Und die Hölle?“, murrte er.
Grinsend zog sie ihn zu sich und küsste ihn. Obwohl sich ihr neues Wollkleid gut anfühlte und er das Anschmiegen genoss, war er mit den Gedanken bereits auf der anderen Seite der Welt.
˘ ˘ ˘
Able bodys
Frau Armbrust hatte ihnen Express-Visa besorgt. Christian dankte ihr, denn ein Visum für China konnte eine bürokratische Herausforderung sein. Zwei Tage später wurden Christian und Sonja von Laufbändern durch gläserne Korridore geschoben. Lange bevor sie das Gate erreichten, rochen sie den Duft der Ungetüme.
Wie ein Riesenkrake hatte sich der Flughafen an der Landschaft festgekrallt. Weiße Fahrzeuge und Männer in zitronengelben Westen wuselten um wartende Maschinen, die durch dicke Schläuche Passagiere ansaugten.
Christians Handy läutete. Sein Display zeigte einen Innsbrucker Festnetzanschluss. Von seiner Suche nach einem Staatsanwalt wusste er: Es war die Nummer eines Amtes. Vermutlich Trummer. Er wollte sich jetzt nicht rechtfertigen, warum er trotz der „freundlichen Bitte“ des Kommissars Innsbruck verlassen hatte. Christian drückte den Anruf weg, zog Sonja noch schneller zum Gate. Christian liebte Flughäfen und Bahnhöfe. Schon als Kind war er heimlich nach Innsbruck gelaufen, um auf dem Bahnhof den Zügen nachzusehen, die nach Paris, Brüssel oder Budapest rollten. Immer schon hatte er eine tiefe Sehnsucht nach Ferne gehabt. Nun würde ihn ein Riesenvogel in eine der größten Metropolen der Welt bringen. Trotzdem konnte er sich nicht so recht freuen.
Der Airbus war nahezu ausgebucht. Sonja versuchte für ihren dicken Lackanorak und ihren kleinen Rucksack ausreichend Platz im Gepäckfach zu ergattern. Erneut läutete Christians Handy. Eine private Mobilnummer. Er setzte sich auf seinen Platz und hob ab.
„Krischtian? … Der Trummer erreicht di nit! Wo bist’n?“
Christian hatte Weirather seine Handynummer nicht gegeben, sie stand auch in keinem Telefonbuch. Die Polizisten mussten sie also durch eine Suchabfrage gefunden haben, das funktionierte höchstwahrscheinlich nur, wenn ein Staatsanwalt zustimmte. Beunruhigend.
„Was gibt’s denn?“
„Unsre Expertin wüll di dringend sprechn!“
Es knackte, das Handy wurde weitergereicht.
„Dr. Schöfer, guten Tag. Ich bin die zuständige Gerichtsmedizinerin und hätte da noch eine Frage. Herr Selikowsky, können Sie sich erklären, warum Ihr Vater statt der ACE-Hemmer ein Medikament namens Lariam genommen hat? Es dient zur Malariaprophylaxe.“
In Christians Kopf schossen Bilder: Vater auf Reisen. Urlaub. Italien. Strand. Doch von einer Vorliebe Vaters für Indien, Afrika und andere tropische oder subtropische Destinationen war ihm nichts bekannt.
„Lariam? … Von einer geplanten Reise in ein Malaria-Gebiet weiß ich nichts. Davon hätte mein Vater sicher erzählt! Aber wegen einer Malariaprophylaxe stirbt man doch nicht, oder?“
„Na ja“, antwortete die Gerichtsmedizinerin, „normalerweise nimmt man nur eine Pille pro Woche, weil Lariam eine hohe Halbwertszeit hat. Der Körper braucht mehrere Tage, um es abzubauen. Aber in Kombination mit Betablockern ist Lariam absolut lebensgefährlich! Es senkt die Herzfrequenz massiv ab.“
„Und warum soll mein Vater dieses Lariam genommen haben?“
„Das ist die Frage! Wenn es dafür keinen glaubwürdigen Grund gibt, können wir ein Fremdverschulden jetzt nicht mehr ausschließen.“
Während des letzten Satzes hörte Christian eine Tür zuschlagen und Schritte näher kommen. Grässlich quietschende Turnschuhe. „Grüß Gott, Herr Selikowsky. Trummer hier. Wir wissen noch nicht, wie das Giftzeug in das Blut Ihres Vaters gelangt ist. Entweder Ihr Vater hat dieses Malaria-Zeug genommen … oder über die chinesischen Glückskekserl … oder über den grünen Tee. Das untersuchen wir gerade im Labor. Aber Herr Selikowsky, wir brauchen trotzdem Ihre Hilfe! Wir haben noch einmal recherchiert: Zwei Personen waren kurz vor dem Tod Ihres Vaters längere Zeit in seiner Nähe: Die chinesische Dame und … ja … Sie!“
Eine Stewardess bedeutete Christian, das Handy abzuschalten, die Maschine sei startklar. Christian nickte, und versuchte zu verstehen: „Soll das heißen, ich bin jetzt verdächtig?“
„Nein, nein … aber wir bräuchten bitte dringend Ihre Zeugenaussage. Um den genauen Tathergang zu rekonstruieren!“
Es war ein nein zu viel.
„Meine Verlobte hat gesehen, wie ich in das Büro meines Vaters bin“, setzte Christian nach, „da war Papa schon tot!“
„Ja? … Dann bringen Sie bitte die Dame mit. In ihrem eigenen Interesse!“
Neuerlich hörte Christian ein Knacken, Weirather meldete sich: „Wär guat, wennscht gleich herkommst! Mit deina Verlobten!“
„Kann jetzt nicht.“
Während die Stewardess mahnend sein Handy fixierte, entging Christian nicht, dass Weirather im Tonfall strenger wurde. „Krischtian, hascht du gestern die Schreibtischlad von deim Vata aufbrochn?“
„Ja, aber was hat das damit …“
Der Polizist unterbrach ihn und redete auf Christian ein, als wollte er seinen pubertierenden Sohn zur Vernunft bringen: „Dann kommscht liaba glei. Oder besser: wir holn Euch ab! Wo seids’n?“ Sie hatten also den Verdacht, er könnte am Tod seines Vaters schuld sein, ihn vielleicht sogar vergiftet haben. Plötzlich war Christian sicher: Trummer hielt ihn für einen Vatermörder! Doch wie konnte er seine Unschuld beweisen, wenn jene Frau, die mit Vater die letzten Stunden verbracht hatte, 10 000 Kilometer entfernt lebte und kein Tiroler Polizist sie jemals befragen würde.
„Verdammt noch mal, wo bischtn’ du überhaupt?“, schrie Weirather.
„Unterwegs!“
„Wo?“
„Auf der Suche nach der Wahrheit“, raunte Christian, schaltete das Handy ab und gurtete sich an.
Weiter hinten im Flugzeug hatte Sonja Platz für Jacken und Handgepäck gefunden; sie setzte sich zu ihm: „Wer war das?“ „Alter Bekannter … kleiner Komiker.“ Christian drückte ihr ein Küsschen auf die Wange und versuchte zu lächeln. Misstrauisch musterte sie ihn. Die Stewardess schritt die Reihe ab und kontrollierte die Sicherheitsgurte.
Christian blickte aus dem Fenster, zwei Versorgungsfahrzeuge entfernten sich. Was würde Weirather jetzt tun, wann rollte das Flugzeug endlich zur Startbahn? Hatten die Polizisten versucht, sein Handy zu orten? Wussten sie schon, wo er sich aufhielt? Christian verfluchte sich. Warum konnte er nicht einfach so sein wie Lutz! Woraus bestand diese Kraft, die ihn ständig dazu drängte, viele Dinge anders zu machen, als es seine Familie von ihm erwartete? Besonders schlimm war es zu Weihnachten: Wenn sich alle auf das Fest freuten, verkroch er sich in sein Zimmer, zeichnete am liebsten oder las ein Buch. Je hektischer es zuging, umso ruhiger wurde er. Als Jugendlicher hatte er im Urlaub sogar noch heftiger reagiert; wenn alle am Strand lagen, zog er es vor, im Hotel zu bleiben, ein Buch zu lesen oder zu malen. Weil oft weder Vater noch Mutter seine Abgeschiedenheit akzeptierten, legte er sich Kopfschmerzen zu. Für Migräne hatte seine Mutter immer Verständnis.
Er starrte durch das Bordfenster und zuckte zusammen. Ein Polizeiwagen raste auf das Flugzeug zu. Christians Puls stieg, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Da ging ein Ruck durch den Koloss. Der Airbus bewegte sich zur Startbahn. Und stoppte erneut. Minuten passierte nichts. Der grüne Bus des Bundesgrenzschutzes hatte sie eingeholt, wechselte die Spur, fuhr um das Flugzeug herum und verschwand aus Christians Blickfeld.
Sonja zückte ihre Diplomarbeit und begann, über den Himmel zu lesen. Christian sah, wie der grüne Bus auf der Höhe des Cockpits wieder auftauchte – warum hatte die Maschine noch immer keine Freigabe? Seine Hand griff nach ihrer. Sie lächelte. Voller Vorfreude. Da begriff er, dass sie gar nicht wegen ihm mitflog. Sie hatte Gründe gefunden, warum Schanghai für sie interessant sein könnte: Der Buddhismus, ihre Diplomarbeit, Abenteuerlust, er wusste es nicht. Trotzdem war er froh, sie jetzt an seiner Seite zu spüren.
Nachdem Sonja ein paar Zeilen in ihrem Manuskript geschrieben hatte, blickte sie zu Christian: „Was ist eigentlich für dich das Paradies?“
Einen Moment verblüffte ihn die Frage, dann schmunzelte er: „Wenn ich zeichnen darf … wenn was von mir gebaut wird … wenn ich mit dir zusammen sein kann.“ Er formte einen Kussmund.
„Letzteres ist vielleicht möglich.“ Sie lachte und kam ihm nahe, ließ aber dann eine Berührung nicht zu. „Nur, wenn du mein Prinz, Diener, Liebhaber, König, Sklave, Callboy und Ritter bist!“ „Bin ich doch. Alles. Oder?“
Statt einer Antwort küsste sie ihn und wurde ernst: „Ist Paradies nicht ein Begriff, der außerhalb unseres Vorstellungsvermögens liegt?“
Auf die Schnelle konnte Christian keine ergiebige Antwort finden. Er mochte Sonjas Engagement. Wenn sie etwas interessierte, biss sie sich fest. Aber zu viele Dinge schwirrten ihm jetzt durch den Kopf. „Vielleicht ist es nur ein Gefühl, eine Sehnsucht, etwas Abstraktes?“
Er wusste, diese Antwort würde sie nicht zufrieden stellen, doch er musste dauernd an die Tiroler Polizei denken. „Ready for take off.“
Die Maschine beschleunigte, es drückte Christian in den Sitz, er atmete auf. Jetzt konnten ihn Trummer und Weirather nicht mehr stoppen. Zumindest nicht bis Schanghai.
Als das Flugzeug abhob, steckte er sich die Kopfhörer ein und hörte Bach. Er dachte über die geheimnisvolle Verbindung nach, die das Cembalo mit dem Panorama Münchens einging. Doch die Musik, die er so mochte und die ihn normalerweise in einen Zustand der Gelassenheit versetzte, beruhigte ihn nicht. Die Stadt war längst außer Sichtweite, trotzdem gab der Pilot die Anweisung, die Sicherheitsgurte nicht zu lösen: Die Maschine näherte sich einer Schlechtwetterfront. Auch die Stewardessen blieben angeschnallt. Christian und Sonja saßen am Notausgang, ihnen gegenüber eine chinesische Flugbegleiterin. Sie lächelte ihn an. Oft hatte er schon den Eindruck gehabt, Stewardessen sahen die am Notausstieg sitzenden Männer beim Start besonders charmant an. Bis er von einem befreundeten Piloten erfuhr: Die fliegenden Begleiterinnen müssen einen able body auswählen, einen Passagier in der Nähe der Tür, der fähig wirkt, sie im Notfall zu unterstützen. Das passiert durch Blickkontakt vor dem Start – ohne dass es die able bodys wissen. Diese Wahrheit hatte für ihn den Charme der Flugbegleiterinnen deutlich vermindert. Doch nun nutzte er das freundliche Lächeln: Er zeigte der Stewardess Li Hongs Visitenkarten und bat sie, ihm die Aussprache des Straßennamens beizubringen. Die Chinesin kicherte über seine Versuche, doch er übte so lange, bis sie nickte und er einigermaßen sicher war, er könne nun Straße und Bezirk der chinesischen Dame verständlich aussprechen.
Das Flugzeug durchbrach die Wolken. Kurz darauf schoben Stewardessen Trolleys durch den Gang. Essen wurde serviert. Christian empfand es als absurd, in einer Aluminiumröhre 10 000 Meter über dem Meer Wiener Schnitzel zu verspeisen.
Sonja aber genoss es. Immer öfter fragte sie sich in letzter Zeit, was nach ihrem Philosophie-Diplom passieren sollte. Sie hatte einige Möglichkeiten erwogen, keine hatte hohe Chancen auf Realisierung – ein Buch schreiben, sich für eine Assistenzstelle auf der Universität bewerben, Lebensberaterin werden. Nüchtern musste sie sich eingestehen: Sie wusste nicht, was sie wollte. Nur, was sie nicht wollte. Und sie fühlte eine tiefe Sehnsucht nach Sinn, nach Bedeutung, nach irgendetwas Eigenem. Genau genommen hatte sie die Frage nach dem nächsten Schritt verdrängt, denn Christians Absicht, sie zu heiraten, schaffte erst einmal Zeit.
˘ ˘ ˘
Seit Stunden flog die Maschine dem Sonnenuntergang hinterher. Sonja war über ihrer Diplomarbeit eingenickt, Christian konnte kein Auge zutun: Was würde Weirather jetzt tun? Nachdem die Polizisten ihn nirgendwo mehr finden konnten, mussten sie den Staatsanwalt informieren. Trummer würde alle Indizien gegen ihn auflisten und als Motiv einen Bruderzwist und einen möglichen Streit um das Familienerbe ins Feld führen. Sofern die Indizienlage ausreichend war, könnte der Staatsanwalt einen internationalen Haftbefehl beantragen. Christian ging davon aus, dass es ein Abkommen mit China gab. Die Frage war bloß, wie lange die Formalitäten benötigten. Ein solcher Antrag musste aufgesetzt, von mehreren Beamten abgezeichnet und übersetzt werden. Jetzt war es Nacht in Innsbruck, höchstwahrscheinlich hatte er einen Zeitvorsprung. Doch Christian war nicht sicher. Wenn seine Landsleute auf stur schalteten, konnten sie Berge versetzen.
Um sich abzulenken, holte er seinen Notizblock hervor und zeichnete an seinen würfelförmig verschachtelten Gebäuden weiter. Nach drei Skizzen spürte er Sonjas Blick. Sie war aufgewacht, betrachtete seine Zeichnung und schmunzelte: „Schön … aber ganz ehrlich; glaubst du wirklich, mit so einer avantgardistischen Würfelverschachtelung hast du Chancen beim Wettbewerb um die Gemeindebibliothek von Wiener Neustadt?“
Er radierte, zog einen Strich neu: „Gerade die Provinz braucht außergewöhnliche Architektur.“ Dann grinste er selbstironisch: „Außerdem sollte nach meinen 72 Bewerbungen auch so ein Wicht wie ich mal endlich unter die besten drei kommen … sogar im Roulette fällt die Kugel irgendwann mal auf die Null, oder?“
Sonja registrierte unter der Ironie seine Verzweiflung: „Ich mag dich … auch wenn deine Architektenkarriere nicht klappt!“
„Ich weiß, ein gutsituierter Unternehmersohn ist dir lieber als ein Hungerkünstler.“ Es rutschte ihm so raus, und er bereute es sofort. Doch es war die Wahrheit. „Ich hab nicht Architektur studiert, damit ich bis ans Ende meiner Tage Kuschelbären in Szene setz’!“
Statt wütend zu reagieren, schaute sie ihn nur milde an und griff zärtlich nach seiner Hand. „Christian, ich mag dich, so wie du bist.“
Sie drückte seine Hand. Fest. Sehr fest. Er wusste nicht, warum, aber er wollte ihr bedingungsloses Liebesbekenntnis jetzt nicht hören. Vielleicht weil „mögen“ nicht dasselbe wie „lieben“ bedeutete, weil die Sprache ein Verräter ist und weil er sich fragte, ob sie es wirklich ehrlich meinte. Die Menschen – ja, auch er – logen doch viel zu oft, um andere zu bestätigen, zu trösten, zu ermuntern. Die Lüge als soziales Schmiermittel konnte er nach seinem Versprechen immer schwerer ertragen.
˘ ˘ ˘
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.