Kitabı oku: «Ischgler Schnee», sayfa 2
Der Notarzt zuckte mit den Achseln und rief den Sprengelarzt an, der eine Viertelstunde später gemeinsam mit Revierinspektor Gruber und dem Hotelbesitzer eintraf. Eine kurze Leichenbeschau, dann war der Totenschein ausgestellt und die Leiche zur Beerdigung freigegeben. Der Hotelbesitzer murmelte ein Gebet, leerte danach einen doppelten Wodka und sprach der jungen Witwe sein aufrichtiges Beileid aus.
Ein paar weitere Shots später rief er seinen besten Freund, den Leichenbestatter, an, der sich um das Begräbnis kümmern würde. Der Hoteldirektor bestellte einen einfachen Holzsarg. Und ein kleines Grab an der Friedhofsmauer. Auf Kosten des Silvretta-Hotels. Gefasst murmelte der Hotelier seine Anweisungen in das Smartphone, als ob er nur das Jour-Gebäck für morgen bestellte. Dann trank er noch einen doppelten Jägermeister und zog sich in sein Apartment direkt unter dem Hoteldach zurück.
Tja, der Alkohol, murmelte er vor sich hin, als er die Treppe zu seinem Apartment hochging, die Leute saufen einfach zu viel, und auch der Laszlo hat gerne das scharfe Zeug hinuntergekippt. Ein braver Buckler, aber auch jemand, der sich über alle übriggebliebenen Gläser hermachte. Die sogenannten »Hansl« aussoff. Der Herr sei ihm gnädig.
Der Hoteldirektor deutete ein Kreuzzeichen an und verschwand hinter der Eichentür seiner Privatwohnung.
Nur ein Alkoholunfall, würde er zu seiner Ehefrau sagen, den Laszlo hat es auf dem Weg ins Badezimmer erwischt. Ein schwerer Herzinfarkt höchstwahrscheinlich.
Seltsam, würde seine Ehefrau antworten, gerade der Laszlo, der hat doch immer überall angepackt und niemals über irgendwelche Schmerzen geklagt.
So etwas kann schnell gehen, antwortete der Hoteldirektor und zog die Decke über. Er hat eben vor der Zeit die Erde verlassen. Aber immerhin bezahle ich das Begräbnis.
Und seine Ehefrau, die Agathe?
Trägt es mit Fassung. Es bleibt ihr auch nichts anderes übrig.
Die Arme.
Ja, aber was soll’s. Den Laszlo hat ja keiner umgebracht. Der Herrgott hat es so wollen.
Dann wird es auch gut sein, seufzte die Ehefrau und las noch ein paar Zeilen in der Hausbibel.
Ein Toter im Haus bedeutete Unglück. Am Anfang der Wintersaison noch dazu. Wer weiß, was in den folgenden Wochen noch alles auf Ischgl zukommen würde. Irgendwie erinnerte der Ort immer mehr an einen aus der Umlaufbahn geratenen Planeten, der geradewegs ins Nichts stürzte.
Wenn das heuer nur gutgeht, seufzte sie und drehte sich zur Seite, um wieder einschlafen zu können.
Der Unterwurzacher wird die Messe lesen.
War Laszlo überhaupt katholisch?
Ich glaube schon. Und wenn nicht, auch egal. Eine katholische Messe hat noch keinem geschadet.
Ist die neue Orgel schon fertig?
Was?
Unsere Orgel. Die wird ja gerade renoviert in der Kirche. Wir haben schon im Herbst dafür gespendet.
Ich glaube nicht. Den Lieferwagen vom Notdurfter habe ich noch heute vor der Kirche herumstehen gesehen.
Dann wird wohl der Singkreis die Messe gestalten.
Ja, sicher, der Singkreis. Oder die Posaunen des Dorforchesters. Irgendwer wird schon musizieren. Und wenn ich die Zwei Strawanzer von unserer Hotelbar anheuern müsste. Irgendein Musiker findet sich immer. Feierabend oder Wann ich gehen muss kann ja jeder Idiot spielen.
Der Hotelier löschte das Licht. Draußen auf der Dorfstraße fuhren die Einsatzfahrzeuge weg, und das kreisende Blaulicht verschwand in der Dunkelheit. Danach waren nur noch der kalte Nachtwind zu hören und das gelassene Atmen zweier schlafender Ischgler Gastronomen.
*
Erzählen Sie mir nicht, dass Sie Ihre Frau noch immer auf Händen tragen, dass Sie stolz auf Ihre zwei Kinder und die 120 Quadratmeter Eigenheim sind. Ich kann diese verlogene Leier vom idyllischen Familienleben nicht mehr hören. Nehmen Sie meine Familie, die jetzt um 7 Uhr früh an diesem runden Tisch sitzt. Als ich 16 war, habe ich mich in Fabienne verknallt, und da ich beharrlich genug und ein hübscher Junge aus gar nicht so schlechtem Haus war, hatte sie dagegen nichts einzuwenden gehabt. Irgendwie hatte sie ebenfalls Lust, mit diesem schlaksigen Jungen namens Patrick zu gehen, mit ihm Sex zu haben, und zwar nicht nur ein-, zweimal in der Woche, sondern regelmäßig, richtig oft sogar, und das nicht nur in ihrem pastellfarbenen Zimmer, sondern auch draußen im Wald oder im Stadtpark, hinter dichten Sträuchern oder hohen Plakatwänden.
In der Oberstufe war ich heiß wie ein ständig beheizter Hochofen, aber das alles, sage ich Ihnen, ist längst geschmolzener Schnee: Du heiratest in einer Provinzkirche und wirst Vater von zwei Jungs, die heute 17 und 14 sind, und das ganze Drama läuft vor deinen Blicken noch einmal ab. Der Ältere ist ein durchtriebener Bursche, der alles und jeden manipuliert, der viel zu schnell redet und nach Wodka, Zigaretten und ersten Joints stinkt, er soll sogar härtere Drogen nehmen, aber das ist mir egal, solange er mit dem Lyzeum zurechtkommt. Irgendwie ist der Junge eine perfekte Kopie meiner Selbst, fehlt nur noch, dass er sich auch in ein Mädchen mit langen blonden Haaren und schönen Titten verliebt, aber ich weiß nicht, heutzutage verlieben sich die jungen Leute nicht mehr so, sie sind oberflächlicher, unangreifbarer geworden, suchen einfach nicht mehr nach dem Glück und greifen vielleicht deshalb nicht so leicht in die Scheiße.
Neben ihm sitzt Antoine, still und verträumt, drei Jahre jünger, aber doch Welten vom älteren Bruder entfernt: Die Pubertät hat noch keine tiefen Gräben in seiner Kinderseele hinterlassen, aber vielleicht blicke ich bei Antoine auch nur verzweifelt ins Leere, er ist ein sanfter, ruhiger Junge mit blonden in der Mitte gescheitelten Haaren, am liebsten trägt er langweilige Cordhosen, einfarbige Polos mit aufgestellten Krägen und diese Cardigans, die kaum jemand freiwillig anzieht. Antoine ist ein richtiger Vintage-Junge, der mit seinem Schmollmund und dem strahlenden Blick alle Leute in seiner Umgebung bezirzt, man kann ihm einfach nicht böse sein, ganz im Gegenteil, wenn er mich so ansieht, habe ich das Gefühl, dass mich ein Mädchen anschaut und lächelt.
Vielleicht verguckt sich Antoine lieber in andere Jungs, ich habe mit Fabienne schon darüber gesprochen, der Kleine könne schwul werden, verstehst du, er sieht wie ein Mädchen aus, trägt immer diese idiotischen Cordhosen und starrt – da bin ich mir sicher – die anderen Jungs an, die Jungs aus seiner Klasse oder irgendwelche Kerle in der U-Bahn, er mustert sogar mich mit diesem stechenden Bergseeblick, dem Schmollmund und den halb offenen Lippen …
Krieg dich wieder ein, versucht mich Fabienne zu beruhigen, Antoine ist doch gerade erst 14, er denkt noch nicht an solche Dinge, aber wenn du willst, melden wir ihn in einer Taekwondo-Schule an, damit er sich unter anderen Jungs durchzusetzen lernt.
Keine schlechte Idee, grinse ich, drehe mich auf die andere Seite in unserem Treca-de-Paris-Doppelbett und denke mir, typisch Fabienne: Sie hat für jedes Problem eine pragmatische Lösung parat. Du glaubst, Antoine ist schwul? Dann melde ihn einfach zu einem Vollkontakt-Karatekurs an oder schicke ihn in den noblen Schwimmverein von Paris Saint Germain, damit sich der knieweiche Junge in einen durchtrainierten Sportler verwandelt.
Nachts um 3 Uhr stehe ich auf, trinke ein Glas Mineralwasser in der riesigen Küche und denke, nichts wie raus aus dieser Familie. Fabienne ist eine andere Frau geworden, eine, die mit mir als ihrem Lebenspartner abgeschlossen hat, sie betreibt einen Day-Spa in der Avenue Kleber und hat vielleicht bereits eine Affäre mit einem marokkanischen Fahrradboten begonnen, vielleicht bumst er Fabienne im Stehen, nachdem er ein Amazon-Paket oder drei Pizzen abgeliefert hat, eine Quattro Stagioni, eine Diavola, eine Margarita mit Nüssen und Basilikum, die drei Fladen liegen übereinander in Pappkartonschachteln, und Mohammed – die Marokkaner heißen fast immer Mohammed – zieht grinsend seine dreckigen Jeans herunter und sein Riesending wippt ins Freie, nein, mach es nicht, flüstert Fabienne und meint das Gegenteil, dreht sich um, beugt sich über die Bulthaup-Kücheninsel und lässt sich durchknallen, drei, vier Minuten lang, dann ist alles vorbei, und Mohammed geht mit einem extra Fünfziger in der Hosentasche zur Tür hinaus.
Fabienne sieht ihm nach, kämpft mit den Tränen, kämpft mit sich und ihren Leidenschaften, verdammt, meine Hand bricht das Wasserglas entzwei, und Blut strömt über Daumen und Zeigefinger, und ich verdrücke mich in unser riesiges Marmorbad, das ein Vermögen gekostet hat, ich klatsche mir ein Pflaster auf die Wunde und denke an die Glasscherben in unserer Küche.
So sieht es aus, unser großartiges Familienleben, und wenn ich abends bei einem After-Work-Bier mit den anderen rede, ist überall dieselbe Kacke am Dampfen: Familien, die auseinanderfallen oder ineinander geraten, gelangweilte Ehefrauen, die sich die angehäufte Leer-Zeit mit Aerobic, Tennis oder auf dem Golfplatz vertreiben, die sich in einem Designhotel die Falten der Vergangenheit wegmachen lassen, angeblich für ihren Ehemann, also für dich, Patrick, nur für dich, für wen denn sonst, ja genau, der marokkanische Pizzajunge sieht dich ja nicht einmal an, der kommt einfach und bumst dich am Küchentisch durch, und danach trinkst du ein Gläschen Champagner und fühlst dich befriedigt und nicht mehr so verdammt einsam – ein 44-jähriges Mädchen, das seinen Spaß gehabt hat, und wenn es nur mit diesem Mohammed aus der Pizzeria Bella Napoli war.
Irgendwie wollen wir alle nur unseren Spaß und laufen ins Leere dabei, wir amüsieren uns, gieren nach dem Geld und richten uns in diesem Leben ein, als hätten wir einen 100-jährigen Mietvertrag mit uns selbst abgeschlossen. Ich bin 47, verheiratet, habe zwei Kinder, ich verdiene als Teilhaber von Real Estate de Paris ein paar 100.000 Euros im Jahr, wir vermitteln ausschließlich teure Penthäuser und edle Privatvillen, verkaufen die richtig guten Lagen an russische Oligarchen und reich gewordene Asiaten, die meisten von ihnen kennen Frankreich kaum, aber sie wollen hier leben, koste es, was es wolle, die Privatschulen, der Champagner, die Rotweine und der Käse sind gut, also zieht es die Milliardäre hierher, in das 16. Arrondissement – Rue Lauriston, Trocadero, Champs-Élysées-Nähe – es ist immer dasselbe, als ob Paris nur aus diesen drei Straßenzügen und dem frühen 20. Jahrhundert bestünde: aus Französischem Jugendstil, Van Gogh und dem langsam schwächer werdenden Geruch nach Absinth.
*
Hey, ich heiße Antoine, 14 Jahre alt und lebe mitten in Paris, im 16. Arrondissement. Mein Vater ist Immobilienmakler, ein ziemlich erfolgreicher sogar. Er verschachert die halbe Stadt an Russen oder Chinesen, an Leute aus aller Welt, wenn sie nur genug Kohle haben. Wenn er eine Belle-Époque-Wohnung um zehn Millionen an einen Oligarchen aus dem Osten verkauft, streicht er selber ein paar Prozent ein, also ziemlich viel Kohle. Kein Wunder, dass unsere Familie auch in einem dieser Häuser aus dem 19. Jahrhundert wohnt: außen Geschichte, innen Gegenwart – und nirgendwo Zukunft. 250 Quadratmeter Paris, mit Blick auf diese Ölplattform – den Eiffelturm – ein grauenhaftes dunkles Monster aus Stahl.
Meine Mutter ist Ernährungswissenschaftlerin und betreibt ein Tages-Spa namens »Madeleine« in der Nähe, nach ihrem zweiten Vornamen benannt. Ganz genau heißt Mama Fabienne Madeleine de Bruyere, und bereits ihr Nachname drückt aus, dass ihre Vorfahren schon immer reich gewesen sein mussten. Die Familie von meinem Vater ist viel bescheidener und stammt aus Caen, wo es Calvados, Cidre und Camembert gibt und jede Menge Langeweile. Der Vater meiner Mutter dagegen war ein Industrieller, der ständig eine Zigarre im Mund hatte und ziemlich viel Cognac und Champagner trank, der mich bis zu seinem Tod wie ein Stück Dreck musterte und nie ein gutes Haar an mir ließ.
Der Kleine hat weder Kraft noch Durchsetzungsvermögen, grunzte er meiner Mutter entgegen, ein Schwein im Nadelstreif, das glaubte, eine Art Gott zu sein, ein Provinzkönig, der keinen Widerspruch duldete. Nicht einmal vom Präsidenten der Republik wahrscheinlich.
Genau aus diesem Grund musste mein Vater den Familiennamen seines Schwiegervaters annehmen. Das mit dem mangelnden Durchsetzungsvermögen stimmt allerdings. Ich bin weich und sanft und kann kaum Nein sagen. Ich bin gut erzogen und weich wie eine Molluske, ich habe kein Ich oder ein anderes Kraftzentrum aus Arroganz, das mein Vater wie eine unsichtbare Burg in sich aufgetürmt hat: Als Dad ein Teenager war, hat er Rugby gespielt, erst in der Jugendmannschaft, dann in der Ersten, und manchmal spielt er noch immer bei den Alten Herren von Caen, falls er einmal ein ganzes Wochenende lang Zeit hat. Durch das Rugby ist mein Dad hart und unverletzbar geworden, und er hat diese unberechenbar kalten Augen bekommen, diesen Blick, der einen durchdringt wie ein Schwert. Ich glaube, dass er sich den Blick von seinem Schwiegervater geborgt und mit den Erfahrungen aus dem Rugby gekreuzt hat, irgendeine schräge Mischung aus Härte und Unnachgiebigkeit und kühler Arroganz.
Mein älterer Bruder heißt Patrick wie mein Vater und sieht auch ganz ähnlich aus, derselbe arrogante Kerl minus Lebenserfahrung, Studium und Sex, naja, ficken tut er vermutlich schon, ziemlich sicher sogar. Auf jeden Fall hat er bereits denselben kalten Blick wie sein Alter, und er dealt mit allem möglichen Zeug, soweit ich das mitbekommen habe, jedenfalls schwänzt er mittlerweile heimlich die tolle höhere Schule, in die ihn seine Alten reingesetzt haben, dieselbe Schule, die ich auch besuche und die Leute wie Marcel Proust, Henri de Toulouse-Lautrec und ein paar Französische Spitzenpolitiker hervorgebracht hat, eine Schule der großen Namen aus Literatur, Malerei, dem Kriegswesen oder auch der Politik, eine Schule, in der heute die Hälfte aller Schüler Ausländer sind, aber nicht aus Algerien, Marokko oder den anderen ehemaligen Kolonialgebieten, sondern aus Russland, China, Großbritannien, der Schweiz, aus jenen Ländern also, wo die Kohle und die Korruption und der Wirtschaftsaufschwung vor sich hin blubbern wie fette Schmutzblasen.
Auch wenn ich seit diesem Herbst dieses teure Lycée besuche, werde ich garantiert kein neuer Proust oder Toulouse-Lautrec oder auch nur der übernächste Premierminister der Republik werden. Ich habe – wie mein Großvater mütterlicherseits vorher gesagt hat – weder Kraft noch Durchsetzungsvermögen, ich prügle mich nicht mit den anderen Jungs, finde Fußball langweilig und tanze lieber klassisches Ballett in der Eleven-Klasse der Opéra de Garnier, aber keine Sorge, ein hoch bezahlter Solotänzer des Französischen Nationalballetts werde ich ebenso wenig werden, weil meine Kumpels Mo und Rod schon jetzt um Längen besser tanzen als ich.
Moment, ihr kennt die beiden noch nicht: Mo heißt Mohammed und kommt aus dem Banlieue, sein Vater ist noch in Marokko geboren, und zu Hause sind noch sechs andere Geschwister, glaube ich, vier Mädels, zwei Jungs, in einer 70 Quadratmeter kleinen Wohnung. Mo ist ein Super-Bewegungstalent, geschmeidig, glatt, motorisch unglaublich begabt, ich denke, Mo wird das Rennen machen unter uns, entweder Mo oder Rod, der geborener Mexikaner ist, ebenfalls 14 und ziemlich klein, dafür mit einer Sprungkraft wie ein Watussikrieger ausgestattet, einer, der aus dem Stand einen Meter hoch springen kann.
Wir drei sind die einzigen Jungs unter 35 Mädchen, alle so zwischen zwölf und 15 und mit demselben arroganten Oberen-Mittelklasse-Blick ausgestattet, blass und dünn und krank vor Sehnsucht, vor den Eisernen Vorhang des Opernhauses zu treten und die Solorolle im Nussknacker, in Schwanensee oder in Giselle zu tanzen, an der Seite von Talenten wie Mo oder Rod oder irgendeinem Nachwuchsstar aus Russland, wo immer noch die besten Tänzer der Welt herkommen, Sergej oder Piotr oder Wladimir oder wie sie sonst alle heißen.
Letzten Sommer war ich in einem Trainingscamp im Moskau. Es war eine Niederlage, weil ich dort mitbekommen habe, dass ich nicht zu den besten Nachwuchstalenten gehöre. Anstelle eines selbstbewussten Lächelns im Gesicht bin ich mit nach unten hängenden Mundwinkeln zurück nach Paris geflogen, ein Versager auf hohem Niveau, der sich schon bald vom klassischen Ballett verabschieden müsste, ohne etwas richtig Großes geworden zu sein. Vielleicht wird es für die Provinz reichen. Schließlich gibt es in Marseille, Lyon oder Caen auch Opernhäuser.
Ich blicke aus dem Fenster unserer Wohnung und betrachte das rostige Stahlmonster, das sogenannte Wahrzeichen von Paris, das Aushängeschild des industriellen Zeitalters, in dem alles möglich schien, jedes noch so große Bauwerk, jede noch so schnelle Eisenbahn, jedes noch so riesige Weinfass. Ich starre aus einer Wohnung, für die ein Russe oder Chinese oder Südamerikaner 15 Millionen Euro und mehr hinlegen würde, 15 Millionen, unglaublich, ich kriege eine Gänsehaut dabei, und dann muss ich lachen, nehme meinen 500-Euro-Rucksack und haue ab Richtung Opernstudio, wo ich meine Préparation, meine Figuren, mein scheiß Übungsprogramm durchmachen werde, so gehorsam wie chancenlos, jemals eine Solorolle in einer richtig großen Produktion zu bekommen.
Eigentlich hätte ich lieber im 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt. Als die Modernisten die geilsten Bilder der Welt gemalt und sich dabei mit Absinth um den Verstand gesoffen haben, während in irgendeinem finsteren Hotelzimmer Hemingway seine ersten Romane und in einem Straßencafé Jacques Doriot faschistische Ideen zu Papier brachten, 70 oder 80 Jahre vom Tod Baudelaires entfernt, der nicht unweit von hier an seinen Blumen des Bösen gefeilt hat, einer wilden Gedichtsammlung über den schlimmsten Abschaum der Welt, aber in hochklassige Rhythmen und edle Reime gehüllt wie in einen teuren Seidenanzug.
Irgendwie ist es 19.30 Uhr geworden. Ich habe mein Trainingsprogramm im Ballettstudio absolviert und gucke mir vor den Umkleidekästchen Mos durchtrainierten Körper an. Ich habe Lust auf diese Muskeln, möchte die seidenweiche Haut über den Rippen streicheln, berühren, liebkosen, möchte seinen braunen Schwanz im Mund haben, ohne besondere Hintergedanken, einfach aus einer Laune heraus. Natürlich passiert nichts. Außer, dass mich Mo erstaunt fragt, warum ich ihn so blöd anstarre.
Kleinlaut verdrücke ich mich auf die Toilette, hole mir dort einen herunter und hasse mich, wie man nur etwas auf dieser Welt hassen kann, ich will raus aus meinen Fantasien, raus aus meinem Körper, raus aus dieser Zeit, dieser Welt, dieser 15-Millionen-Euro-Wohnung und dieser geldgeilen Kleinfamilie, die nur gewinnen will, jeder in seinem eigenen kleinen Königsreich: mein Vater in seiner Immo-Welt, meine Mutter in ihrem Ayurweda-Tempel – und mein Bruder in seinem Crystal-Meth-Paradies, drei verlorene Piraten, die auf einem vergoldeten Floß Richtung Untergang treiben.
Fernab von ihnen bin ich mir selber überlassen: ein schiffbrüchiger Junge zwischen vereister Vergangenheit und unsicherer Zukunft, in einem Jetzt ohne Kontur, ohne Raum oder Zeit, verloren wie Saint-Exupérys Kleiner Prinz auf seinem verdammten Miniplaneten, einsamer noch als jeder abgedankte König oder ein sich selber verloren gegangener Gott, einsamer als jeder Poet, jeder Künstler und jeder Wahnsinnige in seiner Zelle, einsamer noch als der Häftling, der morgen um 5 Uhr hingerichtet werden wird, weil er an die falschen Ideen geglaubt oder auch nur ein Suppenhuhn gestohlen oder das Wissen über die maßlose Überwachung an die Öffentlichkeit weitergegeben hat – einsamer als alles, was sich als einsam vorstellen lässt. Zumindest wenn man vierzehneinhalb ist und in der Metro auf dem Weg nach Hause hockt und aus den Augenwinkeln verstohlen all jene Leute betrachtet, die meinen Weg kreuzen, ohne mich wahrzunehmen oder mich je zu berühren.
*
Patergassen hieß der Ort, in dem Lizzy aufgewachsen war und wo ihre Eltern immer noch lebten. Sie besaßen einen Bergbauernhof auf 1.200 Metern Seehöhe. Gute Luft und klares Wasser gab es hier reichlich. Im Stall standen 20 Stück Vieh, und die umliegenden Wiesen waren so steil wie eine Flugschanzenanlage. Lizzys Eltern produzierten Bergbauernmilch, Schafkäse und das berühmte Gurktaler Almochsenfleisch. Manchmal kamen alternativ aussehende Kleinhändler aus Salzburg oder Wien vorbei und holten die biologisch produzierten Lebensmittel ab, die in den Städten zu horrenden Preisen verkauft werden konnten. Lizzy kamen die Leute wie ehemalige Hedgefonds-Manager vor, die nichts anrührten, was nicht wenigstens einen Rohaufschlag von 1.000 Prozent versprach. Demnächst würden sie das Bergquellwasser in kleine Flakons abfüllen und damit einen neuen Wucherpreisrekord aufstellen.
Nach der Sommersaison verbrachte Lizzy einige Herbstwochen am elterlichen Bauernhof. Sie bezog ihr Arbeitslosengeld und half am Wochenende in einer Disco im nahe gelegenen Reichenau aus, einem Schuppen, der Cockpit hieß und mindestens 50 Jahre alt war. Die Inneneinrichtung erinnerte an einen Opel Manta aus den frühen 70er-Jahren, alles war in schwarzem, längst ruiniertem Nappaleder gehalten, mit gewaltigen Rückspiegeln und mindestens 200 Sportlenkrädern aus dem Mesozoikum des Automobilrennsports an den holzgetäfelten Wänden. Als Lizzys Eltern jung gewesen waren, mochte die biedere Landdisco wie ein Raumschiff aus der Zukunft gewirkt haben, jetzt aber erinnerte das abgewohnte und mit einer Patina aus Rauch, eingetrockneten DNA-Spuren und verschüttetem Alkohol überzogene Dekor nur noch an eine billige Grottenbahn aus der Vorvergangenheit. Das Cockpit hatte ausschließlich am Freitag und Samstag geöffnet, und da war die Hütte einigermaßen voll. Anstelle von Schlagergrößen und Kärntner Lokalgrößen der späten 70er-Jahre – die inzwischen allesamt tot waren, deren Konterfeis aber noch immer in ausgebleichten Farben die Wände verzierten – lungerten Mittelschüler, Lehrlinge und Berufssoldaten herum und warteten auf die wenigen Mädchen, die sich in diese Bude verirrten. In dieser Grottenbahn war die Zeit um das Jahr 1977 stehen geblieben.
Lizzy stand hinter dem Tresen und füllte die Jungs ab. Sie mochte das Rudel betrunkener Eristoff-Wölfe, die sich den Frust einer harten Arbeitswoche wegtranken und ab Mitternacht kaum mehr auf ihren wacklig gewordenen Beinen stehen konnten. Wenn ihr einer gefiel, knöpfte sie sich die Bluse auf, ließ den Bauernbuben ein bisschen schauen und ging dann wie zufällig ins Freie. Wenn der Junge noch nicht ganz abgefüllt war, kam er nach und tat so, als würde er pissen. Lizzy ging in die Knie und befriedigte den notgeilen Kerl, bis er kam. Die Jungs hier hatten wenig Auswahl und waren dankbar für jedes geile Erlebnis im Freien. Das Blaskonzert dauerte höchstens fünf Minuten, dann war der Junge wieder verschwunden und pisste am Herrenklo das zuvor geleerte Bier in den Rinnstein.
Lizzy wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und betrachtete kurz das Tattoo auf ihrem rechten Unterarm, eine grüne Eidechse. Grün war ihre Lieblingsfarbe, und Eidechse hieß auf Englisch »Lizard«. Sie waren sehr flinke Tiere, die jedes Hindernis im Nu überwanden. Mit einem -z (oder noch besser mit zwei) und einem -y sah sogar ein langweiliger Vorname wie Lisi richtig gefährlich aus. Wie der Name einer Dragqueen oder der Leadsängerin einer durchgeknallten Goth-Metal-Gruppe.
Lizzy rauchte ihre Zigarette zu Ende und ging seufzend zu den Biergläsern, den mehr als verzweifelten Herrenwitzen und den saufenden Dorfbuben rund um den Tresen zurück.
Als Lizzy um 4.30 Uhr die letzten Gläser spülte und eine vorletzte Zigarette rauchte, saß noch ein Junge an der Bar, vielleicht 19 Jahre alt, lange braune Haare, ein Meter 90 groß und extrem schlank. Ein viel zu groß geratenes Kind mit riesigen Augen und geschätzten dreieinhalb Promille in den Blutbahnen. Er wollte irgendwas erzählen, irgendwas von sich geben, aber seine Lippen brachten kein gerades Wort mehr heraus.
Zahlen, lallte er schließlich und warf Lizzy einen Zwanziger über den Tresen, passt schon, grinste er und stolperte in die Nacht hinaus.
Lizzy hörte einen Verbrennungsmotor aufheulen und vier Räder auf dem Kiesweg vor dem Lokal durchdrehen, der Golf GTI wendete viel zu schnell, und das aufgedrehte Fernlicht schwenkte wie ein Suchscheinwerfer durch das Lokal.
Zehn Minuten später war der betrunkene Junge tot. Lizzy erinnerte sich noch gut an ihn. Ein paar Stunden vor dem Frontalzusammenstoß auf der Turracher Bundesstraße hatte sie ihm zwischen den parkenden Fahrzeugen einen geblasen.
Auf dem Begräbnis für den toten Jungen – 20 Leute, der vergreiste Dorfpfarrer, ein paar dauergrinsende Ministranten – piepste das Handy in Lizzys Handtasche. Genau in dem Moment, als der Sarg in die fette Gurktaler Erde versenkt wurde. Die Leute starrten einander finster an, und die Mutter des toten Jungen begann laut zu schluchzen. An der Friedhofsmauer lehnten vier Musiker der Blaskapelle und tranken das erste Krügel Villacher Bier. Lizzy ging ein paar Gräberzeilen weiter und holte das Smartphone heraus. Fritz hatte angerufen, der Hoteldirektor aus Ischgl.
Kommst du heuer wieder zu uns, lautete seine Voicemail-Botschaft.
Lizzy warf einen Blick auf den Totengräber, der die Erde auf den Eichensarg zu schippen begann. Die Trauergemeinde verzog sich ins Wirtshaus, die zwei Kränze – In tiefer Trauer, Deine Familie – wurden auf den Grabhügel gelegt. Das Leben war für den Jungen mit den traurigen Augen vorbei.
Klar komm ich wieder zu euch, tippte Lizzy ins Handy und schickte die Kurznachricht ab.
Keine zwei Sekunden kam eine Antwort zurück. Sie bestand, typisch Fritz, aus einem einzigen Wort: Passt. Ohne lg. Ohne Fritz. Lizzy lächelte und rauchte eine Zigarette. Sie war froh, dass sie in wenigen Wochen wieder abreisen konnte, in ihrem Nissan Micra, mit zwei Sporttaschen, den Carving-Skiern und zwei Stangen slowenische Marlboro auf der Rückbank. Sie gehörte nicht mehr nach Patergassen, sie gehörte auch nicht nach Velden oder nach Ischgl, sie war einfach nirgendwo mehr zu Hause. Oder überall, wie sie sagte. Aber das war immer auch nirgends.
*
Ischgl, 11. Dezember
Es ist der Alkohol. Es sind die Drogen. Und es ist der vor- und außereheliche Geschlechtsverkehr. Diese Raubtiereinstellung von Alpha-Existenzen, die eigentlich Omega-Viecherln sind. Christliche Werte werden mit den Füßen getreten. Und das Ergebnis sehen Sie hier.
Pfarrer Unterwurzacher nickte mit seinem Kinn auf die fünf aufgebahrten Särge hinüber, in denen Urlauber aus Polen, Bulgarien und Deutschland lagen. Tote, die nicht sehr alt geworden waren. 35, 38, 43, 52, 22. Was wie eine Bingo-Zahlenreihe aussah, war das Alter der aufgefundenen Leichen. Die Todesursachen lauteten Herzstillstand, Polytoxischer Infarkt, Langzeitdiabetes und Spuren von Aufputschmitteln in fast allen aufgefundenen Leichen.
Was ich gesagt habe: ein Lotterleben, das vor der Zeit geendet hat. Wenn das nicht ein Zeichen von oben ist. Was meinen Sie, lieber Revierinspektor?
Gruber nahm seine Dienstkappe ab und machte ein paar Kreuzzeichen auf der Stirn und den Wangen. Er zuckte mit den Achseln und starrte auf die fünf Särge vor ihm. Vier würden noch am selben Nachmittag von den Leichenbeschauern aus den Ursprungsländern der Touristen abgeholt werden, aber der fünfte Tote dürfte erst in drei Tagen abtransportiert werden. In einer Mappe hielt Gruber die ausgestellten Totenscheine bereit, die er Pfarrer Unterwurzacher übergeben wollte. Der Sprengelarzt hatte keine besonderen Auffälligkeiten festgestellt. Die Leichen waren zur Beerdigung freigegeben, und die Angehörigen der Toten hatten bereits entsprechende Aufträge zur Abholung der Leichen erteilt.
Es wird immer wilder da draußen, murmelte Gruber, gestern Nacht wurden 13 Alkoholvergiftungen festgestellt, das Krankenhaus in Zams quillt schon über vor Leuten, die mehrere Liter über den Durst getrunken haben. Als ob es eine Massenseuche wäre. Dabei ist es nur ein Riesengeschäft.
Ein Geschäft mit armseligen Vollidioten, die im Rausch ihren einzigen Lebensinhalt sehen.
Pfarrer Unterwurzacher seufzte, drehte sich um und sprach ein paar Fürbitten, bevor er jeden einzelnen Holzsarg mit Weihwasser besprengte und allen Toten den letzten Segen gab.
Mir persönlich ist es egal, wenn sich die Leute zu Tode saufen. Ich segne alle Sünder, Gott sei ihnen gnädig. Und dennoch. Immer mehr Leute scheinen in Ischgl zu sterben. Ich kann mich nicht daran erinnern, hier jemals fünf Särge auf einmal gesehen zu haben. Außer bei diesem Verkehrsunfall vor acht Jahren. Alkohol und Drogen waren auch dort die Ursache gewesen, wenn mich meine Erinnerung nicht ganz im Stich lässt.
Gruber nickte und sah durch die Kirchenfenster nach draußen, zu den Dächern des Skiortes und der Seilbahn hinüber. Die Gondeln fuhren auf und ab, als ob nichts gewesen wäre. Und es war auch wenig passiert. Außer das Vorhersehbare. Die Massenbesäufnisse in den Après-Ski-Lokalen und Nachtklubs forderten ihren Tribut. Es schien ein Krieg zu sein, in den jeder freiwillig zog, mit riesiger Begeisterung und noch größerer Gier nach Alkohol, leichten Tänzerinnen und heftigen Drogen.
Dennoch sind es einige Tote zu viel, seufzte Gruber, wir haben kaum mehr Touristen als in den vergangenen Jahren, aber ein zweistelliges Plus an Toten. Ist das nicht seltsam?
Die Leute vertragen weniger und kippen mehr hinunter. Das rächt sich irgendwann, antwortete Pfarrer Unterwurzacher und griff nach den Totenscheinen, die ihm Revierinspektor Gruber hinhielt.
Das sind aber nur vier Totenscheine.
Die fünfte Leiche wird erst in drei Tagen abgeholt.
Ich verstehe. Dann behalten Sie den Schein vorerst noch?
Genau das habe ich vor.
Pfarrer Unterwurzacher nickte, verstaute die vier Totenscheine in einer Klarsichthülle und verabschiedete sich von Revierinspektor Gruber.
Dann auf bald, mein Lieber.
Ihnen auch alles Gute, Herr Pfarrer.