Kitabı oku: «Ischgler Schnee», sayfa 3
Räumen Sie endlich mit den Zuständen hier auf.
Das ist nicht so leicht, wie Sie wissen. Die Millionen Nächtigungen, die Seilbahngesellschaft, der Tourismusverband. Die Adler-Runde, mit einem Wort.
Ich verstehe, lächelte Pfarrer Unterwurzacher, es ist einfach das Geld, das die Leute verdirbt. Deren Seelen vergiftet und das Denken zerstört.
Moralisch gesehen haben Sie recht, Herr Pfarrer, lächelte Gruber und sah dem Geistlichen nach, der hinter einem schwarzen Vorhang verschwand.
Der Inspektor wartete noch ein paar Augenblicke, drehte sich nach allen Seiten um und holte den Totenschein für die fünfte aufgebahrte Leiche heraus. Diagnose: Herzstillstand. Leiche zur Beerdigung freigegeben. Alles an diesem Todesfall schien unverdächtig zu sein. Und trotzdem: Der Tote war erst 22 Jahre alt. Genauso jung wie Grubers einziger Sohn. Der Revierinspektor holte einen Kugelschreiber aus der Uniformjacke, sah zum Gekreuzigten über dem Altar hinauf und wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. Dann setzte er ein Fragezeichen hinter der Diagnose. Und fügte »Obduktion zur Abklärung der Todesursache« hinzu.
*
Ich heiße Dominique, aber die meisten nennen mich Jason. Nicht Dominique LaCroix, wie es im Reisepass steht, sondern Jason, das Model. Ein Meter 86 groß, 63 Kilo leicht, Haarfarbe rotblond, stechend blaue Augen, 19 Jahre alt. Am dritten Januar 2000 geboren. Ein Milleniumskind. Ich bin in einer kleinen Stadt in der Normandie groß geworden als Sohn einer Mittelschullehrerin und eines Architekten. Es war eine behütete Kindheit mit viel Sport und etwas Kultur. Das ganze traurige Programm einer Kleinstadtidylle. Kurz vor meinem 18. Geburtstag las ich das Inserat einer Modelagentur, ich weiß nicht einmal mehr, auf welcher Webseite. Ich notierte mir die Telefonnummer und benötigte drei doppelte Calvados, bevor ich mich anzurufen traute.
Die Folge waren drei Emails, zwei Rückrufe und ein Vorstellungstermin – zweieinhalb Wochen später hatte ich meinen Vertrag. Schon wenige Tage nach dem Abitur übersiedelte ich nach Paris, zuerst in die frühere Wohnung meiner Eltern und ein paar Monate später in ein modernes Apartment in der Avenue Montaigne. Erstens wollte ich möglichst rasch selbstständig werden, und zweitens erinnerten mich die alten Möbel und die dunklen Wände der ersten Wohnung an die längst vergangene Jugend meiner Eltern. Ein Nachwuchsmodel passte jedenfalls nicht in diese traurigen Räume, die vor Vergangenheit troffen und nach den Idealen von gestern stanken.
Ich suchte mir ein Studio, das hell und irgendwie postmodern eingerichtet war, eine Orgie aus portugiesischem Marmor und weißen Corian-Oberflächen. Mit einem riesigen Doppelbett von Vispring im Schlafzimmer, von großzügigen Spiegelflächen umstellt. Außerdem sind viele Modehäuser gleich in der Nähe, und auch einige der begehrtesten Fotografen. Es ist teuer und langweilig hier in diesem Patrizierhaus aus dem vorletzten Jahrhundert, voller Scheidungsfälle aus der Oberschicht, aber im selben Stockwerk, nur wenige Meter entfernt, wohnt Eric, ein norwegischer Callboy, 27 Jahre alt, durchtrainiert, Solarium-gebräunt und weißblond, ein Recke wie aus einer nordischen Saga, der 250 Euro pro Session verlangt, aber dafür ist dann alles dabei, was man sich nur ausdenken kann. Sogar Fesselspiele und Fetischrituale. Ich will gar nicht wissen, was in der Wohnung nebenan noch alles gemacht wird.
Es ist später Nachmittag, und ich komme gerade von der Milano Moda Uomo zurück. Ich war für drei Shows gebucht, bin also ziemlich gut im Geschäft. Irgendwie suchen alle gerade den Jungen von nebenan, den gefallenen Engel mit rotblonden Haaren, einer Andeutung von Sommersprossen, mit einem kantigen Gesicht, aber weichen, üppigen Lippen und diesem gewissen erotischen Blick in den Augen, knallhart und doch – wie hat sich Marcello, der italienische Stylist, ausgedrückt – ja genau: fragil. Zerbrechlich. Willkommen bei mir jedenfalls. Ich habe drei Mal 20.000 Euro verdient, aber es hätten auch mehr sein können, mein Agent verhandelt meiner Meinung nach schlecht. Sooft ich ihn darauf anspreche, sagt er bloß, ich mache das schon, Kleiner, keine Sorge, du bist bei einem Profi unter Vertrag.
Irgendwie scheint Francois, mein Agent, doch ein schlechtes Gewissen zu haben: Er hat mich über Nacht für ein neues Modelabel aus Österreich gebucht, eine Woche in Is… Isch… puh, keine Ahnung wie man diesen Ort ausspricht: ob man ihn überhaupt aussprechen kann, wenn man kein Deutsch beherrscht. Ischgl. So schreibt man das jedenfalls. Eine Konsonantenlawine nach dem kurzen I. Auf Google Maps habe ich den Flecken bereits aufgespürt: in irgendeinem V-Tal versteckt. Laut Wikipedia: 1600 Einwohner. 11.000 Gästebetten. Ein Hinterwald-Manhattan, auf einem halben Hügel zusammengedrängt. Von Paris aus gibt es einen Flug nach Frankfurt und von dort nach … Innsbruck, genau. Komisch, viele Orte in Österreich scheinen mit I anzufangen. Innsbruck klingt nicht viel größer als Ischgl, aber es hat einen Flughafen. Auf Google Earth schaut die Umgebung von Kranebitten gefährlich aus: unmittelbar hinter der Stadt gelegen und von schneebedeckten Bergen umrahmt. Wahrscheinlich wird der Airbus noch im Anflug auf die kurze Rollbahn an einem Felsen zerschellen, und das war es dann mit Jason, dem aufstrebenden Model.
Ich kriege eine Gänsehaut und bereite mir einen Tee, ohne Zucker, ohne Geschmack, ohne ein einziges Joule. Probiere einen Missoni-Pullover an, von dem ich annehme, dass er wintersporttauglich ist. Als ich die zwei Früchteteebeutel in der Kanne versenke, läutet es draußen. Ein untersetzter Mann um die 50 steht vor mir. In seinen Augen zucken 1000e Blitze, sein Mund sabbert, und die Hände zittern vor lauter Gier. Der Pierre-Cardin-Mantel sieht verdächtig nach letzter Wintersaison aus, und irgendwie riecht der Typ nach Ricard. Ich kenne die Sorte Mann schon, die sich manchmal in der Türnummer irrt und bei mir anläutet.
Eric wohnt da drüben, sage ich ganz reizend mit meinem Normandie-Dialekt und dem treuherzigen Augenaufschlag, der ungefähr 2.500 Euro pro Aufnahme kostet.
Schade, sagt der Mann, dreht sich achselzuckend um und wird schon von seinem norwegischen Callboy erwartet.
Während ich meinen Tee schlürfe, überlege ich mir, was ich in den nächsten Tagen alles nicht essen werde, um mein Vertragsgewicht von 63 Kilo zu halten. Gemäßigt gelangweilt gehe ich meinen Email-Account durch. Ein paar Anfragen von Modefotografen, aber vor allem: VIP-Einladungen zu Partys, Partys und nochmals Partys. Die meisten hier in Paris, einige in Milano und die richtig wilden in Hamburg. Dazu digitale Postkarten von anderen Boys, mit denen ich letztes Jahr in Miami meine Shootings gemacht habe, mit dem neuesten Gossip gespickt: Lorenzo ist im Drogenrausch eine Treppe hinuntergefallen und hat sich alle Rippen gebrochen. Tom aus Delaware hat sich letzte Woche den goldenen Schuss gegeben, obwohl er angeblich Heroin nie angerührt hat. Jim-Sun aus Shanghai wiegt nur noch 30 Kilo, liegt im Krankenhaus und wird dort künstlich ernährt. Nachts zieht er sich die Infusionsschläuche aus den Venen, weil er immer noch Angst hat, zu dick zu werden, der arme niedliche Trottel – was machst du eigentlich, mein Normannen-Prinz?
NOR-MAN-DIE buchstabiere ich langsam, weil mir die oberflächliche Gleichgültigkeit von Armand, Josua, Geoffrey oder wem auch immer schwer auf den Sack geht. Es gibt auch ein paar Botschaften von Girls, mit denen ich offensichtlich in den letzten Wochen herumgemacht habe. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, aber es wird wohl Sex in einem Hotelzimmer in Mailand-New-York-Moskau oder sonst wo gewesen sein, ein paar oberflächliche Prinzessinnen, allesamt blond, mit toller Figur, gut im Bett, aber vollkommen leer im Kopf, wenn man von ihrer Besessenheit absieht, als Model-Managerin-oder-Fotografin Karriere zu machen, und wenn es durch 1000 Betten gehen muss, aber du wirst sehen, Jacob, ich werde es schaffen.
Roxanne, du heißt zwar wie ein Popsong aus dem Paläozoikum, aber mein Name ist nicht Jacob, sondern Jason.
Echt jetzt? Warum hast du das nicht gleich gesagt plus drei Fragezeichen und fünf Smileys.
Roxanne hat ihr Hirn in der Grundschule abgegeben, als sie noch nicht ganz mit dem Alphabet durch waren. Sie macht Rechtschreibfehler wie eine Neunjährige, hat einen Silikonbusen, der Tote aufwecken kann, und sieht trotz ihrer 24 Jahre immer noch aus wie sechzehneinhalb. Danke, Jacob, das hast du schön gesagt.
Gegen 19 Uhr abends kommt Eric auf einen Kräutertee vorbei, das heißt, ich trinke Kräutertee und er eine Flasche Absolut Vodka in der limitierten Gay-Pride-Auflage. Seine Hände sind von blau angelaufenen Striemen durchzogen, und das Gesicht ist leicht verschwollen, weil der letzte Kunde irgendeine SM-Nummer durchziehen wollte.
Was Eric schon alles angestellt hat mit seinen Händen, seinem Mund, seinem Schwanz, seinen Eiern, seinem Arsch. Ich fühle mich ein bisschen unwohl, wenn ich ihn so ansehe, aber irgendwie mag ich meinen Nachbarn total. Er hat eine ganz andere Jugend gehabt als ich, allein mit einer alkoholkranken Mutter, die ihn vernachlässigt und später für ein paar Flaschen Schnaps irgendwelchen Kerlen überlassen hat. Eine Kindheit aus Flüchen, Schlägen, Jugendfürsorge und Heimen. Mit 15 ist Eric endgültig abgehauen und hat sich als Stricher und Taschendieb durchgeschlagen. Er war Matrose und Kellner in den allerletzten Kaschemmen, er jonglierte mit Hüten auf Jahrmärkten und verkaufte Kokain, Crystal Meth und XTC-Pillen. Ungefähr zehnmal wollte er Selbstmord begehen, hat Tabletten geschluckt, sich die Adern aufgeschlitzt und ist sogar einmal von einer 20 Meter hohen Brücke gesprungen. Er hat das Leben von 30 Stuntmännern und 70 Verrückten hinter sich und sieht noch immer durchtrainiert und jugendlich aus. Eric hat sogar einen Waschbrettbauch, einen tollen Schwanz und riesige Eier. Manchmal legt er sich nackt zu mir ins Bett, und dann spielen wir die große-Bruder-kleine-Bruder-Geschichte. Wir gucken uns dabei tief in die Augen, streicheln uns überall, bekommen sogar einen Steifen, aber richtig Sex machen wir nicht. Eigentlich schauen wir uns nur an, wir streicheln uns vielleicht ein wenig, aber es kommt nie zum Äußersten – beinahe wie bei echten Geschwistern.
Kräutertee und Absolut Vodka vertragen sich nicht so gut, also gehe ich zum Kühlschrank und hole uns eine Flasche Champagner heraus. Die Flasche ist von emaillierten Anemonen überzogen und hat diesen Retrostyle, auf den ich voll abfahre. Zumindest verweist sie auf eine Zeit, in der alles langsamer und ruhiger gewesen sein muss. Die Zeit des Französischen Jugendstils stelle ich mir glamourös vor: ganz in Sepiafarben getaucht, mit Pferdekutschen und Leuten, die noch Contenance haben und wissen, dass man sich nicht alles kaufen kann, was man begehrt: einen Jungen wie Eric oder ein Model wie Jason.
Nachdem der Champagner geleert ist und Eric in seinem Apartment den nächsten Kunden erwartet, schwebe ich ins Schlafzimmer hinüber und wühle in meiner Garderobe herum. Wie jedes anständige Model habe ich 1000e Anziehsachen im Schrank, aber leider immer die falschen. Rot kannst du in dieser Wintersaison unmöglich anziehen, Blau und Gelb gehen ebenfalls nicht, eher so Pastellfarben, aber da passen die Schnitte nicht mehr … ein Luxusproblem nach dem anderen. In einigen Tagen reise ich für ein Fotoshooting in die österreichischen Alpen und habe absolut nichts zum Anziehen: keine coole Wintersportjacke, kein Après-Ski-taugliches Outfit, kein Snowboard, keine Carving-Skier, keine Boots, keine Accessoires wie Kappe/Mütze/Skibrille/Handschuhe.
Scheiße, richtig scheiße ist das.
Ich bin echt angepisst von meiner provinziellen Minderwertigkeit. Gegen meinen Willen laden sich plötzlich Dutzende Bilder in meiner Erinnerung hoch: der Bahnhof von Caen, eine Flasche Calvados auf dem Holztisch, die Austernbänke, der verdammte Atlantik, der Geruch von Möwenscheiße und fauligem Seetang. Wahrscheinlich rieche ich noch immer nach dem Hafenbecken von Asnelles oder nach einem Fischkutter. Ich könnte die Wände hochlaufen und heulen. Im Heulen bin ich Vizeweltmeister. Ganz das kleine, hysterische Mädchen. Obwohl ich mich anstrenge, scheine ich nicht richtig männlich zu werden.
Weil mir nichts mehr Besseres einfällt, gehe ich gegen 21 Uhr einfach zum Squash. Verabrede mich mit Branko für eine Partie in der hippen Gym-Halle. Holmes Place oder Equinox oder so. Branko ist Fußballer bei Saint Germain, er spielt linker Verteidiger, ist 20 Jahre alt und verdient ein paar Millionen pro Jahr. Seit er voriges Jahr den Klub ins Viertelfinale der Champion League geschossen hat, darf er sich so ziemlich alles erlauben. Mit Branko ist sogar Squashspielen glamourös. Schon vor der Sporthalle gibt er mindestens 200 Autogramme, die meisten an vorpubertäre Jungs, die ihn anstrahlen, als wäre er eine schrille Pornoqueen mit Körbchengröße 105d.
Nach dem Sport gehen wir auf einen Selleriesalat ins DETOX3000, das zwei Exilchinesen und einem staatenlosen Milliardär gehört. Der Laden ist so was von angesagt, dass nicht einmal Branko jedes Mal reinkommt. Diesmal haben die Türsteher Erbarmen mit uns. Wir thronen an der geschwungenen Bar und lassen uns von tätowierten Barkeepern anstarren, aber wir nehmen es gelassen hin, wie glanzlosen Reichtum, der in Wirklichkeit andere Leute betrifft.
Gegen 2.30 Uhr komme ich zurück in mein Apartment, und bei Eric brennt Licht. Nichts Ungewöhnliches, er empfängt seine Kunden oft nachts: jene Typen, die richtig einen draufmachen müssen, bevor sie locker genug sind, um sich eingestehen zu können: Ich bin ein schmuddeliger älterer Mann, der auf versaute Jungs steht. Und der jetzt weit nach Mitternacht seinen Boy braucht. Einen Jungen mit tollem Oberkörper, 100.000 Tattoos und einem Riesenschwanz, der dauersteif ist. Einen Callboy wie Eric. Du wählst 384-38-96 und bist am Ziel deiner Begierde: eine Stimme, die noch jung klingt, aber ebenso erfahren. Etwas aufgeraut vom Alkohol, von den Drogen. Von dem schrägen Leben da draußen.
Um 6.10 Uhr läutet es an der Tür. Einmal, dreimal, zwanzigmal, tausendmal. Ich wache ein Dutzend Mal auf, halte die Kissen gegen das Gesicht gedrückt, fühle mich um meinen Schönheitsschlaf betrogen. Ich brauche meine zehnstündigen R.E.M.-Phasen, um immer noch auszusehen wie sechzehneinhalb. Je jünger du wirkst, je trainierter und magerer dein hochversicherter Body ist, desto mehr Kohle wird das nächste Shooting einbringen. Ob mein Paco-Rabanne-Werbesujet bereits draußen ist? Mein Body beinahe nackt, und die Speedo ganz leicht heruntergezogen, die Beule schön sichtbar, der Blick hinter dunkelster Eye-Wear versteckt: Ich hätte mich selber ficken können, so geil haben die Abzüge ausgesehen, diese retuschierten Wirklichkeitslügen.
Es läutet noch immer.
Es hört einfach nicht auf.
Mein Schlaf ist in 1000 Stücke zerbrochen. Ich ziehe meine Kenzo-Pants an, schlüpfe in die Sandalen von Jimmy Choo, nehme den Bademantel von Comme des Garcons und bin an der Tür, spähe durch den Spion auf den Gang. Lauter Flics. Dutzende Typen in Uniformen, aber auf ungeil.
Der Typ, der direkt in den Spion schaut, trägt keine dunkelblaue Idiotenlivree. Er hat einen schwarzen Mantel an, passend zur schwarzen Krawatte und dem offensichtlich selbst gefärbten Schnauzbart. Das Klischee eines Kommissars. Ich öffne die Tür, starre auf die Dienstmarke, die mir der 50-Jährige entgegenhält, und weiß: Manchmal wird das Klischee Wirklichkeit. Der Alltag verwandelt sich in eine Crime Zone. Ich bin im Sequel des Vormittagsfernsehens gefangen, nur ohne Kameras und ohne das »Quiet please, and action« eines entnervten Regisseurs.
Nichts dergleichen.
Nur Beamte vom Erkennungsdienst, Leute, die sämtliche Nachbarn befragen, darunter auch mich. Ich brauche drei Zigarettenlängen, um die Nachricht aufzunehmen: Eric-ist-tot. Ist vor wenigen Stunden ermordet aufgefunden worden. In 1000 Stücke zerfetzt. Von einem unbekannten Tier erlegt, das einer seiner Kunden gewesen sein muss. Ein Wolf in Menschengestalt. Wie eine Sagenfigur. Aber auf wirklich. In echt.
Ich beginne zu zittern. Die Zigarette fällt zu Boden. Ich trinke meinen Entschlackungstee, obwohl ich zwölf Kilo unter Idealgewicht bin. Der Kommissar starrt auf meinen Ausweis und fragt, ob er gefälscht ist.
Was?
Dieser Ausweis. Du bist doch höchstens 16 Jahre alt, warum lebst du allein?
Excuse moi, Monsieur Commissaire, aber ich bin wirklich schon 19 geworden. Fragen Sie Francois, meinen Manager, fragen Sie in der Agentur MenX nach, fragen Sie Virginie Viard, Yohji Yamamoto oder den steinalt gewordenen Gaultier. Sie alle halten meine Mobilnummer in ihren Geheimhandys versteckt.
Na, mein kleiner Normandie-Prinz, wieder Lust auf Mailand, Tokio, Shanghai oder Moskau? Na klar. Für dich immer.
Lasziver Augenaufschlag. Blick von unten herauf. Okay, gebucht. Und danke, das war’s.
Der Kommissar fragt, ob ich dasselbe mache wie Eric. Na, du weißt schon. Ich schüttle den Kopf und zeige ihm ein paar Mappen in A2-Format. Mein Körper in 1000 markenartikeltauglichen Posen. Langsam schnallt der Typ, dass ich kein Callboy bin, sondern ein Model, das ungefähr das 20-fache eines durchschnittlichen Jahresgehalts einstreicht. Wenn es halbwegs gut läuft. Und seit einiger Zeit läuft es ausgezeichnet.
Entschuldigung, was haben Sie gefragt, Monsieur Commissaire?
Wo du heute Nacht warst, genauer gesagt zwischen gestern 20.30 Uhr und heute vor knapp einer Stunde vielleicht.
Ich rekapituliere den letzten Abend, die letzte Nacht, alles schön mit Zeugen und Namen garniert, die halbe Jeunesse dorée von Paris wird heute von einem leibhaftigen Kommissar kontaktiert werden: Pardon, können Sie uns bestätigen, was Dominique LaCroix gesagt hat?
Wer soll das sein – nie gehört.
Nennt sich auch Jason, fällt dir jetzt was ein?
Ach, dieser Junge aus Caen. Das magersüchtige Model mit den todtraurigen Augen. Nein, der kann nichts verbockt haben, Monsieur Commissaire, der ist sanft und ruhig wie ein Elfjähriger, der noch an seinem Daumen lutscht und den bunten Schwachsinn im Trickfilm-Channel anstarrt.
So viel zu meinem Ruf in der Stadt.
Der Kommissar schreibt bedächtig eine Reihe von Namen und Mobilnummern auf. Ich schniefe ein bisschen und beginne zu weinen. Die Sache mit Eric nimmt mich her. Tot? Ausgerechnet Eric, der mit 27 schon vier oder fünf Leben hinter sich hatte? Er ist wie ein großer Bruder gewesen ist, verstehen Sie, Monsieur Commissaire, so einen, den man aus der Ferne bewundert, weil er um ein Haar in brennenden Autos umgekommen oder weil er von einer Brücke bei Trondheim gesprungen ist, weil er Waffen geliebt hat, und weil er durch und durch ein Mann war, so viril und gefährlich wie ich ihn mir in den allergeilsten Träumen vorstellt habe.
Mein glamouröses Leben hat sich plötzlich in eine Telenovela verwandelt. Zur Folge 115: Mord in der Nebenwohnung. Extrem hohe Einschaltquoten. Das halbe Land starrt die paar schmierigen Akteure an. Der Kommissar sieht aus wie jemand, der Philippe Noiret imitieren will. Aber einfach nicht schauspielern kann.
Danke, das war’s. Sie können weiterpennen.
War das alles?
Oui. Bien sur. Mercì.
Keine Ahnung, ob der Dialog echt war. Ob der Kommissar wirklich in meiner blitzblanken Miniküche gesessen ist und einen Nespresso Lungo Forte getrunken hat. Immerhin riecht es im Raum nach einem Parfum aus dem Billigdiskonter: eine Mischung aus Seifenspender und irgendetwas mit Tabak. So eine Mischung fällt höchstens einem Givenchy-Kopisten auf den Philippinen ein.
Ich suche nach einem Kleenex und weine das Taschentuch voll. Ich frage mich, ob ich Erics Begräbnis organisieren muss, ich meine, wen hat der Junge schon gekannt außer mir? Keine Eltern mehr, keine Bekannten, nur wenige Freunde. Und plötzlich begreife ich, dass hinter Erics Körperfassade, hinter seinem smarten Blick, dem überlegenen Lächeln und den regulierten Zähnen nichts als blanke Einsamkeit war. Ja, Eric war einsam. Ein Callboy, der die härtesten Sachen hinnehmen musste, um über die Runden zu kommen.
Du könntest auch eine Menge Kohle mit deinem Body absahnen, Jason.
Das mach ich ja, Eric. Nur auf eine andere Weise.
Stimmt, du verdienst richtig Cash. Weil du die Gegenwart erleuchtest.
Hä, was hast du da gesagt?
Heftiges Lachen, so von Model zu Callboy.
Meine Hände zittern. Der Aschenbecher fällt zu Boden. Die zwölf Zigarettenkippen und ein Haufen Asche liegen auf dem nagelneuen Marmorboden herum. Eine Schramme verläuft quer über eine der Platten. Mit einem Schlag ist die Wohnung eine billige Mezzie geworden, und nebenan war auch noch ein Mord. Ich nehme ein Vollbad und überlege, ob ich diese eine Nummer wählen soll. Die Vorwahl von Caen, und dann eine Kombination aus sechs Ziffern, die ich seit meinem fünften Lebensjahr auswendig weiß.
Die Notfallnummer schlechthin.
Egal, wie viel ich mit meinem Body verdiene, wenn ich nicht mehr weiter weiß und irgendwo auf dem kaputten Planeten in einer VIP-Lounge, einem drogenverseuchten Klub oder in einer anonymen Fünf-Sterne-Plus-Suite meine Sinnkrise bekomme, dann hilft diese Nummer: der Festnetzanschluss von Zuhause, diesem hübschen kleinen Landhaus am Rande von Caen, in dem ein Architekt und eine Gymnasiallehrerin wohnen: meine Eltern.
Timothy LaCroix und Brigitte Bardot – bitte nicht lachen: Meine Mutter heißt genauso wie diese Schauspielerin aus dem vorigen Jahrtausend, aber natürlich sieht sie vollkommen anders aus. Meine Brigitte Bardot ist eine kettenrauchende Intellektuelle, weißblondes Haar, das Gesicht voller Falten, mit einer spröden, richtig porös wirkenden Haut. Niemals Lippenstift, schon gar kein Kajal. Nicht einmal Nachtcreme. Höchstens Zahnseide und diese Flüssigseife von Dove. Am liebsten überhaupt keine Markenartikel. Besser am Wochenende zusammen mit Tausenden Klimarettern gegen jene Konzerne demonstrieren, die ihren Sohn für eine PR-Kampagne engagiert haben.
Die Notfallnummer funktioniert immer, rund um die Uhr. Spätestens nach dem dritten Freizeichen kommt das befreiende Klicken.
Mama, ich bin’s. Kann ich nach Hause kommen?
Meine Brigitte Bardot am anderen Ende der Leitung fragt nicht warum und wieso. Ich habe das Gefühl, dass sie einfach lächelt, ihre Zigarette raucht und mit dem Kopf nickt. Ich höre in ihre Smartphone-Stimme hinein, die noch immer so beruhigend klingt.
Komm nur nach Hause, mein Schatz. Warst schon lange nicht mehr hier. Ich hole dich vom Bahnhof ab, mach dir bloß keine Gedanken.
Genau, was ich hören wollte. Jetzt, um 8.45 Uhr, unmittelbar nach dem Verhör durch einen leibhaftigen Kommissar.
*
Ich heiße Pat, nach meinem Alten, minus die letzten vier Buchstaben. Ich bin 17 Jahre alt und könnte im Juni mein Abitur machen, aber ich habe die Luxusschule vor einigen Wochen geschmissen, dieses verdammte Lyzeum im 16. Arrondissement. Die Schule, die angeblich Baudelaire und Jules de Goncourt besucht haben und ein paar verrückte Maler und fünf frühere Minister dazu. Eine Elite-Anstalt par excellence. Wie auch immer. Das mit der Schule ist jetzt vorbei, und zwar endgültig. Ich gehe nicht mehr hin. Ich habe was anderes vor. Was zehnmal Großartigeres. Etwas, das mir richtig fett Kohle einbringen wird.
Vielleicht habe ich mir alles von meinem Dad abgeguckt: Er dealt mit Immobilien, ich mit dem Stoff, aus dem die größenwahnsinnigen Träume sind. Oder die dreckigsten Fantasien. Die Substanz, nach der alle gieren. Das weiße Marschierpulver, das du schniefst, inhalierst oder auch spritzt, um dein Potenzial in dieser verdammten Hochgeschwindigkeitsgesellschaft abrufen zu können. Du musst in diesem sinnlosen Wettlauf mit dir selbst tough bleiben, die Reaktionszeit eines Tennisprofis haben, die Ausdauer eines Marathonläufers und die Kraft von zehn Bodybuildern, obwohl du im Grunde nur eine Lachnummer auf diesem Rolltreppeninferno nach oben darstellst – oder überhaupt noch im Prekariat herumgroovst. Du verdienst nichts, aber du hast deinen Ausbildungsmarathon hinter dir, bist Bachelor von Irgendwas, hast irgendeinen Wettbewerb für einen Controllerjob in irgendeiner scheiß Bank gewonnen, und da arbeitest du jetzt, zwölf oder 15 oder 24 Stunden am Tag: Roundabouts, Deadlines, Schlaflosigkeit, dein Dauergestarre auf Pivot-Tabellen und Datenbanken, du bist todmüde und gleichzeitig hellwach, du brauchst das kolumbianische Marschierpulver, und du brauchst mich, deinen minderjährigen Dealer.
Okay, Sie rümpfen die Nase, Sie eingebildeter Trottel aus der Wohlstandsliga: Sie sind vielleicht 50 Jahre alt, Beamter im Landwirtschaftsministerium, ohne Sie tickt die Welt auch weiter. Ich rede von meinen Kunden, den Hamstern in den Hamsterrädern, ich rede von Versuchstieren in Menschengestalt, von Leuten, die hoch hinaus wollen und vielleicht doch klein beigeben müssen, und von jenen, die sich mit Kraft und Ausdauer und Reaktionsschnelligkeit zu einem Supertier aufgeblasen haben, obwohl sie vielleicht doch nur harmlose Ameisen sind: ständig vom Versagen, vom Burnout, vom Vergessen werden bedroht.
Manchmal wird man zum Philosophen in meinem Job oder zu einem Poeten, zu einer Art Baudelaire, der vor 200 Jahren mein Elitegymnasium besucht hat, ich glaube, der Typ hat auch die Blumen des Bösen geschrieben. Ein ziemlich cooler Titel jedenfalls. Könnte auch ein Thriller sein, dabei sind es lauter Gedichte, wo sich hinten alles irgendwie reimt, aber wenigstens spielt das Zeug in der Gosse des 19. Jahrhunderts, wo von Ratten und Krankheit, von Tod und Absinth und was weiß ich allem die Rede ist, ein bisschen wie hier draußen im Banlieue, in dieser ehemaligen Fleckviehversteigerungshalle, in der ich jetzt hocke, weil ich auf den Krebs warte, meinen maghrebinischen Dealerkollegen.
Ich sitze auf der Holztribüne und starre schon länger auf die Arena hinunter, in der fünf Boxringe genauso aufgestellt sind wie die Augen auf einem Pokerwürfel, und in jedem dieser Boxringe schlagen sich irgendwelche Marokkaner und Algerier, Albaner und Türken in die Fresse, alle so in meinem Alter, sehnige Jungs, die sich wortwörtlich durchs Leben schlagen, vorerst noch hier in der Halle, aber in ein paar Jahren auch draußen auf der Straße.
Vielleicht schafft es der eine oder andere Nachwuchsboxer in die dritte Kreisliga oder wird sogar der nächste Landeschampion im Halbweltergewicht, aber irgendwann wird er in seinem Wohnblock, seinem Getto, seiner Halbwelt dahin rotten und mit spätestens 40 Jahren von ein paar Messerstichen oder einer Lungenembolie gekillt werden, so läuft das hier im Banlieue, willkommen im Mittelalter des 21. Jahrhunderts: Deine durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 39 Jahre, und den Löffel kannst du demnächst da vorn an der Straßenecke abgeben, wo dich ein schräger Vogel abpassen und niederstechen wird, mit einem Ruhepuls von 61 Schlägen – also ohne mit der Wimper zu zucken.
Ich sitze auf der Holztribüne und trinke mein R&B aus der Dose, diese österreichische Energielimonade, diesen Gummibärchen-Saft. Das Zeug hält mich irgendwie wach, und wach musst du sein in meinem Schattenjob, schließlich habe ich 1000e Feinde: nicht nur die Dealerkonkurrenz, meine Lieferanten oder die verdammten Abhängigen mit den Zahlungsschwierigkeiten und trüben, zuckenden Augen, sondern vor allem die Flics, die Ermittler, das Heer der Staatsbeamten, diese graue Armee aus grauen Leuten in grauen Anzügen, diese Armada von Leuten, die das Französische Wertesystem vertreten, die Lüge von Liberté, Egalité, Fraternité, was für ein Schwindel, 90 Prozent der Bevölkerung scheißen auf Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit, jeder will seinen Nächsten so lang demütigen, bis er selber ein Stück weiter auf der Erfolgsleiter raufkriecht, dem nächsten fetten Bonus, dem verdammten Reihenhaus in einem Pariser Wohlstandsbezirk oder dem nächsten Ferrari Portofino entgegen.
Ich saufe die R&B-Dose leer, zerknülle sie wie Papier und werfe sie auf den kalten Beton, während im rechten oberen Boxring ein schmächtiger Marokkaner-Junge von einem Türken niedergestreckt wird, der arme Zwerg liegt blutend am Boden, zuckt wie ein Tier im Todeskampf und scheint beinahe zu verrecken dort unten. Ein fetter Trainer im Jogginganzug mit weißem Kraushaar und dunkler Hautfarbe steigt mit einem Kübel Wasser in den Ring und betupft das Opfer der türkischen Kampfkraft, aber der Junge rührt sich nicht mehr, und die Leute im Boxquadrat rufen und gestikulieren, und auf den anderen Boxfeldern hören sie bereits auf mit dem Kämpfen.
Ich haue lieber ab, weil die Trainer vielleicht die Rettung und die Bullen alarmieren müssen, und dann könnte die Situation schnell eng für mich werden, außerdem sehe ich einige Sitzreihen weiter oben den Krebs, diesen spindeldürren Araberjungen, etwa gleichalt wie ich, im echten Leben Pizzalieferant, immer zu viel Brillantine im Haar und von einer Duftwolke eines schweren Parfums umhüllt, ein Aftershave für blutige Anfänger. Er steht da oben in der letzten Reihe der Holztribüne, unter der abgeschalteten Spielstandanzeige, und grinst in meine Richtung, der Gute hat nicht alle Eier im Schrank, aber egal, er grast für mich diesen Scheißbezirk ab und verteilt das Marschierpulver im Banlieue, auch hier brauchen die Leute einige Brisen vom Stimmungsaufheller, bevor sie den Hof zusammenkehren, ihren Lebenspartner erwürgen oder im nächsten McDonald’s ein Blutbad anrichten. In ein paar schnellen Schritten bin ich oben bei ihm, wir sehen uns in die Augen, grinsen schief, und dann wechseln Stanniolkügelchen und Geldscheine unauffällig ihre Besitzer.
Comment vas-tu?
Comment scheiß drauf.
Wir zucken mit den Achseln, und jeder von uns verschwindet in seine eigene Nacht. Ich werfe meine Vespa aus den 90er-Jahren an, aber feuerrot und extrem cool. Vor einer Tankstelle mit fetter Weihnachtsbeleuchtung zähle ich das Geld, zwei-drei-vier-fünftausend, voilà – wenn das kein geiler Abend im L’Avventure wird: rein mit der Kohle, raus mit der Kohle – so läuft das in unserem Job. Eine Magnum Dom Perignon oder Belle Époque Rosé, ein Schälchen Erdbeeren und ein paar Mädchen dazu, das bisschen Bumsen oder Blasenlassen im hintersten Winkel der Promidisco, wo keiner hinguckt vor lauter Drogen und Alkohol, vor lauter auf Irgendwas-Drauf, so wird der Abend, diese Nacht wohl wieder verlaufen.
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