Kitabı oku: «Monopoly», sayfa 3
III THUN
Ich würfelte 6 und machte einen Sprung bis nach Thun. Eine gepflegte Stadt. Hier hätte ich dem Professor Pareto von Lausanne begegnen mögen. Ich hätte ihm vorgehalten, dass es nicht genug sei, wenn man seinen Band Taine – wie üblich – schliesst und die Bourgeoisie in Bausch und Bogen verurteilt, die sich «an unflätigen Büchern weidet, mit denen verglichen das Satyricon ein geradezu puritanisches Werk ist, und in denen sie grausam verhöhnt wird. Es ist nicht nur die Faszination des Obszönen, es ist der perverse Genuss, mitanzusehen, wie alles in den Schmutz gezogen wird, was bis anhin Achtung und Respekt genoss. Die Hauptsorge einer derartverderbten Gesellschaft, die jegliche Würde verloren hat, sind denn auch die Frivolitäten im Theater.»
Der Kamerad Sbrinz jedoch, der das Fernsehen nur bei Cowboyfilmen einschaltet, befand sich im Einklang mit der vernichtenden Kritik des Professors Pareto und war ebenso besorgt: «Die Menschen sind unzufrieden mit allem. Sie sind zügellos. Sie beklagen sich über den steigenden Brotpreis und kaufen am Kiosk unsittliche Zeitschriften. Sie spotten über die Traditionen der Vergangenheit. Ausserdem ist viel zu viel Geld im Umlauf.» Und um alles noch schlimmer zu machen, fügte Professor Pareto hinzu: «Wann ist jemals soviel Schmuck unter die Leute gekommen? Die Juweliere, die Antiquitätenhändler verkaufen heute viel mehr als früher. Aber sie haben auch andere Kunden als früher.»
Ich war überaus betroffen von dieser Feststellung des Professors Pareto, und da ich ohnehin ein etwas langsamer Spieler bin, sagte die Dame, die nach mir an der Reihe war, leise, doch nicht allzu leise, zu ihrer Nachbarin: «Schläft er, oder macht er sein Testament?»
Nein, mein Testament machte ich nicht, aber ich war nahe daran: in Gedanken war ich beim Begräbnis von Dash, bei dem kleinen alten Mann, der aussah wie ein Jockey von Ascot und jetzt zerschmettert und zerschlagen nach dem fürchterlichen Sturz fünfhundert Meter über die Felsplatten in der Tiefe lag – einem Sturz von wenigen Minuten Dauer; entsetzliche Umkehrung eines lebenslangen Aufstiegs, der bis zum zweithöchsten Sitz der Bankhierarchie geführt hatte, von wo es nur noch ein kleiner Schritt zum höchsten war, zum Sessel des mächtigsten Mannes des Landes, in dem man bis zum Nabel versinken und die lange Zigarre kosten konnte, die allein dem Mächtigsten vorbehalten ist.
Ein geschickter Wärter hatte das Bündel Knochen in ein feierliches Totengewand gehüllt, die Gesichtszüge geglättet, soweit es nach der Verunstaltung noch möglich war. Der eingerissene Mundwinkel unter dem grauen Bärtchen betonte noch den Ausdruck von Verachtung und Strenge. Dieser Ausdruck war es, den er bei besonders wichtigen Unternehmungen zur Schau getragen hatte, und bei Dash war jede Unternehmung wichtig.
Diese Grimasse bekam etwas Komisches, wenn er in nervöser Laune zusätzliche Bestimmungen für sein Testament formulierte: Zum Beispiel verfügte er, dass sein Wagen im Falle seines Todes in der Zeitung zum Preise von 50 (fünfzig) Franken angeboten und dem ersten Interessenten verkauft werden solle, und dass diese fünfzig Franken nach geltendem Recht dem Erbe seiner Witwe zugeschlagen werden sollten, sofern diese nicht noch vor ihm von der Erde abberufen würde. Noch einmal, zum letzten Mal, sollte ihr nach seinem Tode klar werden, wer Dash war, dieser kleine Mann von einem Meter achtundfünfzig; seine Frau mass einsvierundsiebzig.
Die Nachträge zu seinem Testament waren nichts anderes als das Protokoll der Litanei von häuslichen Streitigkeiten. Letzthin hatten sie – während eines kurzen Waffenstillstandes – von Manila gesprochen, wie im Notizheft vermerkt war. (Die dortige Bank entwickelte eine lebhafte Tätigkeit.) Sie sprachen von einer durch Hunger verursachten Invasion von Mäusen und Schlangen, und sie, die Schwarzhaarige, hatte zu bemerken gewagt: «Du könntest doch einige Wochen lang dorthin gehen.»
«Wirklich?», und er hatte sein Testament wieder zur Hand genommen. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Lachte er immer noch? Gab es im Jenseits eine Bank des Heiligen Petrus, eine Bank der Seraphim, der Throne und des ewigen Herrschers? Oder gab es im Jenseits viele Reihen von Gucklöchern, durch die die Toten zur Erde hinabschauen und sie bespitzeln?
Indessen treffen bei der schmerzerfüllten Witwe Tausende von Telegrammen ein, aus allen Landesteilen, aus dem Ausland – und dann kommt das Testament. Was mich betrifft, so scheint es mir gar nicht ausgeschlossen, dass ich – angesichts der Stadt Thun und des Zeughauses der Schweizer Armee – meinem letzten Willen die Bestimmung beifüge, in Uniform begraben zu werden. Hier könnte ich mich einkleiden, mich, wie die Frauen sagen, ins Zeug werfen. Ein Uniformrock mit steifem Kragen im Stil 1936 vielleicht? Ein Waffenrock aus der Kriegszeit, der bis zu den Knöcheln reicht? Ein schönes Paar Socken?
Besser, man denkt nicht zu oft an das Begräbnis von Dash, man sucht vielmehr, Körper und Geist in Einklang zu bringen, zusammenzuschweissen auf dem Waffenplatz Thun, wo man ständig Soldaten antrifft, einige mit – vermunich ungeladenem – Gewehr, andere ohne. Alte Kameraden treffen sich hier zur Inspektion. Mit Freude hören sie zu, wenn ihr Kommandant – wie in jenen goldenen Zeiten – verschiedene Einheiten zum Aufmarsch befiehlt oder das Gewehr präsentieren lässt wie ehemals, als der Zwanzigjährige mit jugendlicher Kraft und Energie das singende Gewehr zur Hand nahm und dem Befehl «Gewehr bei Fuss!» augenblicklich nachkam.
Die ganze Familie hatte mitgeholfen, als es galt, den Tornister zu packen, den Mantel nach den Regeln der Kunst um den Tornister zu schnüren und alle persönlichen Effekten blankzuputzen.
Kamerad Hermann Sbrinz, Sachverständiger des Zeughauses, ist davon überzeugt, dass die Inspektion genauso wichtig ist wie für einen praktizierenden Katholiken die österliche Beichte.
Das Zeughaus ist nur wenige Tage im Jahr für das Publikum geöffnet. Unser Volk ist ja von Natur aus ein Volk von Sammlern. Alles wird gesammelt: Bleisoldaten und Kupfermünzen, Bierdeckel und – neuerdings als Hobby der Hochfinanz – Platin. Kein Sammler lässt sich die Gelegenheit von Thun entgehen. Und Herrmann Sbrinz ermahnte mich bei unserem Gang durch die ausgedehnten Räumlichkeiten des Zeughauses:
«Jetzt überlegen Sie mal gut ...»
Ich überlegte nicht. Ich stellte mir vor, wir spazierten durch die Salons von Versailles. Sbrinz war einer der Minister in Amt und Würden, ich ein Emir aus Saudi-Arabien.
«Überlegen Sie mal: die Sammler von militärischen Effekten! Denken wir gar nicht an die Granaten-Hülsen, die vor allem von den Hausfrauen begehrt werden, aber manchmal auch von den Gattinnen hoher Bundesbeamter, die sich einen Spass daraus machen, hübsche Geranienbehälter daraus zu basteln; denken wir gar nicht an die historischen Gewehre, die vom Jahre Siebzig zum Beispiel. Ein Amerikaner ist einen Monat lang um mich herumgeschwirrt, weil er ein Bajonett wollte. Denken wir vielmehr an die Uniformen aus der Zeit vor 1870, als es noch kantonale Heere gab mit all ihren verschiedenen Schnitten und Formen. Aber kommen wir zu den höchsten Graden. Zur Generalsuniform. Wissen Sie, was eine Generalsuniform kostet? Aber seien Sie beruhigt: Sie ist unverkäuflich. Sie wissen ja: wir hatten nur vier Generäle, seitdem die Schweiz die Schweiz ist, und sie ist es ja schon ziemlich lange. Das waren: Dufour, Herzog, Wille und – last but not least – Henri Guisan. Generalsuniformen stehen nicht zum Verkauf, so wenig wie Leonardos Gioconda oder die Fassade von Notre Dame. Die römische Kirche verkauft ja nicht einmal die Pantoffeln des Papstes. Oder den Krummstab, die Tiara oder den Heiligen Stuhl. Sonst wäre schon eine Schiffsladung unterwegs nach Amerika. Uniformen niedrigerer Grade kann man hingegen kaufen, vom Stabsoffizier abwärts. Wissen Sie, womit man in jüngster Zeit die besten Geschäfte gemacht hat? Mit den Militärgeistlichen. Meine Güte, Sie wissen ja, mit denen ist in der Schweiz nicht viel Staat zu machen. Gewöhnlich werden ja die Priesteranwärter vom Militärdienst befreit. Wenn einer trotzdem einrückt und seine vier Monate in der Kaserne absolviert und alles mitmachen muss – man stelle sich vor, was das für ihn heisst: Flucherei, Frauengeschichten und so weiter –, dann wird er automatisch Hauptmann; Militärgeistlicher mit Hauptmannsgrad, und dann hat er während der ganzen Dienstzeit ein herrliches Leben. Er muss sich um die geistige Landesverteidigung kümmern, das heisst, er hat nichts zu tun – und wahrhaftig, er tut auch nichts.
Moment mal, das trifft vielleicht nicht ganz zu. Wenn zum Beispiel ein Hochverräter hingerichtet wird, dann müssen sie ihm Beistand leisten. Im letzten Kriege war das siebzehn Mal der Fall. Der Verurteilte soll ordnungsgemäss zum Tode geleitet werden. Gut also – aber ich komme jetzt nicht mehr drauf, wieviel die Berner und die Zürcher Sammler damals für einen mit Stempeln versehenen Degen eines Militärgeistlichen bezahlten. Einer besorgte sich die Liste sämtlicher Feldprediger und machte damit im ganzen Land die Runde.
Nur eine einzige Stadt liess er aus, nämlich Cham.
In Cham bei Zug war bisher alles glatt gegangen, das Geschäft war so gut wie perfekt, als der ältere Bruder des Militärgeistlichen dazwischentrat, der in der kirchlichen Hierarchie einen weit höheren Rang einnahm. Der Militärgeistliche ist im zivilen Leben Probst und hat immerhin das Recht auf den Titel Monsignore. Der Bruder aber war als junger Missionar ausser Landes gegangen, war in irgendeiner afrikanischen Wüste im Handumdrehen Erzbischof geworden und lebte jetzt im wohlverdienten Ruhestand, war rundlich und voll blühender Gesundheit, las die Messe mit Krummstab und weissen Handschuhen. In den Homilien sprach er lobend von der Gottesfurcht der Schwarzen, im Gegensatz zur Schamlosigkeit unserer ausschweifenden Jugendlichen, die wahrhaft Heiden seien. Doch werde Europa das zu spüren bekommen, und zwar bald.
Als ihm nun dieser angebliche Heimatforscher in die Hände fiel, in dem er sofort den Geschäftsmann witterte, kanzelte er ihn empfindlich ab und liess ihn vor die Tür setzen. Ein weiterer Entrüstungssturm entlud sich über dem unvorsichtigen Bruder, der ja Heereskaplan war: das Schwert, das die Heimat verteidigt hat, verkauft man nicht.
Nein, ein Offiziersdegen ist kein Soldatenkoppel, das dem Bauern dazu dient, sich den Hosenlatz zu schliessen oder den Wetzsteinbehälter mit seinem guten Wetzstein um die Hüfte zu schnallen.
Was den Degen betrifft, da heisst es Nein. Sonst wären wir bald so weit, das Réduit der Nation an den Meistbietenden zu verkaufen.
Alles hat seine Grenzen! Stellen Sie sich eine Anzeige im «Bund» von 1990 vor: zu verkaufen vier oberstleutnants, oder eine im Jahre 2000: grosse versteigerung von vier festungen mit brigadier, und endlich wird im Jahr 2020 in den bedeutendsten Zeitungen Europas zu lesen sein: WÄHLT FÜR EURE FERIEN EINEN SCHAUERLICHEN ORT, DAS REDUIT DER SCHWEIZ!
Nein, wenn die Publizität die Seele des Handels ist und der Handel die Seele der Nation, dann werden wir uns wohl schliesslich fragen müssen: «Was ist die Nation?»
Sbrinz schwieg, als ob er eine Antwort erwartete.
Dann wechselte er das Thema.
«Ein Mann wie Sie müsste sich einmal ein Heeresarchiv ansehen!»
«Beim nächsten Besuch will ich das gerne tun, aber nur mit Ihnen als Führer.»
Inzwischen konnte ich es mir als eine Art Archiv des Himmelreichs vorstellen. Wie viele Protokollblätter werden im Paradiese abgeheftet? Wie viele Anlagen? Wenn keines unserer Worte, keine unserer Taten, nicht einmal mein Schwätzchen mit Sbrinz verlorengeht und alles einst im Tale Josaphat wieder präsentiert werden muss, wenn der grosse Abrechnungstag der himmlischen Archivare hereinbricht!
Ich vermute, dass der Chef, der Sankt Peter der Archivare, ein Mann wie Sbrinz sein wird. Es könnte ja nicht nur die Türkei allein unser Zivilgesetzbuch übernommen haben. Auch der Himmel könnte von uns lernen. Oder nehmen sie dort oben alles auf Band auf? Auf Mikrofilm? Oder verfügen sie dort über andere, völlig fremde Mittel, die unsere armselige Vorstellungskraft übersteigen?
Die ganze Kette der Worte, die von der frühesten Kindheit bis zum Tode ausgesprochen werden, verdichtet in einem einzigen Tropfen Blut, sterilisiert, in einem Bläschen wie jenes über Sbrinz’ rechtem Auge ...
Und plötzlich stellte Sbrinz eine andere Frage:
«Haben Sie den General gekannt?»
«Gewiss, ich habe ihn mehr als einmal gesehen. Wir waren auf dem Dorfplatz, bei Fackellicht, als er mit anderen hohen Offizieren oben auf einer Treppe erschien. Er sprach französisch und deutsch. Und als er sich auch dazu herabliess, uns in der dritten Landessprache zu begrüssen, bekamen mein Cousin und ich plötzlich einen Schrecken. Er betonte nämlich falsch und sagte ‹cari giovàni› anstatt ‹cari giòvani›, sodass mein Cousin Giovanni glaubte, er habe ihn gerufen. Ein andermal haben wir ihn gesehen, als er an die Grenze kam.»
«Als er an die Grenze kam?», unterbrach Sbrinz aufgeregt. «Er inspizierte alles und ermunterte die Soldaten. Wir befinden uns sehr im Irrtum, wenn wir glauben, ein General sei nur in Kriegszeiten nötig. Wer führt uns, wer stärkt uns in der Zeit zwischen den Kriegen? Darf ich Ihnen etwas im Vertrauen sagen? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich denke manchmal – und auch meine Frau ist derselben Meinung –, dass es auch seine guten Seiten hätte, wenn der Krieg nie gänzlich aufhörte, wenn er um uns herum weiterginge, weniger heftig natürlich und mit sauberen Waffen, aber doch ständig weiterginge. In unserem Lande, verstehen Sie, würde der nationale Zusammenhalt gestärkt, und wir hätten den General immer unter uns.»
IV ELEKTRIZITÄTSWERKE
Der Würfel rollte, und um ein Haar hätte ich 1 geworfen, was Gefängnis bedeutet; aber Gott Merkur muss ihm noch einen kleinen Stoss versetzt haben, und so erschien die 3, also Elektrizitätswerke.
In unserer Sprache südlich des Gotthard haben wir gar kein Wort dafür, wir gebrauchen das deutsche. Wie schon Poggio im 15. Jahrhundert feststellen konnte – er weilte damals in Baden zur Kur –, dass die Deutschen das Wort Eifersucht nicht kennten, da sie nicht wüssten, was das sei, so geht es uns mit den Elektrizitätswerken. Unsere Gewässer fliessen fast alle hinüber ins Gebiet der Alemannen, und diese haben sie sich auf intelligente Weise nutzbar gemacht. So scheint es uns angemessen, das Wort aus ihrer Sprache zu verwenden und zu sagen: «Jetzt bin ich bei den Elektrizitätswerken angekommen.» Das Feld war – für Minderbegabte – mit einer metonymischen Glühbirne bezeichnet. Sie brannte.
Was den Schauplatz anbelangt, so befand ich mich hier in «quelque part» innerhalb jenes Alpengürtels, den die Verfasser der in den Schulen benutzten Geografiebücher unfruchtbares Land nennen und auf den Kartenblättern mit reichlich aufgetragener, grauer Farbe bezeichnen. Rote Farbe dagegen heisst Leben und bezeichnet die Mittellinie. Ein Besuch von wenigen Stunden in den Bergregionen – und in Begleitung von Sbrinz – dürfte das Gegenteil beweisen, wie ich selber erfahren habe. Wenn man über die Lage des «quelque part» keine ganz genauen Ortsangaben erhält, dann geschieht das nur darum, weil die Vorschrift lautet, über militärische Dinge strengstes Stillschweigen zu bewahren.
Wir haben zum Beispiel zahlreiche Soldaten auf der Erdkruste und im Berginnern angetroffen, die auf verschiedenste Weise produktiv waren. Auf verschiedenartigste Weisen, deren Sinn und Zweck dem Nichteingeweihten vielleicht nicht immer ganz klar geworden wäre. Ein Soldat, der am 10. Juli von Sbrinz darüber befragt wurde, was er mache, antwortete ihm, er suche Kleinholz für das Freudenfeuer am 1. August, unserem Nationalfeiertag. Es gibt ja immer gewisse Defätisten, die sich unterstehen zu protestieren, wie zum Beispiel jene vierundsiebzigjährige Alte, die bei der Rückkehr vom Stall, wo sie das Vieh versorgt hatte, die Dreistigkeit besass zu sagen, dass die Wachmannschaften der Bunker, die am Freitagabend wieder abzogen, ebensogut auch schon am Donnerstag oder am Mittwochabend hätten abziehen können – bei dem bisschen, was sie zu tun hätten.
Solchen Verleumdungen tritt man am besten entgegen mit dem Ausspruch des Professors Pareto von Lausanne, der sagt, dass «schon P. Scipio Emilianus dem an einem Aufstand beteiligten Gesindel vorgehalten habe, sie seien nicht einmal Italiener».
Um den Ausdruck unserer Welschschweizer zu benützen: Dem Kameraden Sbrinz war ich mehr und mehr im Obligo. Er fuhr mich in seiner neuwertigen Mercedes-Occasion herum. Es sei ihm doch ein Vergnügen – natürlich. Im Tessin besuchte er seine Familie, die dort bei einem Kompaniefeldwebel in den Ferien zu Gast war. Auf diese Weise könne er das Wochenende ausnutzen und an den zusätzlichen zwei freien Tagen in Ruhe irgendeine Kaserne, irgendeinen Waffenplatz besuchen. Im Tessin gebe es noch viele Orte, die für Waffenplätze bestens geeignet wären, vor allem in dieser Zeit, da so viele Bauern in die Städte abwandern. Auch zwei Zeughäuser wären zu inspizieren, aber das gehöre zu seinen dienstlichen Aufgaben.
Was die Inspektionen der Armee anbelangt, so gilt der Adjutant Sbrinz wohl als das schärfste Auge des Landes, auch wenn es viele andere, überaus tüchtige Inspektoren gibt. In dreissig Sekunden hat er heraus, wie viele Nadeln in einem Sanitätsschrank fehlen. Seine engsten Freunde nennen ihn Luchsauge Sbrinz, Elektronengehirn-Sbrinz, Cape-Canaveral-Sbrinz oder von Braun.
Ich fragte mich, ob ich Frau Sbrinz einen schönen Osterkuchen oder ein Buch über die Pflanzenwelt der Alpen schicken sollte, um mich zu revanchieren. Sie war eine begeisterte Kräutersammlerin und stellte Tees und Getränke selber her, gab keinen Franken in den Apotheken aus – Ruin des Landes. Und gerade ihr war es beschieden, das Schreckliche zu erblicken: im selben Augenblick, als sie die Augen von den Kräutern zum Himmel hob, um die Uhrzeit zu erraten, sah sie den fliegenden schwarzen Körper, wie er den Bergbach hinabstürzte, Dash, der in grausigem Fall das letzte Ende bergab flog und in einem Tümpel aufschlug, wo das Sturzwasser ihn wie einen Baumstamm um sich selbst drehte und ihn dann von Felsen zu Felsen hinabriss bis zu einem weitläufigen Teich in der Tiefe, im Schatten der Kastanien. Dort blieb er als jammervolles Bündel liegen und wurde dank den Angaben von Frau Sbrinz bald gefunden. Sonst hätten sie ihn wochenlang suchen müssen, hätten an Entführung, unterirdische Verstecke und andere üble Dinge denken müssen.
Nein, Frau Adjutant Sbrinz hatte tatsächlich nichts erkennen können, nur diese Puppe – sie entschuldigte sich für den Ausdruck –, aber genauso habe es ausgesehen, diese Puppe, die sich in den Tümpel warf: ein Wahnsinniger, oder was sonst? Frau Dash? Nein, Frau Dash, die in diesem Augenblick schon Witwe war, hatte sie nicht zu Gesicht bekommen. Beim Kräutersammeln hatte sie sich weit vom Bergpfad entfernt; sie hatte auch keinen Schrei gehört. Vielleicht war die Stimme von den Wasserfällen übertönt worden, ja, ganz sicher, so musste es sein. Ob sie alles gut beobachtet habe? Ach, sie zittere jetzt noch! Sie und ihr Mann waren in ihrem friedlichen Häuschen in Thun nicht an solche Teufeleien gewöhnt. Bescheidenen Leuten passieren solche Dinge nicht! Beim Sterben dieses Unglücksmenschen werden auch seine Millionen ein wenig mitgespielt haben, Millionen, die ihn wohl noch im Traum verfolgten. Nein, solche Ansprüche hatten sie nicht! Für den Teuerungsausgleich wird schon die Verwaltung in Bern besorgt sein, die diese Dinge ganz ordentlich macht. Und Gott möge die Gesundheit schützen: unsere und die von Bern.
Unter diesen Umständen wäre es vielleicht ein Missgriff, ihr ein Geschenk zu schicken. Besser, man beriet sich mit Crunch und man stellte sich tot. In diesem Wagen sass man weich. Sbrinz achtete auf die Strasse, die am Thunersee entlang führte, doch achtete er ebenso auf alles, was ihm der Aufmerksamkeit wert schien, nichts entging ihm.
Geranienschmuck auf den Balkons, Metzgereien, Brunnen, Einfamilienhäuser, Landmaschinen, die heute die Arbeit der Pferde verrichteten.
Er wies auf eine Herde Schweine mitten auf einer Wiese. Sie schienen ganz ruhig. Nirgends gab es Zeichen oder Spuren von Besessenheit. Ein Mann mit einer kurzen Leiter über der Schulter fuhr auf seinem Fahrrad die Landstrasse entlang. Er begegnete einer Frau, die zum Wasserholen an den Brunnen gekommen war. Sie grüssten einander, und er fuhr langsam weiter. Biblische Szene ... Christus? Wenn er nun die Dämonen in den Leib der Schweine bannte, und die Schweine stürzten sich alle in den See, da wäre die Polizei von Thun und auch die von Bern im Augenblick hier! Er würde in den ersten Zug gesetzt, der durch den Lötschberg-Tunnel fährt, und würde in sein Land zurückgeschickt, hinunter zu jenen «über dem Meere hängenden verfallenen Trümmern», wo es auch für ihn einen Platz geben wird. Konnte man nicht in Meiringen haltmachen? Nur einmal im Jahr ein Stück von der hausgemachten Torte essen, ein gutes Glas Bier trinken, und dann hinauf zu den Gipfeln des ewigen Schnees, der die Tätigkeit der Elektrizitätswerke in aller Frische am Leben hält. Sbrinz wandte die Augen jedoch nicht einen Augenblick von der Strasse und gab mit verschmitztem Lächeln bekannt:
«Jetzt fahren wir zu Fräulein Berta.» Er bog nach links ab und fuhr die steile Strasse hinauf.
«Das Fräulein Berta wohnt da oben, zweihundert Meter über uns.»
Wir kamen zu einem einsamen Häuschen mit nur zwei Fenstern und mit roten und weissen Gardinen. Ich lockerte meine Krawatte. Du willst doch nicht etwa andeuten, alter Sbrinz, dass es in der Schweiz geheime Bordelle gibt, Bordelle für Militärs? Aber ich sagte nichts und folgte Sbrinz eine kleine Strecke zu Fuss. Als wir bei dem Häuschen ankamen, erwartete ich, dass er Atem schöpfen, lächeln und ohne zu klopfen die Türe öffnen würde.
«Fräulein Berta, Doktor Agrippa.»
Da sah ich zum ersten Mal, wie Sbrinz den Mund voller Selbstzufriedenheit weit öffnete. Es ist immer gut zu wissen, worüber man in einem Land Befriedigung empfindet. Ich sah die Mundhöhle von Sbrinz bis ganz weit hinten, wo sich die schadhaften Zähne dem Zahnarzt hartnäckig verweigern. Die Tür ging auf, und mitten in der falschen Hütte stand eine glänzend polierte Kanone. Und vor dieser Kanone wurde Hermann Sbrinz wieder er selbst. Auf seinen Wink liess die Ordonnanz den Balkon zur Seite gleiten. Durch das mit den Gardinen gezierte Fenster, das wir von unten gesehen hatten, erschienen die Alpen im Licht. Sbrinz forderte mich auf, an das Zielfernrohr von Berta zu treten und hindurchzuschauen. Das Auge war voller Himmelsblau.
Die Ordonnanz klärte mich auf: Das Häuschen führte zu einem der zahlreichen Bunker, die unsere Alpen durchlöchern. Die Fassade, die sich hier auf den Felsen den angenommenen feindlichen Aufklärungsflugzeugen darbot, liess auf ein hübsches, rustikales Ferienhäuschen mit gardinengeschmückten Fenstern schliessen.
Man brauchte nur den Balkon zu öffnen, und die «dicke Berta» hätte gezeigt, was in ihr steckt. Dem Angreifer würde sie Feuer entgegenschleudern, und in weniger als einer halben Minute wären alle ihre sorgsam in den Bergfalten versteckten Schwestern in den Chor eingefallen.
Auf das Kommando des erfahrenen Wachsoldaten bewegte Berta ihr langes Rohr hierhin und dorthin, auf und ab, gewandter als jeder Zirkuselefant. Grossartig! Aber ich muss doch sagen, es wäre mir lieber gewesen, hier eine von den bleichen Bertas aus dem Kreis 4 in Zürich anzutreffen, die die Ziehharmonika spielen, wenn du dein Bier trinkst.
Diese hingegen, diese alte Kuh, zieht dir in einem Jahr ein Monatsgehalt aus der Tasche.
Sbrinz erhob jetzt den pädagogischen Zeigefinger und klärte mich auf:
«Die Architekten von heute imitieren uns beim Bau ihrer herrschaftlichen Villen, das sieht man ganz deutlich. Der Bunker ist das Leitbild des 20. Jahrhunderts. Wir vom Militär dagegen ahmen in gewissen Fällen die herkömmlichen Bauformen nach, wie sie für die Bergregionen typisch sind. Ich möchte nicht in der Haut eines feindlichen Piloten stecken. Er schaut hinunter, erblickt ein Berghäuschen, seufzt ein wenig auf und zieht davon. Aus dem Berghäuschen aber schiesst diese winzig kleine Mündung. Der Rest lässt sich denken.»
Ja, denken tut wohl. Im Geiste des löblichen Volksheeres halten friedliche Touristen ihren Körper fit und sportlich, indem sie mit der ganzen Familie die steilen Bergpfade hinauf- und hinunterwandern. Friedliche Kühe der Schwyzer Rasse trotten über die Alpenhänge und raufen die duftenden Bergkräuter aus, um sie in Alpenmilch zu verwandeln, die wiederum in Form von Käse in die ganze Welt versandt wird. Und nur wenig unter der Erdrinde das Wunderwerk des Pioniercorps: Forts und Unterstände, Waffendepots, Befestigungen vom Fuss bis zum Gipfel der Alpen, Abschreckung somit auch für die kampflustigsten Staaten.
Sbrinz ging noch weiter: «Unser Vaterland ist, als einziges Land auf der Erde, wie ich glaube, auf dem Milizheer und nicht auf dem Berufsheer gegründet. Darum hat jeder Soldat sein Gewehr bei sich zu Hause. Nun stelle ich mir die Frage – und ich stelle sie auch Ihnen, wie ich sie schon meinen Vorgesetzten gestellt habe: ebenso wie in jedem Neubau ein atomsicherer Schutzraum gesetzlich vorgeschrieben ist, so sollte doch auch – meinetwegen neben dem Gästezimmer – ein Raum für die Kanone vorgesehen sein, meinen Sie nicht auch? Der Rest lässt sich denken ...»
Ja, denken ist leicht. Wir fuhren bis zum Pass hinauf, den wir schon als Kinder zu lieben gelernt hatten.
Die lange Autoschlange der Touristen rückte bedächtig vor und blieb hie und da stehen.
«Erinnern Sie sich an Paul Egli4, den Radrennfahrer? Das waren goldene Zeiten. In der selben Zeit, die wir brauchen, um hundert Meter voranzukommen, machte er die ganze Abfahrt vom Gotthard. Es ist wahrhaftig ein Unfug, wenn irgendein Windbeutel aus Amerika behauptet, unser Land habe einzig und allein die Kuckucksuhr erfunden.»
In der Nationalakademie von Sbrinz gab es nicht nur die Leuchte Paul Egli. Hinter jeder Kurve, bei jedem Gangwechsel erschien eine neue Geistesgrösse. «Urs Graf, grosser Geist des Eklektizismus, Universalgenie!»
Kühn überholte er einen Lastwagen aus Baselland, der mit vielen Lampen bestückt war, und er rief aus:
«Oekolampadius!»
Er nahm eine Kurve, der Motor heulte auf:
«Euler! Paracelsus! »
«Grosse Philosophen haben wir leider keine hervorgebracht.» Sbrinz lächelte geduldig und machte die für Ostschweizer typische Handbewegung, mit der sie einen Einwand wie eine lästige Fliege abwehren.
«Ach!»
Auf seine Weise hatte er aber sehr gut verstanden, und hatte nicht auch jemand darüber geschrieben, dass es in unserem Land keine grossen Philosophen gibt und nie welche gab? Der Gedanke hat sich bei uns von Anfang an in die Bewältigung der Wirklichkeit, in Gesetzgebung, verwandelt. Die Philosophie realisierte sich im Gesetzeskodex. Jeder Schweizer wacht in Tat und Wahrheit über die Schweiz, die in jedem ihrer Bewohner wertbestimmend vorhanden ist. Jeder Mitbürger ist also von Natur aus ihr Wächter. Das ist unsere beste Waffe: der wachsame Blick. Schliesslich sind wir alle so weit, diese Wachsamkeit zu verinnerlichen, indem wir uns selber bewachen. Wachsamkeit über sich selbst und gegen sich selbst.
Diese persönliche Aufsicht ist wie das Wasser der Bäche, das sich heiter im grossen Becken vereinigt, dann auf die Turbinen der Wasserkraftwerke hinabstürzt und sich in Energie verwandelt; Hochspannungsleitungen schwingen sich, von kühnen Masten getragen, über Abgründe und transportieren die Elektrizität in alle Landesteile und bis ins Ausland. Unsere weisse Kohle! So ausserordentlich rentabel! Und kostet fast nichts.
«Sie müssen mir etwas versprechen. Sie müssen mit mir kommen und das nationale Reduit besichtigen. Das ist eine ganze, verborgene Stadt, hier unter uns, mit Küchen wie in den grossen Hotels, mit einem Bahnhof und Elektrizitätswerken, und in den Sälen ist Parkett verlegt worden.»
«Wir befinden uns auf dem Gipfel des kostbarsten Berges der Welt. Unter uns liegt ein Konzentrat unserer Heimat, die Quintessenz unseres Landes, unangreifbar.»
Ein Tourist hätte nichts bemerkt. Wer die Wege verlässt und sich in abgelegene Gebiete wagt, stösst hie und da auf ein Schild mit der Aufschrift: «Militärgebiet. Zutritt verboten.»
Für dieses Militärgebiet hatte man die schönsten Gegenden des Landes erworben und mit Stacheldraht umzäunt – dort, wo keine Lawinen- oder Überschwemmungsgefahr zu fürchten war. Genauso waren in vergangenen Jahrhunderten die Ordensgemeinschaften vorgegangen, wenn sie ihre Klöster bauen wollten.
«Jetzt geht es abwärts, und wir kommen in Ihre Gegend. Macht es Ihnen Freude, die Luft des Südens zu spüren?»
Er schaltete das Radio ein und suchte für mich den Sender Monteceneri. Man spielte Bach, und ich fragte mich, was wohl geschehen sein mochte, eine Naturkatastrophe, oder ob ein bedeutender Staatsmann gestorben sei. In den Nachrichten war aber nur die Rede von unerwarteten Schneefällen, die die Spuren des im schottischen Bergland verunglückten Flugzeuges ausgelöscht hatten.
Der Sprecher fuhr fort: «In Reno» – er sprach es geziert aus wie Riino – «sind nach einem Familienstreit sechs Tote und zahlreiche Verletzte zu beklagen; zu den Opfern des Wahnsinnigen gehören seine Verlobte und ein zwölfjähriges Mädchen, das mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte.»
«Achhh! », rief Sbrinz aus und wurde plötzlich finster. «Die mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte! Wenn man bedenkt, dass alle so leben könnten wie wir!»
Er machte das Radio ärgerlich aus und sprach während der ganzen Abfahrt kein Wort mehr.
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