Kitabı oku: «Lehrbuch der Psychotraumatologie», sayfa 3

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Erklärung: Doppelpfeil für Übersetzungsprozesse, einfacher Pfeil für Aufwärts- bzw. Abwärtseffekte. Weitere Erläuterungen im Text.

Abbildung 2: Das Modell der Systemhierarchie

Neben der begrenzten Geltung somatischer Metaphern muss die Psychotraumatologie so genannte „Mehr-Ebenen-Effekte“ berücksichtigen, die sich über die physiko-chemische, biologische und psychosoziale Ebene hinweg fortpflanzen, und zwar in beide Richtungen. Thure von Uexküll und Paul Wesiack sprechen in ihrer Arbeit zur „Theorie der Humanmedizin“ (1988) von Aufwärts- und Abwärtseffekten. Abbildung 2 zeigt das Modell der Systemebenen nach Thure von Uexküll (1988, 171, modifiziert von uns).

Ein psychosoziales Trauma, etwa ein → Beziehungstrauma, kann physiologische Regelkreise einbeziehen und einen dauerhaften Überlastungszustand dieser Systemebene unter Einschluss biochemischer und biophysikalischer Subsysteme nach sich ziehen. Umgekehrt können sich in traumatischen Überlastungssituationen und im Anschluss daran die Funktionsbedingungen von ZNS und autonomem Nervensystem derart verändern, dass es relativ unabhängig vom im engeren Sinne psychischen Prozess der Traumaverarbeitung zu einem „Kurzschluss“ zwischen den Ebenen 1, 2 und 3 kommt: die physiologische Reaktionsebene wird von der psychischen weitgehend abgekoppelt. In diesem Sinne sprach schon Abraham Kardiner (1941) von der traumatischen Neurose als einer „Physioneurose“ (im Unterschied zu den sog. Psychoneurosen).

Eine interessante Hypothese ist, dass extreme traumatische Belastungssituationen regelmäßig einen solchen „Kurzschlusseffekt“ ausüben, indem sie die Ebenen des ontologischen Stufenmodells in pathologischer Weise zusammenführen. Die Folge ist, dass Naturgesetze und funktionale Normen, die normalerweise nur auf den Ebenen 1 und 2 Geltung haben, nun plötzlich auch die psychosoziale Ebene regieren. Das Trauma kann eine künstliche „Physiologisierung“ der psychosozialen Systemebene bewirken. Die Fähigkeit zur freien Bestimmung von Sollwerten und Handlungszielen wird dann tendenziell außer Kraft gesetzt. Im engeren, vom Trauma bestimmten und verzerrten Persönlichkeitsbereich folgt das Individuum funktionellen bzw. statistischen Normen und wird durch die traumatische Reizkonstellation so vollständig beherrscht, wie es das Reiz-Reaktions-Schema im klassischen → Behaviorismus vorsieht. Dies insbesondere in Erlebens- und Verhaltensbereichen, die vom → Wiederholungszwang betroffen sind und Tendenzen der → Traumatophilie unterliegen. Die Erklärung kann hier aber immer nur eine quasi-physiologische sein. Auch hier setzt die umfassende Erklärung an bei der traumabedingten Modifikation von Qualitäten der psychosozialen Systemebene. Die Möglichkeit, Handlungsziele und Werte innerhalb des von den Ebenen 1 und 2 freigelassenen „Spielraums“ unseres Verhaltens (Waldenfels 1980) zu entwerfen und diese mit adäquaten Mitteln zu verwirklichen ist (partiell) verloren. Traumatisch gebrochene Orientierungs- und Verhaltensschemata sind häufig durch eine veränderte Zielorientierung bestimmt, in der Sphäre der Mittel zur Zielverwirklichung wie auch der gesetzten Ziele selbst (vgl. die beiden Typen von „Dysfunktionalität“ in Tabelle 1, Abschnitt B3). Sie erwecken den Anschein rein „biologisch“ gesteuerter Abläufe und könnten dem biologischen Reduktionismus Vorschub leisten. Unser Mehr-Ebenen-Modell kann aber verdeutlichen, dass der biologische Determinismus keine primäre Gegebenheit ist, sondern sich dem traumatischen Verlust selbstregulativer Eigenschaften der psychosozialen Ebene verdankt.

Aus den Überlegungen dieses Abschnitts folgt für die Psychotraumatologie, dass sie mit Begriffen arbeiten muss, die der psychosozialen Ebene und ihrer Verletzlichkeit in besonderer Weise angemessen sind. Wir werden dafür später einige Konzepte vorschlagen wie „Traumaschema“, „traumakompensatorisches Schema“ oder „Desillusionierungsschema“, um die Desorientierung und die Versuche zur Reorientierung zu analysieren, die traumatische Erfahrungen in der Regel auslösen. Organische Metaphern und parallel zu ihnen die Ansätze biologischer Traumaforschung zeigen die verletzten funktionalen Normen der biologischen Wirklichkeitsebene auf und sind insofern für die Traumaforschung unentbehrlich. Als Rahmenkonzepte hingegen eignen sie sich nicht. Letztere müssen der psychosozialen Ebene entstammen und deren Eigenheiten zum Ausdruck bringen. Andernfalls würde Psychotraumatologie auf (somatische) Traumatologie reduziert und es ergäbe sich eine weitere Variante des naturwissenschaftlichen Reduktionismus. Psychotraumatologie verlangt, seelische Verletzungen des Menschen bis in seine Biosphäre hinein zu verfolgen und die Erscheinungen des Traumas auch aus der Verletzung der dort geltenden Regelsysteme zu erklären. Als Psycho-Traumatologie erhält die Traumaforschung jedoch den umfassenderen Bezug zum Welt- und Selbstverhältnis des Menschen aufrecht und thematisiert damit zugleich die spezifisch menschliche Form von Verletzlichkeit.

1.3 Zur Geschichte der Psychotraumatologie

Seelische Verletzungen als Folge von Katastrophen, Verlusten und Kränkungen sind so spektakuläre Erscheinungen, dass sie der Aufmerksamkeit der Menschen zu keiner Zeit entgangen sein dürften. Die „natural history“, gewissermaßen die „Naturgeschichte“ der Psychotraumatologie enthält zahlreiche Belege, dass die Menschen seit frühester Zeit über Kenntnisse und Praktiken zur Milderung traumatischer Erfahrungen verfügten. Wilson (1989) beschreibt Rituale verschiedener Völker, die diesen Zweck erfüllen sollen. Zu unterscheiden von dieser naturwüchsigen Geschichte der Psychotraumatologie ist die Geschichte der modernen Wissenschaft und ihrer Beiträge zur Begründung explizit traumatologischer Konzepte psychologischer oder psychosomatischer Art. In die „natural history“-Forschung fallen folgende Fragen: Wie sind die Menschen in ihrer Geschichte und im interkulturellen Vergleich mit psychischer Traumatisierung umgegangen? Wie haben sie das Phänomen und die Folgen zu beschreiben versucht und welche natürlichen, „intuitiven“ Maßnahmen haben sie gegen Traumata entwickelt? Die wissenschaftlichen Ansätze unterscheiden sich von diesen intuitiven Versuchen durch bewusste Reflexion, Klassifikationsversuche und systematische Forschung. Weder die natürliche Geschichte der Psychotraumatologie noch ihre wissenschaftliche aber sind allein aus sich heraus zu verstehen. Sie müssen vielmehr untersucht werden im Zusammenhang mit erschütternden Ereignissen in der Sozialgeschichte.

Verschiedene wissenschaftliche Konzepte zur Erklärung und Heilung psychischer Traumata sind bei historischen Anlässen entstanden. Das Konzept der „traumatischen Neurose“ wurde im 19. Jahrhundert entwickelt und im 1. Weltkrieg ausgebaut, als die Psychiatrie mit den Opfern von Kriegsneurosen konfrontiert war. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit psychischer Traumatisierung wurde nach dem 2. Weltkrieg durch Überlebende des Holocaust angeregt. In den Entschädigungsverhandlungen vertraten vor allem deutsche Psychiater die These, KZ-Folgeschäden seien maßgeblich auf die erbliche Veranlagung der Betroffenen zurückzuführen. Pross (1995) hat dieses unrühmliche Kapitel der deutschen Nachkriegspsychiatrie unter dem Titel „die Verfolgung der Verfolgten“ medizingeschichtlich aufgearbeitet. Die unsinnige Argumentation hat in der Folgezeit jedoch zu verstärkten Forschungsbemühungen geführt, die unsere Kenntnis der Traumafolgen allmählich auf ein wissenschaftliches Fundament stellen.

Ein weiteres historisches Ereignis, das zur Entwicklung der Psychotraumatologie beitrug, war der Vietnamkrieg. Viele Kriegsveteranen entwickelten psychopathologische Auffälligkeiten. Sie mussten in eigenen Anlaufstellen und „veteran-centers“ betreut werden. Aus der Arbeit der Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter und Pädagogen mit dieser Klientel erwuchs allmählich ein immer detaillierteres Wissen über den Zusammenhang zwischen Kriegssituation und Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, das u. a. zur Formulierung des sog. „posttraumatischen Stresssyndroms“ (Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) geführt hat. Auch Naturkatastrophen haben die Traumaforschung verstärkt, wie etwa die Flutkatastrophe bei Buffalo Creek in West-Virginia im Jahre 1972. Aus der ersten Hilflosigkeit gingen intensive Forschungsarbeit und therapeutische Bemühungen um die Opfer hervor.

Neben Naturkatastrophen und Kriegen sind als Anstoß für die psychotraumatische Forschungsarbeit auch soziale Bewegungen zu nennen, vor allem solche, die sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung wenden. Die Arbeiterbewegung und andere emanzipatorische Strömungen haben ausbeuterische Arbeitsverhältnisse angeprangert, zur Humanisierung der Arbeit beigetragen und zusammen mit den geistigen Kräften der Aufklärung die Abschaffung der Kinderarbeit in Europa erreicht. Seit der Französischen Revolution wurde die Folter in aller Welt geächtet. Die Frauenbewegung hat immer wieder verdeckte Gewaltverhältnisse gegen Frauen und Kinder an die Öffentlichkeit gebracht. Initiativen gegen Kindesmisshandlung und sexuellen Kindesmissbrauch sowie allgemein gegen Unterdrückung und Benachteiligung von Kindern sind zu erwähnen, ferner Befreiungsbewegungen sozial unterdrückter Minderheiten und Völker oder Initiativgruppen, die sich mit diesen Befreiungskämpfen solidarisierten. Im Folgenden wenden wir uns zunächst der „natural history“ zu und kehren dann zur wissenschaftlichen Traumadiskussion zurück.

1.3.1 Naturgeschichte der Psychotraumatologie

Um diese Geschichte zu schreiben, müssen wir uns vor allem mit den kulturellen Erfindungen der Menschheit befassen. Manche Rituale, Sitten und Gebräuche entstammen der Not, mit psychischer Traumatisierung zurechtzukommen. Trauerrituale, die in allen Zeiten und bei allen Völkern verbreitet sind, können hier als Beispiel gelten. Mythen, Religionen, später auch Literatur und Philosophie sind voll von Auseinandersetzung mit Leiden und Tod und dem Eindruck, der Prägewirkung, den diese bei den betroffenen Menschen hinterlässt (→ Todesprägung). Letztlich sind die Menschen in ihren kulturellen Schöpfungen bemüht, eine Antwort zu finden auf die Sinnfrage, welche Leiden, Tod, soziale Gewalt und Naturkatastrophen aufwerfen. Vor allem vom Umgang der Dichterinnen und Dichter mit diesen Problemen kann eine wissenschaftliche Psychotraumatologie lernen. Dichter haben immer wieder traumatisierende Lebensumstände beschrieben und Möglichkeiten der Betroffenen, in ihnen zu überleben. Oft hatte die Darstellung aufrüttelnde und sozial verändernde Auswirkungen. Ein Beispiel ist der Roman „Oliver Twist“ von Charles Dickens. Darin wird einmal die psychische Situation eines Jungen beschrieben, der seine Eltern verloren hat. Sozialkritisch wird zudem dargestellt, wie soziale Einrichtungen, die diese schwere Lebenslage mildern sollen, zusätzlich noch zur Erniedrigung und Traumatisierung der Betroffenen beitragen können. Viele Märchen handeln vom Umgang mit Traumen und von Möglichkeiten ihrer schrittweisen Überwindung (vgl. etwa die Untersuchung von „Prinz Eisenherz“ bei Holderegger 1993)

Ein anderer Zugang zur Kulturpsychologie des Traumas besteht darin, das Lebenswerk kreativer Künstler, von Dichtern und Schriftstellern etwa, auf die Traumabewältigung hin zu untersuchen, die in ihrer literarischen Schöpfung zum Ausdruck kommt. Der Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre beispielsweise hatte um das erste Lebensjahr ein schweres → Deprivationstrauma erlitten, dessen Auswirkung sich bis in seine berühmte Autobiographie „les mots“ (1965) und die Entwürfe seiner Philosophie aufzeigen lässt (Fischer 1992). Wie viele andere Künstler ist Sartre ein Beispiel für kreative Traumabewältigung. Solche Beispiele werfen ein Licht auf die soziale Funktion von Kunst und Philosophie, deren Beitrag zu einem kreativen und kulturell tradierbaren Umgang mit Traumatisierung von den Kulturwissenschaften gerade erst entdeckt wird. Aus der psychoanalytischen Literaturwissenschaft kann die Methode des „traumaanalogen Verstehens“ von Vietighoff-Scheel (1991) erwähnt werden. An Texten von Kafka zeigt die Autorin in sehr subtiler Weise Mechanismen literarischer Traumadarstellung und -verarbeitung auf. Eine Übersicht über psychoanalytische Beiträge zur Literaturtheorie und -forschung bietet das Kompendium von Pfeifer (1989). Psychologisch-historische Forschungsansätze wie etwa die „Geschichte der Kindheit“ von DeMause (1977) haben unser historisch vergleichendes und systematisches Wissen über traumatische Lebensbedingungen in der Kindheit sehr erweitert.

An der „Ilias“, einem Kriegsbericht aus dem europäischen Altertum lässt sich zeigen, dass Homer, der „Geschichtsschreiber“ und Dichter, traumatische Reaktionen eindringlich zu schildern verstand. Shay (1991) macht darauf aufmerksam, dass die Ilias ein Kriegstrauma detailliert beschreibt und auch Wege zu seiner Überwindung aufzeigt. Der bedeutendste Held der Griechen, Achilles, entwickelt im Kampf vor Troja psychotraumatische Symptome, die recht genau denen, die wir heute kennen, entsprechen.

Shay nennt folgende Merkmale dieser besonderen Form von Kriegstraumatisierung: ein Erlebnis von Verrat oder ein Verstoß gegen das, was der Soldat als sein gutes Recht betrachtet; enttäuschter Rückzug auf einen kleinen Kreis von Freunden und Kameraden; Trauer- und Schuldgefühle wegen des Todes eines besonders befreundeten Kameraden; Lust auf Vergeltung; nicht mehr heimkehren wollen; sich wie tot fühlen; dann eine berserkerartige Raserei mit Entehrung des Feindes und extremen Grausamkeiten. Einzelne Symptome oder auch das gesamte Syndrom finden sich gehäuft in den Berichten von Kriegsteilnehmern, die nach ihrem Einsatz ein psychotraumatisches Belastungssyndrom entwickeln.

Achilles gerät mit dem Heerführer der Griechen, Agamemnon, in Streit, nachdem ihm dieser seine Lieblingssklavin Briseis genommen hatte, welche Achilles für besondere Tapferkeit als Beute zugesprochen worden war. Achilles zieht sich schmollend zurück und pflegt eine intensive Freundschaft mit Patroklos. Als dann die Griechen von den Trojanern immer stärker in die Defensive gedrängt werden, bittet Agamemnon den Achilles als den tapfersten und bewährtesten Krieger, seinen Rückzug aufzugeben, in die Schlacht einzugreifen und das griechische Heer zu retten. Achilles weigert sich und lässt statt dessen seinen Freund Patroklos kämpfen. Diesem gelingt es, die Trojaner zurückzuschlagen. Schließlich wird Patroklos jedoch von Hektor, dem tapfersten Kriegshelden der Trojaner getötet.

Als Achilles die Botschaft von Patroklos̓ Tod überbracht wird, verfällt er in einen affektiven Ausnahmezustand mit extremen Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und heftiger Trauer, den Homer folgendermaßen beschreibt:

„Patroklos liegt nun tot und sie kämpften bereits um den Leichnam. Nackt wie er ist; denn die Waffen besitzt der geschmeidige Hektor. Sprach̓s (der Bote) und jenen (Achilles) umfing die finstere Wolke der Trauer. Gleich mit den beiden Händen den Staub, den geschwärzten ergreifend, überstreut er den Kopf und entstellt er sein liebliches Antlitz. Asche haftete rings am Nektar duftenden Kleide. Selbst aber lag er groß, lang niedergestreckt in dem Staube, raufte sein Haar und beschmutzt̓ es sogleich mit den eigenen Händen“ (Homer, Illias, 18. Gesang, Vers 20, Übers. Hans Rupe: 1990, 387).

Seiner Mutter Tetis, die ihn trösten will, schwört Achilles, nicht eher aus dem Kriege zurückzukehren, bis er den Tod seines Freundes Patroklos an Hektor gerächt habe. Er verfällt darauf in eine raptusartige, berserkerhafte Raserei, worin er alle Rücksichten vergisst und viele Trojaner tötet, schließlich auch Hektor, den Mörder seines Freundes.

Shay beschreibt diesen berserkerhaften Ausnahmezustand als Verlust von Furcht und jedem Gefühl eigener Verletzlichkeit; es wird keine Rücksicht auf die eigene Sicherheit genommen; eine übermenschliche Kraft und Ausdauer entwickelt sich; Wut, Grausamkeit ohne Einhalten oder Unterscheidungsfähigkeit; eine Übererregtheit des autonomen Nervensystems, von den Betroffenen oft beschrieben als „Adrenalinrausch“ oder „als käme Elektrizität aus mir heraus“ (570).

So ergeht es auch dem Achilles. Er steigert sich immer weiter in sein rauschhaftes Racheerleben hinein und scheut nicht einmal davor zurück, den Leichnam des getöteten Gegners, des Helden Hektor zu entehren und ihm die Bestattung zu verweigern. Schließlich erscheint Hektors Vater Priamos, der schon dem Tode nahe ist und bittet Achilles, seinen Sohn herauszugeben. Nach langer Debatte geht dieser schließlich auf die Bitte ein und kehrt so zur Normalität der damaligen Kriegssitten zurück, in denen die Entehrung des toten Feindes dem stärksten Tabu unterlag. Jetzt gibt Achilles auch seinen sozialen Rückzug auf und wird wieder zu einem „normalen“ griechischen Krieger.

Achilles̓ gefährlicher Ausnahmezustand begann demnach mit einer Verletzung von Regeln und Gebräuchen, die im damaligen Griechenland heilig waren. Shay hat in seiner Arbeit mit kriegstraumatisierten Vietnamveteranen beobachtet, dass ein Verstoß gegen geschriebene oder ungeschriebene Regeln selbst in Kriegszeiten, in denen viele der sonst gültigen Normen außer Kraft gesetzt sind, einer späteren psychotraumatischen Belastungsstörung vorausgegangen war. Paradox genug macht sich die traumatische Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis, die wir unserer Traumadefinition zugrunde legen, selbst unter den weitgehend anomischen Bedingungen des Krieges als besonderer traumatogener Faktor bemerkbar.

1.3.2 Wissenschaftsgeschichte der Psychotraumatologie

Unter den wissenschaftlichen Pionierleistungen, die in der Psychotraumatologie zusammenfließen, sind u. a. der sehr eigenständige Ansatz von Janet zu nennen, die Psychoanalyse und die auf den schwedischen Internisten Selye zurückgehende Stress- und → Copingforschung. Pierre Janet (1859-1947) und Sigmund Freud (1856-1939), Begründer der Psychoanalyse, waren Zeitgenossen. Während Freud und sein Werk vor allem auch für den therapeutischen Umgang mit Traumatisierung historisch sehr bedeutsam wurde, blieben Janets Arbeiten lange Zeit ohne großen Einfluss, wurden dann aber in ihrer Pionierrolle für die Psychotraumatologie gewürdigt. Van der Kolk et al. (1989), die sich mit Janet als einem Vorläufer der modernen Psychotraumatologie befassen, bemerken dazu:

„Es ist eine Ironie, daß in den ausgehenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Psychiatrie erst langsam eine Wissensbasis wiederentdeckt über die Auswirkung von Traumatisierung auf psychologische Prozesse, die zentral war in den europäischen Konzeptionen der Psychopathologie während der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts“ (Übers. die Verf., 365).

Demnach hat es beinahe 100 Jahre gedauert, bis die Arbeiten Janets wieder die Bedeutung erlangten, die sie für Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie um die Jahrhundertwende hatten. Janet hatte seinerzeit ebenso wie zeitweilig auch Freud, mit dem berühmten Hypnosearzt Charcot an der Pariser Salpetriere zusammengearbeitet. Aus den Hypnoseexperimenten und den therapeutischen Ansätzen Charcots ging hervor, dass zahlreiche psychopathologische Auffälligkeiten und Symptombildungen, unter denen die psychiatrischen Patienten litten, mit verdrängten Erinnerungen an traumatische Erlebnisse zusammenhingen. Janet zog als erster den Begriff der → Dissoziation als Erklärungskonzept heran. Dissoziationen ergeben sich nach Janet als Folge einer Überforderung des Bewusstseins bei der Verarbeitung traumatischer, überwältigender Erlebnissituationen. In seiner Arbeit „L̓automatisme psychologique“ (1889) führt er aus, dass die Erinnerung an eine traumatische Erfahrung oft nicht angemessen verarbeitet werden kann: sie wird daher vom Bewusstsein abgespalten, dissoziiert, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzuleben, entweder als emotionaler Erlebniszustand, als körperliches Zustandsbild, in Form von Vorstellungen und Bildern oder von Reinszenierungen im Verhalten. Die nicht integrierbaren Erlebniszustände können im Extremfall zur Ausbildung unterschiedlicher Teilpersönlichkeiten führen, was der dissoziativen Identitätsstörung entspricht. Janet hat als erster Gedächtnisstörungen beschrieben, die mit Traumatisierung einhergehen. Er erklärte postexpositorische Amnesien oder Hypermnesien (übergenaue Erinnerungsbilder) als eine Art Übersetzungsfehler, als Unfähigkeit, die traumatische Erfahrung in eine weniger furchterregende Erzählung übertragen zu können (Janet 1904).

Die Unterscheidung verschiedener Repräsentationsformen des Gedächtnisses, wie sie auch in der modernen kognitiven Forschung üblich ist, in enaktiv (verhaltensgesteuert), ikonisch (bildhaft) und symbolisch-linguistisch (Kihlstrom 1984) hat Janets Student Jean Piaget aufgegriffen und auf die Entwicklungsstadien von sensomotorisch-präoperationalen und symbolgesteuert-operationalen Denkvorgängen übertragen. Janets Arbeiten sind vielfach im Werk von Piaget wirksam geworden. Den traumazentrierten Ansatz Janets hat Piaget allerdings nicht weiterverfolgt. Bedeutsam auch heute noch für die Psychotraumatologie ist Janets Entdeckung, dass traumatische Erfahrungen, die nicht mit Worten beschrieben werden können, sich in Bildern, körperlichen Reaktionen und im Verhalten manifestieren. Der „unaussprechliche Schrecken“, den das Trauma hinterlässt, entzieht sich den höheren kognitiven Organisationsebenen, hinterlässt aber seine Spuren auf elementaren, → semiotisch niedrigeren Repräsentationsstufen. Wir bezeichnen diese psychische Struktur mit Erinnerungsfragmenten auf unterschiedlichen Repräsentationsebenen und der charakteristischen Spaltung von Wahrnehmungs- und Handlungsteil als → Traumaschema.

Festzuhalten als Verdienst dieses Forschers bleibt eine recht differenzierte Theorie über Traumatisierung und Gedächtnisstörungen, Reinszenierung des Traumas im Verhalten und auf unterschiedlichen kognitiven Repräsentationsebenen. Besonders bedeutsam ist Janets Konzept einer Dissoziation unterschiedlicher Bewusstseinszustände, die in extremen Fällen zu sich verselbständigenden Teilpersönlichkeiten führen kann. In der psychoanalytischen Theorietradition wurde das Konzept sich verselbständigender Erlebniszustände nur von wenigen Forschern aufgegriffen so etwa von Paul Federn (1952) mit seiner Theorie der „Ich-Zustände“ oder von Mardi Horowitz (1979) in seinem Konzept der „states of mind“, von persönlichkeitstypischen Erlebniszuständen oder Stimmungslagen (vgl. hierzu auch Fischer 1989). Ansonsten hat die Entwicklung der Traumatheorie bei Freud einen etwas anderen Verlauf genommen und andere Akzente gesetzt.

Die Frage, wie weit zwischen Janet und Freud grundsätzlich vereinbare oder einander ausschließende Traumakonzeptionen vorliegen, ist nicht leicht zu entscheiden. Fest steht jedenfalls, dass Freud unterschiedliche Akzente setzte. Auch in Freuds frühen Werken findet sich der Begriff Dissoziation. Freud führte aber bald das Konzept der Abwehr ein, als deren Prototyp die Verdrängung gelten kann. Dabei handelt es sich um ein motiviertes, absichtsvolles Vergessen. Traumatische Erfahrungen werden also demzufolge nicht nur deshalb dissoziiert, weil das Bewusstsein momentan mit ihrer Verarbeitung überfordert wäre. Vielmehr werden sie vom Bewusstsein aktiv ferngehalten, weil ihre Integration die Persönlichkeit mit unangenehmen oder gar unerträglichen Affekten überlasten würde.

In seiner Beschäftigung mit dem psychischen Trauma hat Freud sehr unterschiedliche Epochen durchlaufen. In einer frühen Phase, wie sie sich z. B. in den Studien zur Hysterie (1875) widerspiegelt, war er davon überzeugt, dass eine reale traumatische Erfahrung, insbesondere sexuelle Verführung von Kindern, jeder späteren hysterischen Störung zugrundeliege. In einer späteren Forschungsperiode (etwa ab 1905) relativierte er diese Auffassung. Mit der Erforschung des kindlichen Sexuallebens arbeitete Freud die Rolle kindlicher Triebwünsche und Phantasiebildungen bei der Entstehung neurotischer Störungen heraus. An einer realen Verführung als möglicher Ursache späterer Störungen hielt Freud allerdings weiterhin fest: „...ich kann nicht zugestehen, dass ich in meiner Abhandlung 1896 „Über die Ätiologie der Hysterie“ die Häufigkeit oder die Bedeutung derselben überschätzt habe, wenngleich ich damals noch nicht wusste, dass normal gebliebene Individuen in ihren Kinderjahren die nämlichen Erlebnisse gehabt haben können, und darum die Verführung höher wertete als die in der sexuellen Konstitution und Entwicklung gegebenen Faktoren“ (Freud 1905d, 91).

Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, wie weit Freud in seiner frühen Forschung zur Entstehungsgeschichte der Hysterie einer einseitigen Stichprobenauswahl zum Opfer gefallen war. Unter seinen Patientinnen, die in den Studien zur Hysterie erwähnt sind, befand sich möglicherweise eine überhöhte Quote mit realen sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit. Freuds Schlussfolgerung, dass hysterischen Störungen in jedem Falle sexuelle Verführung zugrunde liegen müsse, war forschungslogisch und empirisch tatsächlich nicht haltbar. Heute wissen wir, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit zwar auch zu einer hysterischen Störung führen kann, ebenso gut aber auch zu anderen Bildern wie dem Borderline-Syndrom oder dissoziativen Störungen (vgl. Kap. 9.4.6) Auch in der „follow-back“-Perspektive hat eine neurotische Störung, eine hysterische Neurose keineswegs immer psychotraumatische Ursachen. Unterschiedliche biologische und sozialisatorische Einflüsse können eine neurotische Entwicklung einleiten, darunter etwa auch die Verwöhnung von Kindern durch überfürsorgliche Erwachsene. Zudem können sehr unterschiedliche kindliche Traumen später zu einem ähnlichen Störungsbild führen. Ein Deprivationstrauma kann ein depressives, narzisstisches, aber auch hysterisches Störungsbild nach sich ziehen, abhängig wohl vor allem von unterschiedlichen Konstellationen der traumatischen Situation. Nach Kriterien der psychotraumatologischen Forschungslogik hatte Freud gute Gründe, seine erste, pauschal verallgemeinernde Theorie von der Ätiologie der Hysterie zu revidieren.

Daraus ist gegen Freud wiederholt der Vorwurf abgeleitet worden, er habe die Verführungstheorie aufgegeben, um der sozialen Ächtung zu entgehen, die mit seiner frühen Entdeckung verbunden war (etwa Masson 1984b). Zweifellos hatte Freud an ein Tabu gerührt, wie so oft bei psychotraumatologischen Forschungsthemen. Freud berichtet von einem Vortragsabend im „Psychiatrischen Verein“ Wien. Dort hatte er seine Thesen zur Ätiologie der Hysterie vorgetragen. Die Reaktion der Kollegen schildert er in einem Brief an seinen Freund Fließ folgendermaßen:

„Ein Vortrag über Ätiologie der Hysterie im Psychiatrischen Verein fand bei den Eseln eine eisige Aufnahme und von Krafft-Ebing (dem Chef der Psychiatrischen Universitätsklinik) die seltsame Beurteilung: Es klingt wie ein wissenschaftliches Märchen. Und dies, nachdem man ihnen die Lösung eines mehrtausendjährigen Problems, ein caput Nili, aufgezeigt hat!“ (aus den Briefen an Fließ, Freud 1962).

Freud fuhr fort, wie wir aus der erweiterten Ausgabe der Briefe an Fließ inzwischen wissen: „Sie können mich alle Gernhaben“. Er war also keineswegs gewillt, die neue Entdeckung dem gängigen Vorurteil zu opfern. Auch hat er sie später nicht pauschal als irrtümlich bezeichnet. Der Nachweis zwischen traumatischer Kindheitserfahrung und späterer Pathologie wurde in den Studien zur Hysterie sorgfältig geführt. Wir können diese Schrift auch heute noch als einen differenzierten Beitrag zur Erforschung traumatischer Prozesse nach sexuellem Kindesmissbrauch lesen. Vorbildlich sind sie in ihrer Rekonstruktion des komplexen Zusammenhangs zwischen traumatischer Situation, Reaktion und Prozess, der einer ebenso differenzierten qualitativen Methodik bedarf, wie Freud sie damals in Ansätzen entwickelt hatte.

In seinen späteren Arbeiten hat sich Freud stärker der Erforschung des Innenlebens zugewandt als zur Zeit der „Studien“, so z. B. in den „drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905d), in denen er die Phasen der → psychosexuellen Entwicklung erforschte. Der Vorwurf, er habe mit der Hinwendung zu den Sexualphantasien der Kinder und ihrer eigenen sexuellen Neugierde und Aktivität die Verführungstheorie außer Kraft gesetzt oder „verraten“, scheint wenig überzeugend. Kinder haben ein eigenes erotisches und sexuelles Phantasieleben, das durch aktive Sexualisierung, wie sie zur pathogenen Dynamik bei sexuellem Kindesmissbrauch gehört (vgl. Abschnitt 9.4) traumatisch gestört wird. Die Überfremdung und Ausbeutung der kindlichen Spontaneität durch die Erwachsenen bildet hier, wie oft beim kindlichen Beziehungstrauma, ein → zentrales traumatisches Situationsthema und den Punkt → maximaler Interferenz von Subjekt und traumatogenen Situationsfaktoren. Wir verdanken Freud die Einsicht in die kindliche Erlebniswelt, ein Bild vom Kind als unverzagtem kleinem „Sexualforscher“, das mit seiner Intelligenz und Neugierde den Desorientierungsversuchen der Erwachsenen, den Geschichten vom Klapperstorch usf. hartnäckig widersteht. Kinder haben eigene sexuelle Wünsche, Bedürfnisse und Phantasien. Das macht sie besonders verletzlich gegenüber missbräuchlichem Verhalten, das den Entwicklungsaspekt dieser Bedürfnisse übergeht und sie den egoistischen Interessen der Erwachsenen unterwirft. Freud vorzuhalten, er habe den Kindesmissbrauch bagatellisiert oder womöglich noch gerechtfertigt, weil er das sexuelle Eigenleben des Kindes zum Gegenstand der psychoanalytischen Forschung machte, entspricht jener kognitiven Konfusion, die oft ein Ausdruck der grenzlabilen Missbrauchsdynamik ist und zusammen mit den übrigen traumatogenen Faktoren (vgl. Abschnitt 9.4.3) wie Verrat, Stigmatisierung und Misshandlung leider oft auch die wissenschaftliche Diskussion bei traumatologischen Tabuthemen bestimmt bzw. ersetzt.