Kitabı oku: «Geschichte der deutschen Literatur. Band 1», sayfa 2
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so ist sie seit der Aufklärung auch hier auf Autonomie ausgegangen, um sich in verschiedenen Ersatzreligionen eine andere Grundlage zu schaffen. In Aufklärung und Klassik sind das vor allem der Pantheismus und die „Humanitätsreligion“, in der Romantik zunächst die „Kunstreligion“ und dann die „Nationalreligion“, im Vormärz darüber hinaus auch der Historizismus. Im Realismus hat es die Literatur dann mit allen diesen Ersatzreligionen gleichzeitig und in wechselnden Mischungen probiert, im Naturalismus vor allem mit dem Szientismus und im Symbolismus wieder mehr mit der „Kunstreligion“, dem Ästhetizismus. Erst in der Moderne des 20. Jahrhunderts haben sich verstärkt areligiöse, atheistische oder agnostische Positionen zu Wort gemeldet, wobei diese vielfach dem Vitalismus verpflichtet blieben.
Als eine dritte Entwicklungslinie soll die zunehmende Mobilität von Menschen und Meinungen, Informationen und Dingen ins Auge gefaßt werden; dabei soll insbesondere auf die Phänomene der sozialen Mobilität eingegangen werden. Wenn sich der Mensch in der frühen Neuzeit weithin noch an einen bestimmten Ort in der Ständegesellschaft, an eine bestimmte Region und Religion und an die von ihnen her gegebenen Traditionen und Konventionen gebunden sah, so lockerten sich seit dem 18. Jahrhundert alle diese Bindungen, um im 19. Jahrhundert, in der Zeit der industriellen Revolution, der Landflucht und der großen Auswanderungen auf eine Weise in Bewegung zu geraten, die zugleich jede erdenkliche Form von Karriere und von sozialem Absturz möglich werden ließ.
Die Literatur hat diesen Prozeß mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt, nicht nur weil ihr von ihm aus immer wieder neuer Erzählstoff zuwuchs. Sie erblickte in ihm ebensowohl einen Prozeß der Befreiung, der der Individualisierung die nötigen Spielräume verschaffte, wie einen Prozeß der „Entwurzelung“, der die Menschen in äußere Unsicherheit und innere Haltlosigkeit stieß, so daß sie nun verstärkt nach den Wurzeln des Menschen fragte, etwa nach Geschichte, Nation und Heimat. Wenn sie hier im Namen der Selbstverwirklichung des Individuums an der weiteren Verflüssigung von Traditionen und Konventionen arbeitete, so vertiefte sie sich dort in die Problematik des „flexiblen Menschen“ (R. Sennett) und suchte in dem unausgesetzten Vorsichhinprozessieren der Modernisierung Räume der „Entwicklungsfremdheit“ (G. Benn) zu eröffnen.
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Eine vierte Entwicklungslinie, die hier verfolgt werden soll und die für die Literatur von besonders großer Bedeutung ist, ist die Geschichte der Individualisierung. Sie beginnt mit der Individualisierung des Gottesbezugs in den Kirchen der Reformation und insbesondere in den neuen Sekten, etwa im Pietismus, um in Zeiten der Aufklärung zum ureigensten Anliegen der Literatur zu werden. Wenn die Literatur zuvor in allen Belangen auf das Typische ausgegangen war, so vertiefte sie sich nun mehr und mehr in das Originelle, Singuläre und in die Selbstverhältnisse des Individuums. Dabei gewann die Dimension des Unbewußten immer größere Bedeutung für ihr Menschenbild, im 18. Jahrhundert zunächst vor allem in Gestalt der Kräfte des „Es“, der naturgegebenen Instinkte, im 19. Jahrhundert dann zunehmend auch in Form der Kräfte des „Man“, der verinnerlichten Normen einer Gesellschaft.
Die zunehmende Aufmerksamkeit auf das Unbewußte führte an der Schwelle zur Moderne des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit dem Einfluß, den die moderne wissenschaftliche Psychologie in dem szientistisch gestimmten Raum des Naturalismus entfaltete, schließlich zu einer Krise der Ichbegriffe, zur Vorstellung vom „unrettbaren Ich“ (H. Bahr), mit unabsehbaren Folgen für die Literatur. Seither dominieren plurale Ich-Konzepte, die das Bewußtsein unter dem Einfluß des „Es“ und des „Man“ wissen, die Darstellung des Menschen. Das gilt jedenfalls für die Kunstliteratur; die Unterhaltungsliteratur arbeitet weiter mit der überkommenen Charakterpsychologie und wird wohl bis ans Ende aller Tage dabei bleiben.
Eine letzte, fünfte Entwicklungslinie, von der aus die Geschichte der neueren Literatur erschlossen werden soll, ist der Weg zur pluralistischen Gesellschaft. Er beginnt mit der Reformation, mit der Konfessionalisierung von Kultur und Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der Idee der Einheit der Christenheit wird er zunächst freilich immer nur als ein Mißstand begriffen, als eben der Mißstand, als die stete Quelle von Konflikten, die er für die frühmoderne Gesellschaft in der Tat auch ist. Erst der Natur- und Toleranzdiskurs der Aufklärung eröffnet die Möglichkeit, in einem Pluralismus der Religionen, Weltanschauungen und Lebensstile eine Bereicherung des gesellschaftlich-kulturellen Lebens zu erblicken, wenn nicht gar die Grundform einer wahrhaft modernen Gesellschaft.
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Aus der Wendung der Romantik zum Nationalismus entspringt dann allerdings ein kultur- und zivilisationskritischer Diskurs, der im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland immer mehr die Oberhand gewinnt und für den solcher Pluralismus vor allem den „Verlust der Einheit“ oder „Verlust der Mitte“ bedeutet. Hier erscheint er als die innerste Quelle einer Entwicklung, über der sich die Gesellschaft von einer organischen Menschengemeinschaft in ein Gefüge von Institutionen, eine bürokratische Maschine verwandelt und das Individuum jeder Möglichkeit beraubt wird, sich innerlich zu ihr und zu den anderen Individuen ins Verhältnis zu setzen. Von diesem Nicht-fertig-Werden mit dem Pluralismus der modernen Gesellschaft bezieht die Literatur seit der Jahrhundertwende wesentlich die Energien, die sie mit der Überlieferung brechen, die überkommenen Formen sprengen und nach neuen, andersartigen Möglichkeiten der Darstellung Ausschau halten lassen; es begründet jenen „modernen Antimodernismus“, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrscht. Ob die zweite Jahrhunderthälfte hier mit dem Schritt in eine Postmoderne einen Wandel hat bringen können, wird sich wohl erst in Zukunft klären.
Komparatistischer Zugriff
Daß am Leitfaden dieser Entwicklungslinien in die Geschichte der neueren deutschen Literatur eingeführt werden soll, hat zur Folge, daß hier nicht nur die deutschen Verhältnisse und deutsche Quellen in den Blick genommen werden können. Der Weg in die Moderne ist ja ein Weg, den die Deutschen und ihre Kultur mit anderen europäischen Nationen teilen, den sie mit ihnen gemeinsam und in ständigem Austausch mit ihnen gegangen sind, so daß er kaum verständlich werden könnte, wenn man sich auf Deutsches beschränken wollte. So soll zumindest an einigen neuralgischen Punkten der Entwicklung komparatistisch verfahren und der Einwirkung der Kultur und Literatur dieser anderen Nationen Rechnung getragen werden. Das betrifft zunächst den Humanismus, der ein gemeineuropäisches Phänomen war, wie er sich ja auch vor allem des Neulateinischen als gemeineuropäischer lingua franca bediente. Die wesentlichen Impulse der Aufklärung kommen aus England bzw. Schottland und aus Frankreich nach Deutschland. Die Französische Revolution und ihre Folgen lassen die deutsche Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis weit ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder nach Paris schauen. Und auch die ersten Impulse eines Modernismus im engeren Sinne hat die
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deutsche Literatur mit Symbolismus und Naturalismus aus Frankreich empfangen, um von ihnen aus in den Raum einer internationalen Moderne einzutreten. Dem ist die gebührende Beachtung zu schenken.
Belegpraxis
Zum Schluß noch ein Wort zur Belegpraxis. Jedem, der mit der Forschungslandschaft vertraut ist, ist klar, daß bei einer Arbeit wie dieser, den Üblichkeiten der Wissenschaft gemäß, eigentlich bei jedem Absatz, ja fast bei jedem Satz eine seitenlange Diskussion zu führen wäre, in der die vorgetragenen Thesen mit der Forschungslage abgeglichen würden. Das kann aber natürlich nicht geschehen; es hätte den Erstickungstod des Unternehmens zur Folge. So sollen hier in den Anmerkungen vor allem die Zitate nachgewiesen werden; dabei soll auf möglichst leicht erreichbare Ausgaben zurückgegriffen werden. Darüber hinaus sollen lediglich einige besonders ergiebige, rasch weiterführende Anschlüsse an die Forschungsdiskussion benannt werden. Was sich in Handbüchern und Lexika nachschlagen läßt, bleibt ohne Nachweis.
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1 Einleitung
1.1 Die Literatur der frühen Neuzeit im kulturellen Gedächtnis
Neuere Deutsche Literatur
Wer sich für ein Studium der Germanistik und hier wiederum für den Schwerpunkt Neuere Deutsche Literatur entscheidet, der wird dabei kaum schon an die Literatur der frühen Neuzeit denken. Sein Interesse wird durch die Begegnung mit der Literatur anderer Epochen geweckt worden sein, mit Werken vor allem der Gegenwartsliteratur und der Klassischen Moderne, vielleicht auch des 19. Jahrhunderts, der Klassik oder der Romantik, allenfalls noch des 18. Jahrhunderts. Es wird jedoch nicht lange dauern, bis er bemerkt, daß die Wissenschaft die Geschichte der Neueren Literatur bereits um 1500 beginnen läßt und daß dies gute Gründe hat; daß sein Bild von der Neueren Literatur historisch unterbelichtet und sein Zugriff auf die Werke späterer Epochen in manchem unsicher bleiben würde, wenn er sich nicht auch mit der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts vertraut machen wollte, wie sie ihm unter Epochenbegriffen wie Renaissance und Humanismus, Reformation, Gegenreformation und Barock entgegentritt.
Eckpfeiler des kulturellen Gedächtnisses
Freilich wird er zunächst noch kaum eine Vorstellung davon haben, was er von der Beschäftigung mit ihr für sich und seine literarischen Interessen zu erwarten hat. Denn nur wenig hat sich von ihr im kulturellen Gedächtnis erhalten, ist im literarischen Leben der Gegenwart präsent. Der eine oder andere hat vielleicht schon einmal gehört, daß Martin Luther in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Bibel ins Deutsche übersetzt und damit eine deutsche Hoch- und Literatursprache auf den Weg gebracht habe, oder daß Martin Opitz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Literaturreform durchgeführt habe, die eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung zur Klassik, zu Lessing, Goethe und Schiller, Hölderlin und Kleist gewesen sei, doch wo trifft man schon einmal auf einen Text von Luther und
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Opitz selbst? Kirchgänger haben wohl noch immer einige geistliche Lieder von Luther im Ohr – „Ein feste Burg ist unser Gott“, „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ – oder auch Lieder von Paul Gerhard und einigen anderen ansonsten wenig bekannten Dichtern des Barock – „O Haupt, voll Blut und Wunden“, „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ – doch wer besucht noch regelmäßig einen Gottesdienst?
Wer sich für die deutsche Geschichte interessiert oder wer gerne in die Oper geht, mag schon einmal auf Hans Sachs und die Meistersänger von Nürnberg gestoßen sein; das bedeutet freilich im allgemeinen nicht, daß er auch einem ihrer Meisterlieder begegnet wäre. Immerhin hat sich mancherorts die Erinnerung an einige der sogenannten „Volksbücher“ erhalten, insbesondere an „Schwankromane“ wie die von Till Eulenspiegel und von den Schildbürgern; man kennt deren Geschichten allerdings eher durch moderne Bearbeitungen als durch die Lektüre der Originaltexte. Und natürlich ist „Barocklyrik“, sind Gedichte von Paul Fleming, Andreas Gryphius oder Christian Hofmann von Hofmannswaldau noch immer ein Gegenstand des Deutschunterrichts; man darf aber wohl bezweifeln, daß sie bei einer größeren Zahl von Schülern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, daß sie für sie mehr sind als einer unter vielen befremdlichen Schulstoffen. Einzig Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und sein Roman „Der Abentheuerliche Simplicissimus“ scheinen besser in Erinnerung geblieben zu sein, und überdies unter Vorzeichen, die auch einen Leser von heute eine interessante Lektüre erwarten lassen: da soll man Einblick in die Welt des Dreißigjährigen Kriegs erhalten, und zwar auf eine durchaus spannende, unterhaltsame Weise, ja es soll noch nicht einmal an deftigen Szenen fehlen! Der Rest ist vergessen, scheint allenfalls noch für eine hochspezialisierte Literaturwissenschaft von Interesse zu sein.
Die frühe Neuzeit als Zeit des Übergangs
Daß sich nur so wenig von der Literatur der frühen Neuzeit im kulturellen Gedächtnis erhalten hat, ist auch ein Werk der Germanistik – ausgerechnet der Germanistik, von der man doch anderes erwarten möchte. Aber sie hat nicht nur ihr Teil zu der altehrwürdigen Tradition der Vernachlässigung der frühen Neuzeit beigetragen, sondern sich eine zeitlang auch noch alle Mühe gegeben, diese auf den Boden einer wohlbegründeten Theorie zu stellen. Wenn man eine der Literaturgeschichten zur Hand nimmt, mit denen sie sich im
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19. Jahrhundert ihren Platz unter den akademischen Wissenschaften erobert hat und in den kulturellen Hausrat der Deutschen eingegangen ist, etwa die „Geschichte der deutschen Litteratur“ (1883) von Wilhelm Scherer, dann sieht man auf den ersten Blick, daß sich ihr Interesse zunächst auf zwei Epochen konzentriert hat: auf die „Deutsche Klassik“ der Zeit um 1800, also auf die Entwicklung von Lessing bis zu Goethe und Schiller, und auf die „mittelhochdeutsche Klassik“, auf die Jahre um 1200, die Zeit von Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg. In diesen beiden Epochen sollte die deutsche Literatur nach ihrer Vorstellung ihr Bestes gegeben haben; sie galten ihr als die „Blütezeiten“ dessen, was sie die „deutsche Nationalliteratur“ nannte.
Demgemäß wollte sie in den Jahrhunderten zwischen den beiden „Klassiken“, dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, nicht mehr als eine Übergangszeit erblicken. Das Spätmittelalter war für sie die Zeit des Abstiegs vom Gipfel der ersten Blüte, eine Periode unaufhörlichen Niedergangs und Verfalls, und die frühe Neuzeit die Phase des allmählichen Wiederaufstiegs zu neuerlichen Höhen, Jahre heftiger Kämpfe und immer neuer Anläufe zu einer Dichtung von Rang. Was dabei an Literatur entstand, galt ihr insgesamt als wenig bedeutend, als gedanklich unreif und ästhetisch unvollkommen; es interessierte sie im Grunde nur aus historischen Gründen, nämlich um an ihm den Prozeß von Niedergang und Wiederaufstieg zu demonstrieren.
Dieses Bild vom Entwicklungsgang der deutschen Literatur verdankt sich wesentlich den Interessen und Wertungen der Bewegung, die an der Wiege der Germanistik stand: der Romantik; genauer: der politischen Romantik, der Nationalromantik, wie sie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aus der Verbindung der frühromantischen Hochschätzung der schöpferischen Phantasie mit dem nationalen Gedanken, mit der Forderung nach „deutscher Eigenart“ in allen Belangen der Kultur erwuchs. Denn es war sie, die zuerst die Zeit seit dem ersten Auftreten Goethes zur „Morgenröte“ einer „klassischen deutschen Nationalliteratur“ ausrief und die zugleich die Aufmerksamkeit auf die Literatur des Mittelalters lenkte, in der sie den Inbegriff und das Vorbild aller wahrhaft romantischen Poesie erblickte. Hier wie dort sollte es sich um Werke handeln, in denen sowohl die Potentiale der schöpferischen Phantasie in jeder Richtung ausgespielt würden,
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als sie auch mit jeder Faser „deutsche Eigenart“ bezeugen würden und die insofern eben als „klassischer“ Ausdruck der Möglichkeiten einer deutschen Dichtung zu gelten hätten.
Von solchen Vorstellungen aus konnte man aber der Literatur der frühen Neuzeit nur wenig abgewinnen. Diese hatte sich nämlich ganz im Bann der beiden Bewegungen entwickelt, die im 16. Jahrhundert nach und nach dem gesamten kulturellen Leben ihren Stempel aufdrückten: der Renaissance, der Wiederentdeckung und Neuerschließung der Kultur der alten Griechen und Römer durch den Humanismus, und der Reformation und Gegenreformation, des Versuchs einer neuerlichen, besonders intensiven und konsequenten Durchdringung aller Bereiche des Lebens mit den Dogmen und Normen der christlichen Religion. Und das hatte für die Literatur bedeutet, daß sie sich zugleich auf den Weg der „imitatio veterum“, der „Nachahmung der Alten“ begeben und in den Dienst des religiösen Lebens gestellt hatte. Mit anderen Worten: die schöpferische Phantasie hatte sich an das antike und das christliche Erbe gebunden, sie hatte sich selbst dogmatisch-normative Ketten angelegt. Und überdies hatte sie sich dabei von den deutschen Lebensverhältnissen, von „deutscher Art und Kunst“ entfernt, und damit von den Wurzeln, die ihr allein originäre Kraft und Authentizität hätten verleihen können; sie hatte die Kultur der Griechen und Römer gesucht und darüber ihre angestammte Basis aufgegeben. So stellte es sich jedenfalls der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dar.
Neue Ansätze der Forschung
Natürlich hat sich die Germanistik inzwischen längst vom Standpunkt der Nationalromantik gelöst. Die Frage nach der „deutschen Eigenart“ ist, nachdem sie kritisch auf ihre problematischen ideologischen Grundlagen hin durchleuchtet worden ist, weithin durch andere Erkenntnisinteressen ersetzt worden. Und auch die Begriffe von Kreativität haben sich gewandelt, auf eine Weise, die der modernen Wissenschaft sehr viel differenziertere Blicke auf das Verhältnis von schöpferischer Phantasie und kulturellem Erbe erlauben als der alten Literaturgeschichtsschreibung. Und so hat sich die Germanistik inzwischen denn auch an einer Wiedergutmachung gegenüber der Literatur der frühen Neuzeit versucht. Das gilt vor allem für die Literatur des 17. Jahrhunderts, die Literatur des Barock. In zwei großen Anläufen – einem ersten in den zwanziger Jahren, einem zweiten in den
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sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts – entstand eine Barockforschung, die alles Erdenkliche unternahm, um den spezifischen Qualitäten der Barockliteratur auf die Spur zu kommen. Dabei spielte gerade die Frage nach dem Verhältnis von „Nachahmung und Schöpfung im Barock“ (G. Weydt)1 eine zentrale Rolle.
So groß die Erfolge dieser Barockforschung aber auch waren und so wichtig sie für die Entwicklung der Neugermanistik wurden – denn um der Literatur der frühen Neuzeit nahekommen zu können, mußte das methodische Instrumentarium der Literaturwissenschaft energisch erweitert werden, mußte eine kulturwissenschaftliche Wende vollzogen und der Blick über die Literatur hinaus auf den gesamten kulturgeschichtlichen Kontext ausgeweitet werden – sie konnte den einmal angerichteten Schaden nicht wieder beheben. Von ihren Entdeckungen ist kaum etwas in das Bewußtsein des breiten Lesepublikums eingedrungen; die deutsche Literatur der frühen Neuzeit ist weiterhin ein blinder Fleck im kulturellen Gedächtnis geblieben.
Moderne und frühneuzeitliche Literatur
Man kann dies auch daraus ersehen, daß sie nur selten von der Literatur des 20. Jahrhunderts rezipiert worden ist, die doch ansonsten einen regen Dialog mit allen möglichen Epochen unterhalten hat, und daß den Werken, die so entstanden, noch seltener ein Erfolg beschieden war. Recht eigentlich bekannt geworden ist im Grunde nur die „Mutter Courage“ (1941) von Bertolt Brecht, die Bearbeitung eines Romans von Grimmelshausen für das Theater. Schon „Das Treffen in Telgte“ (1979) von Günter Grass, ein Erzählung, in der eine Zusammenkunft der wichtigsten Dichter des Barock imaginiert wird, gehört zu den weniger erfolgreichen Werken des Autors. Und in der Gegenwartsliteratur findet man allenfalls noch bei dem einen oder anderen Lyriker Spuren frühneuzeitlicher deutscher Dichtung, etwa bei Sarah Kirsch oder bei Durs Grünbein.2 Bezeichnend ist auch, daß sich viele von denen, die ein Studium der Germanistik hinter sich gebracht haben, im hohen Mittelalter besser auskennen als in der frühen Neuzeit, deren Literatur ihnen doch eigentlich aufgrund der
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größeren zeitlichen Nähe leichter zugänglich sein sollte. Offenbar haben selbst hier die Präferenzen der nationalromantischen Literaturgeschichtsschreibung ihre prägende Kraft behalten.
Probleme für den modernen Leser
Wo aber von der Literatur einer Epoche so wenig im kulturellen Leben der Gegenwart präsent ist, da liegt der Verdacht nahe, daß man nichts Wesentliches verpassen würde, wenn man um sie einen Bogen machte. Diesem Verdacht wird man um so lieber Nahrung geben, als man bei der ersten Annäherung an die Textwelt der frühen Neuzeit feststellen muß, daß sie es einem modernen Leser nicht gerade leicht macht, ja daß sie ihm ein besonderes Maß an Leserfleiß, an Neugier, Konzentration und Ausdauer abverlangt. Die Probleme beginnen bereits mit der Sprache, in der sie auf den Leser zukommt, einem deutlich veralteten, in manchem fast unverständlich gewordenen Deutsch irgendwo zwischen Mittel- und Neuhochdeutsch, dem sogenannten Frühneuhochdeutsch. Nur von sehr wenigen Texten gibt es eine modernisierte, an unser Neuhochdeutsch angeglichene Fassung, etwa vom „Till Eulenspiegel“, von den „Schildbürgern“ und vom „Simplicissimus“; bei allem anderen ist man auf das frühneuhochdeutsche Original angewiesen – ein sicheres Indiz dafür, daß es vom heutigen Lesepublikum nicht mehr angerührt wird. Da bekommt man es dann mit befremdlichen Formen der Orthographie und Interpunktion zu tun, mit einer komplizierten, am Lateinischen geschulten Syntax und mit Wörtern, deren Semantik man sich immer wieder mit Hilfe des Grimmschen Wörterbuchs 3 erschließen muß.
Die Probleme mit der Sprache gehen aber noch weiter. Wer tiefer in die Welt der frühneuzeitlichen Literatur eindringen will, sieht sich früher oder später genötigt, es auch mit der neulateinischen Literatur aufzunehmen; so nennt man die lateinische Literatur seit dem 15. Jahrhundert. Denn die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur wird vielfach nur vor dem Hintergrund dessen verständlich, was seinerzeit im Raum dieser neulateinischen Literatur geschah. Die Elite der Gebildeten – Theologen und humanistische Gelehrte – verständigte sich und schrieb in lateinischer Sprache, und die deutschsprachige
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Literatur zehrte von dem, was hier an Texten entstand, was etwa die Humanisten bei ihrem Studium der antiken Kultur der Literatur an neuen Möglichkeiten erschlossen. So muß jede vertiefte Untersuchung eines Stoffs oder Motivs, einer Gattung, einer Stilfigur oder eines anderen Aspekts der Form, ja der Konzepte von Kunst und Literatur überhaupt irgendwann auch die Schwelle zum Lateinischen überschreiten; denn von den neulateinischen Texten ist noch weniger in unser modernes Deutsch übertragen worden als von den frühneuhochdeutschen.
Und weitere Hürden sind bei der Annäherung an die Literatur der frühen Neuzeit zu meistern. Die Autoren schrieben für ein Publikum, dessen Welt- und Menschenbild wesentlich durch die christliche Religion und das Erbe der Antike geprägt war und das insofern in einem Maße mit den Geschichten, Lehren, Bildern und sprachlichen Wendungen der Bibel, mit den Viten der Heiligen und den Dogmen und Normen der christlichen Theologie sowie mit den Mythen, den Götter- und Heldengeschichten der Griechen und Römer, mit deren Geschichte, Wissenschaft, Kunst und Literatur vertraut war, das einem Leser von heute in der Regel nicht mehr gegeben ist. Will er dem Gerechtigkeit widerfahren lassen, was die Texte davon in sich aufgenommen haben, und will er sich keine der Anspielungen, der direkten und indirekten Verweise entgehen lassen, die in dieser untergegangenen Bildungswelt gründen, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in deren Wissensbestände einzuarbeiten.
Hinzu kommt, daß sich die Literatur der frühen Neuzeit auf Lebensformen bezieht und von Lebensformen spricht, die sich deutlich von dem unterscheiden, was ein heutiger Leser gewohnt ist. Denn natürlich sah der Alltag der Menschen in einer Welt, die noch nichts vom Fortschritt, von moderner Wissenschaft, technisch-industrieller Produktionsweise, demokratischer Bürgergesellschaft und bürokratischem Rechts- und Sozialstaat wußte, die in allem auf Tradition und Religion setzte, in ständische Hierarchien gegliedert war und von Landwirtschaft und Handwerk lebte, in vielem anders aus als heute. Auch damit muß sich der Leser erst vertraut machen.
Eine Literatur ohne bleibende Bedeutung?
Wo aber bereits im Vorfeld der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text so viel an Vor- und Nebenarbeiten zu leisten ist, da kann die Frage nicht ausbleiben, ob sich der Einsatz wirklich lohne,
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und sie wird sich hier um so energischer zu Wort melden, als das kulturelle Gedächtnis nur so wenig von lohnenden Gegenständen weiß. Vielleicht hat die nationalromantische Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ja doch nicht ganz Unrecht gehabt, wenn sie die frühe Neuzeit als eine bloße Übergangszeit behandelte. Vielleicht war ja etwas an der Kultur dieser Epoche – die Prädominanz der Theologie, die Fixierung auf das Erbe der Antike – das keine bleibenden Leistungen zuließ, das das Entstehen einer Kunst verhinderte, die einen Menschen von heute noch immer unmittelbar ansprechen und nachhaltig beschäftigen könnte. Das wäre doch immerhin möglich.4
Die Kunst der Renaissance
Der böse Verdacht verfliegt jedoch mit einem Schlag, sobald man über den Tellerrand der deutschen Literatur hinaussieht und die Literatur anderer europäischer Nationen mit ins Auge faßt, und er löst sich vollends in nichts auf, wenn man auch an andere Künste denkt, etwa an die Bildende Kunst. Von allem, was aus fernen Zeiten auf die heutige Menschheit gekommen ist, ist wohl nur wenig in der Kultur der Gegenwart so präsent wie die Kunst der Renaissance; das gilt selbst für die populäre Kultur. Von den italienischen Künstlern Leonardo da Vinci, Michelangelo und Raffael und von dem deutschen Albrecht Dürer hat jeder halbwegs gebildete Zeitgenosse schon einmal etwas gehört. Werke wie die „Mona Lisa“ und das „Abendmahl“ von Leonardo, der „David“ und die Fresken der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo, die „Sixtinische Madonna“ von Raffael, die „Betenden Hände“, der „Hase“ und die „Apokalyptischen Reiter“ von Dürer haben einen so hohen Wiedererkennungswert, daß sogar die Werbung von ihnen Gebrauch macht. Kaum weniger bekannt sind einige Künstler des Barock wie die Niederländer Rembrandt und Rubens.
Bedeutende Bauwerke der Renaissance wie der Petersdom in Rom und solche des Barock wie das Königsschloß in Versailles sind beliebte Touristenziele und werden jedes Jahr von Hunderttausenden besucht. Wenn ein Museum eine Ausstellung der Werke von Mantegna oder Giorgione, Tizian oder Caravaggio zustande bringt, wird es von einem begeisterten Publikum überlaufen. Niemand, der Kunstgeschichte
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studiert oder sich überhaupt für Kunst interessiert, kommt an der frühen Neuzeit vorbei; die Vertrautheit mit ihrer Kunst ist die Basis für alles andere. An der Kultur der frühen Neuzeit, an dem, was sie den Menschen an geistigem Rüstzeug mitgab und an kreativen Möglichkeiten eröffnete, kann es also nicht liegen, wenn die deutsche Literatur jener Jahre im kulturellen Gedächtnis nur noch ein Schattendasein fristet.
Die frühneuzeitliche Literatur anderer Nationen
Dieser Befund bestätigt sich bei einem Blick auf die Literatur anderer europäischer Nationen, etwa auf die der Italiener, Spanier und Franzosen, der Engländer und Niederländer. Was hier jeweils für die klassische Phase der Literaturgeschichte, für die „Blütezeit“, das „Goldene Zeitalter“ der Nationalliteratur gehalten wird, ist nämlich durch die Bank bereits in der frühen Neuzeit angesiedelt, und man kann nicht erkennen, daß das dem literarische Leben zum Nachteil gereicht hätte – im Gegenteil: für jede dieser Literaturen ist das Gespräch mit den großen Autoren der frühen Neuzeit bis heute eine Quelle ihres spezifischen Reichtums.
Bei den Italienern läßt man die „Blütezeit“ mit Dante (1265 –1321), Petrarca (1304 –1374) und Boccaccio (1313 –1375) sogar schon im Spätmittelalter beginnen, um sie in der frühen Neuzeit mit Ariost (1474 –1533) und Tasso (1544 –1595) lediglich ausklingen zu lassen. Die Spanier erblicken ihr „Siglo d’oro“ in der Zeit von Cervantes (1547 –1616), Lope de Vega (1562 –1635) und Calderón (1600 –1681), die Engländer ihr „Golden Age“ im Umkreis von Shakespeare (1564 –1616), die Franzosen haben ihr „Grand Siècle“ in der Zeit von Corneille (1606 –1684), Molière (1622 –1673) und Racine (1639 –1699), und die Niederländer ihr „Golden Eeuw“ in der ihres Joost van den Vondel (1587 –1679). Es versteht sich von selbst, daß die solchermaßen zu Klassikern ausgerufenen Autoren im kulturellen Gedächtnis dieser Nationen eine prominente Rolle spielen und daß ihre Werke bis auf den heutigen Tag bei ihnen ein zentraler Gegenstand des Interesses sind.
Frühneuzeitliche Klassiker der Weltliteratur
Sie alle sind übrigens früher oder später auch in Deutschland gelesen worden, und sie sind hier vielfach so intensiv rezipiert worden, daß sie in der deutschsprachigen Literatur tiefe Spuren hinterlassen haben. Ja einige von ihnen haben stärker auf spätere Generationen gewirkt und sind im literarischen Leben der Gegenwart präsenter als die meisten deutschen Autoren der frühen Neuzeit. Das gilt vor allem
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für William Shakespeare, einen Engländer, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – noch nicht im 17. Jahrhundert, erst in der Zeit von Aufklärung und Romantik – geradezu eine postume Adoption durch die Deutschen über sich ergehen lassen mußte und der seither zu einem nicht wegzudenkenden Bezugspunkt der deutschen Literatur geworden ist.5 Aber nicht nur in Deutschland ist Shakespeare bis heute einer der meistgelesenen und meistaufgeführten Theaterautoren – er ist es weltweit. Wo immer man sich für Theater interessiert, da hat man auch schon einmal etwas von „Romeo und Julia“ und „Hamlet“ gehört, von „Macbeth“ und „Othello“, „Julius Caesar“, „Richard III.“ und „Heinrich V.“, dem „Kaufmann von Venedig“, „Der Widerspenstigen Zähmung“ und dem „Sommernachtstraum“.