Kitabı oku: «Geschichte der deutschen Literatur. Band 1», sayfa 5
2 Humanismus und Reformation Kultur- und ideengeschichtliche Voraussetzungen der literarischen Entwicklung
Vom Mittelalter zur Neuzeit
Wo der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit markiert, die ersten entschiedenen Schritte in die moderne Welt benannt werden sollen, ist seit jeher vor allem von drei Entwicklungen die Rede: von der Renaissance, der „Wiedergeburt“ der Wissenschaft und Kunst der griechisch-römischen Antike dank ihrer Neuerschließung durch die Bewegung des Humanismus; von der Reformation, der kritischen Revision der Lehren und Lebensformen des Christentums seit Martin Luther; und von den großen Entdeckungen jenseits der Grenzen Europas seit der Eröffnung des Seewegs nach Amerika durch Columbus.13 In der Tat haben Humanismus und Reformation im Laufe des 16. Jahrhunderts allen Bereichen der Kultur ihren Stempel aufdrücken können, einschließlich der Literatur, und sie haben deren Entwicklung bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, ja in manchen Belangen noch darüber hinaus maßgeblich bestimmt. Die Folgen der großen Entdeckungen hingegen – die Begegnung und der Austausch mit außereuropäischen Kulturen, Welthandel, Kolonisation und Mission, letztlich die Eröffnung globaler Perspektiven – haben sich nur sehr viel langsamer bemerkbar gemacht und im Grunde erst seit dem 18., wenn nicht gar seit dem 19. Jahrhundert tiefere Spuren im kulturellen Leben Europas hinterlassen.
Frühneuzeitliche Kritik am Mittelalter
So hat sich die Literatur seit dem 16. Jahrhundert in einem Spannungsfeld entwickelt, das wesentlich durch drei Momente gekennzeichnet ist: durch das mittelalterliche Erbe einerseits und durch die neuen Kräfte des Humanismus und der Reformation andererseits.
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Sowohl der Humanismus als auch die Reformation sind aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem erwachsen, was nun den Namen Mittelalter, „medium aevum“ erhält. Beide sehen sie in diesem Mittelalter oder jedenfalls doch in seinen letzten Jahrhunderten eine Zeit des Niedergangs, des unaufhörlichen Verfalls von geistlichem und weltlichem Leben, von Glauben und Wissen, Bildung und Moral. Und beide wollen sie diesen Niedergang überwinden und einen Neuanfang möglich machen, indem sie über das Mittelalter hinweg auf eine bessere Vorzeit zurückgreifen, der Humanismus auf die griechisch-römische Antike und die Reformation auf das frühe, das ursprüngliche, unverfälschte Christentum, wie es sich in der Bibel bezeugt; und dieses frühe Christentum gehört ja ebenfalls zur Antike.
Was in der frühen Neuzeit an Neuem auf den Weg gebracht wird, entspringt also, soweit es sich Humanismus und Reformation verdankt, einer Renaissance, einer Wiederbringung des Alten. Die Logik der Modernisierung gründet sich zunächst auf das Prinzip „Zurück zur Zukunft!“, und so wird es in vielen Belangen bis ins 18., ja 19. Jahrhundert hinein bleiben. In dieser Perspektive wird nun eben das Jahrtausend zwischen der Antike und den neuen, „modernen“ Zeiten, die man heraufführen will, zu einem bloßen „Mittelalter“, zu einer Epoche ohne eigene Qualitäten, die es so schnell und so gründlich wie möglich zu vergessen gilt. Das bedeutet freilich nicht, daß das mittelalterliche Erbe mit einem Schlag um jegliche Wirkung gebracht wäre. Es wird noch lange, im Grunde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Aufklärung, dauern, bis das kulturelle Leben aus seinem Bannkreis herausgewachsen ist. Daß dieser Punkt erst im Laufe des 18. Jahrhunderts erreicht wird, ist nicht zuletzt daran zu erkennen, daß das Mittelalter hier zum Gegenstand eines völlig neuartigen Interesses wird, das sich selbst „romantisch“ nennt; denn solche romantische Zuwendung zur Welt des Mittelalters setzt voraus, daß sie inzwischen als eine ganz in die Ferne gerückte, untergegangene Welt erlebt wird.
Das Verhältnis von Humanismus und Reformation
Wenn die Rahmenbedingungen, unter denen sich die Literatur in der frühen Neuzeit entwickelt, hier als ein Spannungsfeld charakterisiert werden, so ist damit nicht nur die kritische Distanz von Humanismus und Reformation zum mittelalterlichen Erbe gemeint, sondern auch das Verhältnis der beiden neuen Bewegungen untereinander. Denn
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obwohl sie einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben, zielen sie keineswegs in die gleiche Richtung, und das hat von Anfang an und durch ihre gesamte Geschichte hindurch immer wieder zu Konflikten geführt, beginnend mit den Kontroversen zwischen dem ersten großen Reformator Martin Luther (1483 –1546) und dem Wortführer des Humanismus zu Zeiten Luthers, Erasmus von Rotterdam (1466? –1536). Dem Humanismus geht es vor allem um eine reichere Bildung, um ein weiter ausgreifendes und tiefer dringendes Wissen um Mensch und Welt, Natur und Geschichte, um eine wissendere Kultur, wobei er freilich mit diesem seinem reicheren Weltwissen keineswegs den Boden der christlichen Religion verlassen will, sich vielmehr weiterhin mit aller Selbstverständlichkeit in die christliche Welt einbezogen sieht. Und der Reformation geht es vor allem um eine konsequente Durchdringung solchen Wissens, solcher Bildung und Kultur mit der christlichen Doktrin. Dort also die Anreicherung des christlichen Horizonts mit mehr Weltwissen, hier die Sicherung und Befestigung der religiösen Fundamente dieses Wissens und der Kultur überhaupt.
Insofern ist ein Zusammengehen von Humanismus und Reformation keineswegs von vorneherein ausgeschlossen gewesen, und in der Tat haben sie weite Strecken ihres Wegs gemeinsam zurückgelegt und dabei einander immer wieder wechselseitig befruchtet. Auf die Dauer hat freilich nicht verborgen bleiben können, daß sie nicht wirklich das gleiche Projekt verfolgten, daß ihre Stoßrichtung, ihre letzten Ziele nicht die gleichen waren. Das Ausgehen des Humanismus auf mehr Weltwissen hat immer wieder an die Grenzen dessen geführt, was die christliche Doktrin und das kirchliche Leben seinerzeit verkraften und integrieren konnten, und manchmal auch darüber hinaus. Es hat Impulse freigesetzt, die letztlich den Effekt einer schleichenden Säkularisation hatten, vielfach entgegen den Intentionen der Humanisten selbst, doch von der anderen Seite sehr wohl bemerkt. Und so haben die, denen es vor allem um die Sicherung der religiösen Fundamente zu tun war, den Bestrebungen der Humanisten immer wieder ihre Grenzen aufgezeigt, haben sie diese einer Disziplinierung im Sinne der christlichen Dogmen und Normen zu unterwerfen versucht, wobei sie in der Wahl ihrer Mittel alles andere als zimperlich waren; die Palette der Maßnahmen reicht von Zensur bis zu jeder erdenklichen Form von Unterdrückung, einschließlich physischer Gewalt.
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Folgen für Kunst und Literatur
Diese Grundspannung zwischen Humanismus und Reformation haben gerade auch die Kunst und Literatur der frühen Neuzeit immer wieder zu spüren bekommen. Während ihnen der Humanismus mit seinem vertieften Studium der Antike immer neue Quellen erschloß, immer neue Stoffe und Motive, Argumente und Bilder, Formen und Kunstmittel zuführte und so die Erweiterung ihrer gedanklichen und ästhetischen Spielräume betrieb, bestanden die Erneuerer des religiösen Lebens immer energischer darauf, daß ein Kunstwerk einen geistlichen Lehrgehalt haben müsse, daß es der Ausbreitung und Befestigung der Dogmen und Normen der christlichen Theologie zu dienen habe. Ihnen ging es also um die Festlegung der Kunst auf eine didaktische Funktion im kirchlichen Leben, wenn sie im Eifer des Gefechts nicht überhaupt das Bildnis- und Gleichnisverbot des Alten Testaments gegen sie in Stellung brachten und Bilderstürme, „Ikonoklasmen“, und Bücherverbrennungen auslösten.
Schritte in die Moderne
So haben Humanismus und Reformation auf durchaus unterschiedliche Weise Wege in die Moderne gebahnt. Der Humanismus hat mit seinem Versuch, Wissenschaft und Kunst der Antike zurückzubringen, entscheidende Voraussetzungen sowohl für jene Wissenschaftskultur geschaffen, die nach und nach zur wichtigsten Quelle, zum Motor und Rückgrat des gesamten Modernisierungsprozesses wurde, als auch für die ästhetische Kultur der Moderne, wie sie auf dem Gedanken einer nicht didaktisch-funktionalen, einer säkular-autonomen Kunst beruht. Und die Reformation hat, indem sie individuelleren Formen des religiösen Lebens Raum gab und überhaupt den persönlichen Gottesbezug betonte, wesentlich zu dem beigetragen, was moderne Soziologen Individualisierung nennen und als ein Konstituens der modernen Welt beschreiben.
Und die Reformation ist darüber hinaus auch noch zum Geburtshelfer für ein weiteres konstitutives Moment der Moderne geworden, für den Pluralismus der modernen Gesellschaft, dies freilich durchaus entgegen ihren Absichten. Es gab seinerzeit ja nicht nur die Reformation Luthers, sondern auch die von Ulrich Zwingli (1484 –1531) und Jean Calvin (1509 –1564), die alte römische Kirche rüstete sich seit dem Konzil von Trient (1545 –1563), dem „Tridentinum“, zu einer Gegenreformation, weitere Reformatoren standen auf und ließen allerlei Sekten entstehen, so daß sich die Christenheit, die Gesellschaft des
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christlichen Europa, nach und nach in eine Vielzahl von größeren und kleineren Kirchen, von Konfessionen mit je anderen Theologien und Lebensformen aufspaltete. Die Gemengelage, die aus der Konfessionalisierung aller Lebensbeziehungen, aus diesem Konfessionalismus der frühmodernen Gesellschaft erwuchs, war letztlich nur mit den Konzepten einer pluralistischen Gesellschaft und weltanschaulich neutraler, säkularer staatlicher Institutionen zu bewältigen, wie sie dann zu einer entscheidenden Grundlage des modernen Lebens geworden sind.
Dem allem ist nun im einzelnen nachzugehen, denn hier liegen Momente, die die Wege der Literatur in der frühen Neuzeit entscheidend geprägt haben.
2.1 Humanismus und Literatur
2.1.1 Humanismus und Humanisten
Der Begriff des Humanismus
Wo heute von Humanismus die Rede ist, da meint man im allgemeinen das Eintreten für Humanität, also für Verhältnisse, die allen Menschen gleichermaßen ein Leben in Menschenwürde ermöglichen, die einem jeden den Zugang zu den natürlichen Ressourcen des Lebens und zu den Schätzen der Kultur, zur Welt der Bildung eröffnen, und damit eine Chance zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit. Unter dem frühmodernen Humanismus oder Renaissance-Humanismus ist etwas anderes zu verstehen, nämlich eine bestimmte Bewegung unter den Gelehrten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, die es sich zur Aufgabe machte, alles, was sich aus den Zeiten der alten Griechen und Römer an Zeugnissen erhalten hatte, aufzuarbeiten, um die Kultur der Antike wiederaufleben zu lassen und zu neuerlicher Blüte zu treiben.14 Die Namensgleichheit ist freilich kein Zufall; denn
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es waren eben diese frühmodernen Humanisten, die die Begriffe der Humanität und der Menschenwürde auf den Weg brachten, aus denen unsere Vorstellungen von Humanismus erwachsen sind. Und das ist der Geschichte dieser Vorstellungen auch deutlich anzusehen, hat sich doch bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein, ja mancherorts bis heute der keineswegs selbstverständliche Gedanke erhalten, daß die Beschäftigung mit der Kultur der Antike der Humanität besonders förderlich sei.
Kritik am Mittelalter
Für die frühmodernen Humanisten war das Mittelalter, wie angedeutet, eine Zeit der Finsternis, eine Epoche, in der die Humanität und das kulturelle Niveau, zu denen sich die Menschheit in der Antike schon einmal hatte aufschwingen können, wieder verloren gingen, die Zeit eines Rückfalls in die Barbarei. Zumal was hier als Rückgrat allen gelehrten Wissens und als Inbegriff eines Lebens im Geiste galt, die scholastische Theologie und das Mönchswesen, war ihnen, so wie es sich im Spätmittelalter entwickelt hatte, ein Greuel. Dem wollten sie eben abhelfen, indem sie hinter das Mittelalter auf die Wissenschaft und Kunst der alten Griechen und Römer zurückgriffen, die noch nichts von Scholastik und klösterlichem Leben wußten; indem sie diese Wissenschaft und Kunst neu erschlossen und damit andere Wege des Denkens und Wissens, andere Formen des geistigen und kulturellen Lebens möglich machten.
Philologie
Die Wissenschaft und Kunst der Antike neu zu erschließen, hieß aber zunächst und vor allem, Philologie zu betreiben. Denn der wichtigste Zugang zur Welt der Alten war, was sich von ihr an schriftlichen Zeugnissen erhalten hatte. So waren die Humanisten zunächst einmal Philologen, Buchgelehrte, die die Bibliotheken durchforsteten, Handschriften sichteten, sammelten, ordneten, abschrieben, verglichen, neu edierten, mit Kommentaren versahen und in Handbüchern und Lexika zugänglich machten. Damit sind sie wie zu Begründern des modernen Humanitätsdiskurses, so auch zu Stammvätern der modernen
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wissenschaftlichen Philologie geworden. Vieles von dem, was der Philologe noch heute als Sprach- oder Literaturwissenschaftler betreibt – Lexikologie, Grammatik, Bibliographie, Edition und Kommentierung von Texten – hat mit dem Humanismus begonnen, hat sich von den Grundlagen aus entwickelt, die durch ihn geschaffen wurden.
Politische Perspektiven
Die Aktivitäten des Humanismus blieben freilich nicht auf die Gelehrtenstube, auf die wissenschaftliche Arbeit in Universität und Schule beschränkt; er hatte wie eine theoretische, so auch eine praktische Seite. Nicht nur daß die Humanisten selbst nun so zu denken und zu schreiben begannen wie ihre antiken Vorbilder, daß sie die Formen, in denen sie an Universität und Schule zusammenlebten und sich untereinander austauschten, von diesen Vorbildern her umgestalteten – so begannen sie sich nun etwa Briefe im Stil von Cicero und Seneca zu schreiben und Umgangsformen und Formen der Geselligkeit zu pflegen, wie sie in der antiken Rhetorik gefordert und in der antiken Symposienliteratur geschildert werden – sie trugen das, was sie im Studium der Alten lernten, auch nach Kräften in das höfische, städtische und kirchliche Leben jenseits von Universität und Schule hinein, und das heißt: in die Zentren der Macht, in die Sphären der Politik, der Wirtschaft und der Justiz.
Hierbei kam ihnen eine Entwicklung zugute, die gerade um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in der Zeit des Kaisers Maximilian I. (1459 –1519) und seiner Reichsreformen,15 Fahrt aufzunehmen begann: die Ausbildung des frühmodernen Staats,16 die Schaffung von Institutionen, die erstmals so etwas wie den modernen Apparatestaat erkennen lassen – ein Riß durch die ständische Ordnung des Mittelalters, der sich auf die Dauer für diese als tödlich erweisen sollte. Zu dieser frühmodernen Staatlichkeit gehörte etwa die Abkehr von den mittelalterlichen Formen des Rechts, wie sie wesentlich durch das Gewohnheitsrecht geprägt waren, und Wiederaufnahme des römischen Rechts als eines in Gesetzestexten kodifizierten Rechts – ein Vorgang, der dem Germanisten vor allem durch „Götz von Berlichingen“ (1773)
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bekannt ist, jenes Jugenddrama des frischgebackenen Juristen Goethe, in dem dieser an den Verhältnissen im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit das Schicksal der condition humaine unter den Bedingungen der Moderne erkundet. Zum römischen Recht zurückzukehren, bedeutete aber, daß Fürstenhöfe und Städte, überhaupt alle großen Akteure des politischen, ökonomischen und kirchlichen Lebens, nun gelehrte Juristen brauchten, die die lateinischen Rechtsquellen lesen, von den antiken Voraussetzungen her verstehen, auslegen und auf die zeitgenössischen Verhältnisse anwenden konnten, und das konnten nur gebildete Humanisten sein.
So zogen sich die Fürstenhöfe von den großen Höfen der Kaiser und Könige, Kurfürsten und Herzöge bis zu den kleinen und kleinsten der Grafen und Freiherrn und die vielen großen und kleinen Stadtrepubliken nun eine Schicht von gelehrten Beamten, von „Räten“ heran, die so in der alten ständischen Ordnung nicht vorgesehen war. Der mittelalterliche Feudalherr bezog „auxilium et consilium“, praktische Hilfe und theoretische Beratung vor allem von seinen Lehensleuten, also von adligen Standespersonen, die selbst auf einer niedrigeren Stufe der Lehenspyramide als Feudalherren fungierten. Nun umgab sich der Fürst außer mit diesen auch mit „Räten“, mit Männern, die nicht mehr von Adel sein mußten und nur wegen ihrer fachlichen Qualifikation, eben wegen ihrer humanistischen Bildung an den Hof gezogen wurden, und er beriet sich mehr und mehr mit ihnen, ließ die politischen, ökonomischen und rechtlichen Geschäfte von ihnen betreiben. Ähnliches gilt von den Städten, von „Freien Reichsstädten“ wie Nürnberg und Augsburg; auch hier kamen neben dem städtischen Adel, den Patriziern, nun vermehrt Beamte zum Zuge. Und die Fürsten und Städte sorgten auch für die Ausbildungsstätten, die sie mit solch qualifiziertem Personal beliefern konnten; sie gründeten Universitäten und Gymnasien, etwa die sogenannten „Fürstenschulen“, und kümmerten sich um deren Alimentierung.
Die Humanisten als Träger des literarischen Lebens
Es waren vor allem die hier beschäftigten Professoren und die von ihnen ausgebildeten Schüler, die „Räte“, die gelehrten Beamten, Juristen und Geschäftsträger, die „hommes de lettres et d’affaires“ in Diensten der Fürsten, Ständeversammlungen und Städte, von denen die Bestrebungen des Humanismus getragen und vorangetrieben wurden. In ihnen erwuchs der frühmodernen Gesellschaft eine
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Bildungs- und Funktionselite, die von einem Studium her, das nicht selten durch mehrere Länder und an die verschiedensten Universitäten geführt hatte, sowie durch manch andere Formen des Austauschs bereits bestens vernetzt war, und dies kreuz und quer durch Europa, so daß sie in der Lage war, über die Grenzen der Territorien und Nationen hinweg die Ziele des Humanismus auf breitester Front zu fördern. Dabei verständigte man sich in Latein, der „lingua franca“ der frühen Neuzeit, so wie die aufgeklärte Welt des 18. Jahrhunderts in Französisch und die „Scientific Community“ und die Geschäftswelt von heute im Pidgin-English der Globalisierung.
Diese humanistische Elite wurde nun in eben dem Maße, in dem die Literatur vom Humanismus erfaßt und durchdrungen wurde, auch im literarischen Leben tonangebend. Aus ihr rekrutierten sich mehr und mehr die Autoren, und zugleich wurde sie zum maßgeblichen Teil des Publikums. Das aber hieß, daß das literarische Leben von Akteuren geprägt wurde, die existentiell an Universitäten und Gymnasien, Fürstenhöfe und Städte gebunden waren.17 Und so blieb es bis weit ins 18. Jahrhundert hinein; noch Aufklärer wie Lessing und Wieland haben sich zeitweilig durch ein Amt bei Hofe, in der städtischen Verwaltung oder an der Universität über Wasser halten müssen, ja noch die Weimarer Klassik, noch Goethe und seine Mitstreiter wurden von einem Hof, dem des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach, in Lohn und Brot gesetzt.
Denn erst im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts bildeten sich Strukturen heran, die es den Autoren erlaubten, sich von diesen Institutionen zu lösen und als „freie Schriftsteller“ zu arbeiten. Erst hier nahm ein Buch- und Zeitschriftenmarkt, wie wir ihn kennen, allmählich Gestalt an, ein Markt, der von einer breiten, finanzkräftigen Leserschicht getragen wurde und der es möglich machte, ausschließlich vom Schreiben zu leben, also Literatur zum Beruf zu machen. Erst hier entstand mit dem modernen Buch- und Zeitschriftenmarkt auch
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die moderne Öffentlichkeit – die unabdingbare Voraussetzung für eine nicht nur institutionell autarke, sondern auch von den Dogmen und Normen der geistlichen und weltlichen Autoritäten unabhängige, weltanschaulich autonome Literatur.
Von der Existenz als „freie Schriftsteller“ wußten die Humanisten natürlich noch nichts, ja hätten sie womöglich gar nichts wissen wollen. Und doch wurden sie mit dem, was sie in Angriff nahmen, de facto zu Wegbereitern der Autarkie und Autonomie der Literatur. Waren sie auch auf Ämter angewiesen und damit an die Interessen ihrer Dienstherren gebunden, so konnte ihnen doch bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Erbe der Antike niemand reinreden, denn hier besaßen allein sie die erforderliche Kompetenz, hier waren sie unter sich; in ihren Gelehrtenstuben und Gelehrtendiskursen konnten sie also sehr wohl schon an der Autonomie schnuppern. Eine ganz andere Frage war, was mit ihren Entdeckungen, Einsichten und Werken geschah, wenn sie mit ihnen die Sphäre der reinen Wissenschaft verließen. Unbeschadet dessen darf man die Humanisten aber wohl die Vorläufer der modernen Intellektuellen nennen. Dank ihrer sind Kultur und geistiges Leben nun nicht mehr nur eine Sache der Geistlichkeit allein, sondern auch die Sache einer weltlichen Gruppe von Kulturträgern. So beginnt mit ihnen das säkulare Bildungspriestertum der Berufsintellektuellen, wie sie in der Moderne zur tragenden Schicht oder jedenfalls doch zu einem unersetzlichen Motor des kulturellen Lebens geworden sind.
Impulse der Säkularisation
Wenn die Aktivitäten der Humanisten auf die Dauer auch zu einer Säkularisation 18 der Kultur führten, so darf man sich von diesen säkularisatorischen Impulsen doch keine übertriebenen Vorstellungen machen. Immerhin übten sie Kritik am Mittelalter, erklärten sie es zu einer Zeit der Finsternis und Barbarei, die zu überwinden wäre, und das heißt nun einmal, daß sie von einer Epoche abrückten, in der mit besonderer Energie versucht worden war, die christliche Lehre in allen Belangen des gesellschaftlichen und individuellen Lebens zur Geltung zu bringen. Und wenn sie sich kritisch gegen die scholastische The
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ologie und das Mönchswesen aussprachen, so nahmen sie damit zwei Erscheinungen aufs Korn, die noch heute zumindest in der katholischen Welt zum Kernbereich des Christentums gehören. Denn gerade diese erregten ihren besonderen Unwillen. In der Scholastik, dieser mit allen Mitteln des Rationalismus aufgerüsteten hochgelehrten Form der christlichen Theologie, erblickten sie ein Kunstgebäude weltleerer, praxisferner Spekulationen und hohler logischer Spitzfindigkeiten; als typisch für das scholastische Denken galten ihnen Fragen wie die, wieviele Engel auf die Spitze einer Nadel passen. Und das im hohen und späten Mittelalter mehr und mehr in die Breite gewachsene Mönchswesen war in ihren Augen vollends unglaubwürdig geworden, war für sie nurmehr noch der Hort eines oberflächlichen, in äußerlichen Ritualen erstarrten, bequemen Scheinchristentums und einer armseligen Scheinbildung.
Hinzu kam, daß die Humanisten beim Studium der Antike immer wieder Dinge zu Tage förderten, die mit der christlichen Lehre – in welcher konfessionellen Fassung auch immer – kaum zu vereinbaren waren. Das gilt etwa für bestimmte Schulen der griechischen Philosophie und bestimmte Entwicklungen der antiken Literatur, so zum Beispiel für die Lehren des Philosophen Epikur, wie sie das Werk eines der Lieblingsdichter der Humanisten, des römischen Lyrikers Horaz, prägen, oder auch für die satirischen Dialoge des spätantiken Schriftstellers Lukian, für Werke wie dessen Götter- und Hetärengespräche. Epikur empfiehlt seinen Schülern den Hedonismus, ein Leben nach dem Lustprinzip als Weg zur irdischen Glückseligkeit. Für den Christen jedweder Couleur hingegen steht es fest, daß er nicht auf irdische Glückseligkeit auszugehen, sondern dem Vorbild Christi zu folgen und sein Kreuz auf sich zu nehmen habe, daß er sich die Welt also nicht gemäß dem Lustprinzip anzueignen, sondern sie mit seiner Leidensfähigkeit zu bestehen habe. Und was sollte ein Christ wohl mit den Schriften des Religionskritikers Lukian anfangen können, wie sie der staunenden Welt eben um die Wende zum 16. Jahrhundert von zwei führenden Köpfen des Humanismus, Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus, in lateinischer Übersetzung zugänglich gemacht wurden?
Und was war mit dem Mythos, mit den Götter- und Heldengeschichten der alten Griechen und Römer, wie sie in der Kultur der
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Antike allgegenwärtig sind und schon von der Bibel und dann mit besonderem Nachdruck von den Kirchenvätern als falsche Religion, als Götzendienst verworfen worden waren? Durfte ein christlicher Dichter mit ihnen arbeiten? Durfte er seinen Werken zum Beispiel dadurch ein Ansehen geben, daß er die Musen, bei Griechen und Römern die Schutzgöttinnen der Kunst, um Beistand anrief, so wie es ihn das Studium der Epen von Homer und Vergil lehrte, oder daß er sich auf Apollon, den Führer der Musen, oder auf Minerva, die Schutzgöttin der Wissenschaft, berief? Solche Fragen haben noch den Dichtern des 17. Jahrhunderts Kopfzerbrechen bereitet, haben sie, die sich mit all ihrer humanistischen Bildung nach wie vor als Christen verstanden, immer wieder in Gewissenskonflikte gestürzt.
Humanismus und Christentum
Denn die Humanisten waren alles andere als Gegner der christlichen Religion oder auch nur der Institution Kirche. Wenn sie die Scholastik kritisierten, dann weil sie nicht wollten, daß der Glaube zur Beute eines Virtuosentums der Theoriebildung würde; weil sie den Glauben überhaupt nicht als eine Sache des gelehrten Wissens, sondern als Sache einer schlichten Frömmigkeit begriffen, die sich in der Lebenspraxis zu bewähren hatte; das gilt jedenfalls für Erasmus und seine Anhänger. Wenn sie sich gegen das als verkommen geltende Klosterleben des späten Mittelalters wandten, dann weil sie sich an dem Hiatus von frommem Schein und banalem Sein stießen. Und was die so ungemein bunte, weltanschaulich vielfältige Welt der Antike anbelangt, die sie sich neu eroberten, so waren sie der Überzeugung, daß sich in ihr trotz aller auf den ersten Blick dogmatisch irritierenden Züge letztlich die gleiche Wahrheit, das gleiche Wahre, Gute und Schöne bezeugen würde wie in der christlichen Lehre, nur eben in einer welthaltigeren, mit mehr Wissen gesättigten Form als in deren mittelalterlicher Fassung.
Diese Überzeugung, die These der finalen Konvergenz von antikem Wissen und christlicher Lehre, war die Basis ihrer Arbeit, und so taten sie alles, um das von ihnen neu erschlossene Wissen mit den Dogmen und Normen des Christentums in Übereinstimmung zu bringen, ja soweit sie sich mit aller Selbstverständlichkeit als Christen verstanden, konnte ihnen gar nichts anderes in den Sinn kommen. Als ihnen schließlich ein solcher Ausgleich nicht mehr gelang, als man so viel an neuem Wissen zusammengetragen hatte, daß es sich nicht mehr
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ohne weiteres in das christliche Leben integrieren ließ, und dank vertiefter Studien auch die Momente immer schärfer sah, in denen antike Positionen von den christlichen Überzeugungen abwichen, war es mit dem frühmodernen Humanismus vorbei. An seine Stelle trat die Bewegung der Aufklärung, eine Bewegung, die sich nicht mehr scheute, das neu erworbene Wissen ausdrücklich gegen Dogmen und Normen des Christentums in Stellung zu bringen und selbst älteste Bestandstücke der Glaubenswelt als „Aberglauben“ und „Vorurteil“ in Frage zu stellen. Die Voraussetzungen dafür hatte freilich der Humanismus geschaffen – ohne Humanismus keine Aufklärung.
Mittelalter und Antike
Hier darf nicht unerwähnt bleiben, daß das Mittelalter denn doch nicht ganz so finster und barbarisch war, wie es die Humanisten wahrhaben wollten. Wie der Humanismus mit seiner Antikekenntnis noch nicht über das Christentum hinausdenken konnte und wollte, so war die mittelalterlich-christliche Bildungswelt keineswegs ohne Kenntnis der Antike.19 Vieles hatte sich über die Zeit der Völkerwanderung und den Untergang des weströmischen Reichs hinweg erhalten, etwa dadurch, daß es in die Patristik eingegangen war, in die Schriften der Kirchenväter, der ersten christlichen Theologen, die ja selbst Kinder der Alten Welt waren. Und auch das Mittelalter hat schon seine Renaissancen erlebt; so wird zum Beispiel gerne von einer karolingischen Renaissance in der Zeit Karls des Großen – den Jahren um 800 – oder von einer staufischen Renaissance im Umkreis des Kaisers Friedrichs II. gesprochen; da befinden wir uns in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts.
Auch die scholastische Theologie verdankt sich in ihrer hoch- und spätmittelalterlichen Ausprägung wesentlich einer solchen Renaissance, nämlich der Wieder- und Neuaneignung der Philosophie des griechischen Philosophen Aristoteles. Freilich hatte man dessen Schriften noch nicht im griechischen Original; man kannte sie nur indirekt, in der Bearbeitung durch arabische Gelehrte, in der sie wie
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manch anderes Bruchstück antiker Wissenschaft auf dem Umweg über Spanien und seine Mauren nach Zentraleuropa kamen.20 Erst den Humanisten gelang es, alle erhaltenen Schriften des Aristoteles und der anderen griechischen Philosophen und Schriftsteller wieder im Original zugänglich zu machen, gemäß dem Ruf „Ad fontes!“, „Zu den Quellen!“, in dem sie ihr Verlangen zum Ausdruck brachten, unmittelbar aus den antiken Quellen zu schöpfen. Als ein markantes Datum gilt hier die Wiederentdeckung der Poetik des Aristoteles in einer Klosterbibliothek durch Enea Silvio Piccolomini, den späteren Papst Pius II., in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Es versteht sich von selbst, daß ein Text auf ganz andere Weise zum Sprechen gebracht werden kann, wenn er in der Originalsprache vorliegt und befragt wird. Das Mittelalter war schon allein deshalb nicht an griechischen Originalen interessiert, weil hier selbst die gelehrten Theologen in der Regel nur des Lateinischen, nicht aber des Griechischen mächtig waren. Für den Humanisten der frühen Neuzeit hingegen war es ein absolutes Muß, außer im Lateinischen auch im Griechischen sattelfest zu sein.
Das Mittelalter kannte zum Beispiel – um hier nur ein Hauptwerk der antiken Literatur anzuführen – auch die „Aeneis“ von Vergil, das große Staatsepos der Römer, in dem der Mythos von der Gründung Roms durch den aus den Flammen des untergehenden Troja entkommenen Königssohn Aeneas erzählt wird.21 Und es kannte es nicht nur in lateinischen Handschriften, sondern auch durch Bearbeitungen in den Volkssprachen wie den altfranzösischen „Roman d’Énéas“ und die mittelhochdeutsche „Eneit“ von Heinrich von Veldeke aus der Zeit vor 1190; seine Kenntnis reichte also über die esoterischen Bezirke der Lateinkundigen – und das heißt: der Geistlichen – hinaus bis weit in Laienzirkel hinein. Aber in den volkssprachlichen Bearbeitungen verwandelte sich der Held Aeneas wie von selbst in einen mittelalterlichen Ritter, der wie ein Ritter denkt und handelt und dessen Taten