Kitabı oku: «Geschichte der deutschen Literatur. Band 1», sayfa 6

Yazı tipi:

[<< 68]

als typische Ritterabenteuer daherkommen. Und das kennzeichnet die Antikekenntnis des Mittelalters insgesamt; was man von der Antike an Zeugnissen hat, wird mit größter Selbstverständlichkeit der eigenen Vorstellungswelt anverwandelt. Erst die Humanisten haben dann nach dem spezifisch Römischen der „Aeneis“ gefragt, nach dem Geist des Römertums, eben nach dem, was an ihr antik und damit anders als im Mittelalter war. Um Antikes zu wissen bedeutet für den Humanismus eben etwas anderes als für das Mittelalter.

Unbeschadet dessen hat aber eben auch das Mittelalter sein Wissen um die Antike gehabt. Das ist bei der Beschäftigung mit der Literatur der frühen Neuzeit stets mit zu bedenken. Nicht jedes Motiv, nicht jedes formale Mittel, das in ihr auf die Antike zurückverweist, muß immer schon das Zeichen einer Berührung mit den Bestrebungen des Humanismus sein; es kann sich auch mittelalterlicher Überlieferung verdanken. Und das ist bei der deutschen Literatur zunächst vielfach noch der wahrscheinlichere Fall, bewegte doch gerade sie sich besonders lange in den Bahnen, die ihr vom mittelalterlichen Erbe vorgezeichnet waren.

2.1.2 Die Literaturreform von Martin Opitz und die Literatur des Barock

Humanismus und deutsche Literatur

Wenn man sich vergegenwärtigt, in welchem Maße der Humanismus bereits um 1500, in der Zeit des Kaisers Maximilian I., von der Bildungselite Besitz ergriffen hatte und welche Spielräume er sich bis dahin hatte erobern können, dann wird es vielleicht überraschen, daß sein Einfluß auf die deutsche Literatur – genauer: auf die Literatur in deutscher Sprache – zunächst noch relativ gering blieb. Denn es dauerte bis in die zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts, bis zu der Literaturreform, die sich mit dem Namen von Martin Opitz (1597 –1639) verbindet, bis sich auch diese deutschsprachige Literatur in allen Belangen die Bildungswelt des Humanismus erschlossen hatte. Bis dahin blieb sie weithin im Bannkreis der Inhalte und Formen, der Stoffe und Themen, Gattungen, stilistischen Mittel und metrischen Formen, über die sie bereits im späten Mittelalter verfügte.

Der Grund dafür ist freilich leicht einzusehen: die Sprache der Humanisten war Latein, so wie es schon im Mittelalter die „lingua

[<< 69]

franca“ der Gebildeten gewesen war. Der Unterricht an den Universitäten, der entscheidende Zugang zur höheren Bildung, fand in Latein statt. Und auch im Alltag verkehrten die Humanisten in Latein; sie schrieben nicht nur ihre wissenschaftlichen Arbeiten in Latein, sondern auch die Briefe, in denen sie sich austauschten, und wenn sie dichteten, dann griffen sie selbstverständlich zur lateinischen Sprache. Ein Mann wie Erasmus von Rotterdam hat ein Leben lang in Latein geschrieben und publiziert. So hat sich das, was die Humanisten im Studium der antiken Literatur lernten, zunächst in einem Raum entfaltet, der durch den Austausch in lateinischer Sprache umrissen war, in der neulateinischen Literatur,22 in Deutschland nicht anders als überall sonst in Europa. Die Literatur des Humanismus – das war zunächst und vor allem die neulateinische Literatur, und wenn das Neue die volkssprachliche Literatur erreichen sollte, dann mußte es erst eine Sprachbarriere überwinden.

Das Nebeneinander von neulateinischer und deutscher Literatur

So haben wir im 16. Jahrhundert in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern ein Nebeneinander von zwei Literaturen, mit der neulateinischen Literatur auf der einen und der Literatur in der Volkssprache Deutsch auf der anderen Seite. Der eigentliche Schauplatz der humanistischen Neuerungen war die neulateinische Literatur; die volkssprachliche Literatur blieb insgesamt stärker und länger dem mittelalter­lichen Erbe verhaftet, konnte das Neue in ihr doch vielfach nur indirekt, durch Übersetzungen und über andere vermittelnde Zwischenstufen zur Wirkung kommen, und das hieß im allgemeinen: mit einer gewissen Verzögerung und in abgeschwächter, wenn nicht abgefälschter Form.

Die neulateinische Literatur war natürlich keine spezifisch deutsche Sache, so viel an ihr auch auf deutsche Autoren zurückgehen mochte; sie entfaltete sich in einem Verkehrsraum, der jenseits der nationalen Grenzen angesiedelt war, erreichte hier freilich nur die eng umschränkten, esoterischen Zirkel der lateinkundigen Humanisten. Die volkssprachliche Literatur hingegen blieb weithin auf

[<< 70]

den Verkehrsraum einer einzigen Volkssprache beschränkt; in dessen Grenzen gelangte sie dann allerdings zu sehr viel breiteren Schichten der Bevölkerung, erreichte sie auch – in Worten der Zeit – den „gemeinen Mann“, jedenfalls soweit er überhaupt lesen konnte oder durch die Verbindung mit einem Lesekundigen, der ihm die Texte vorlas, Zugang zum literarischen Leben hatte.

Und dieser Unterschied bestimmt die beiden Literaturen von Grund auf. Werke, die mit einem humanistisch gebildeten Leser rechneten, konnten ein ganz anderes Anspruchsniveau, einen höheren Grad an gedanklicher, sprachlicher und ästhetischer Komplexität anpeilen, konnten mehr mit gelehrten Kenntnissen und kenntnisreichen Anspielungen, kühnen Bildern und gewagten Formulierungen arbeiten als Werke, die auf den „gemeinen Mann“ zielten; diesem war längst nicht so viel an Gelehrsamkeit und ungewohnt Neuem zuzumuten, das über die mittelalterlichen Traditionen hinausführte. So unterscheiden sich neulateinische und volkssprachliche Literatur auch dadurch, daß der einen der Horizont des gelehrten Humanisten und der anderen der des „gemeinen Mannes“ eingeschrieben ist.

Beim „gemeinen Mann“ 23 ist übrigens nicht so sehr an das untere Ende der Ständepyramide als vielmehr an deren Mittelzone, nicht so sehr an die Unter- als an die Mittelschichten zu denken, vor allem an das Bürgertum in den Städten, bis hinab zu den Handwerkern, und das war keineswegs die Mehrheit der Bevölkerung, war nicht das, was man heute als „Volk“ bezeichnen mag. Die eigentliche Unterschicht, zumal die auf dem flachen Lande, wo 90 Prozent der Bevölkerung lebten, hatte seinerzeit noch kaum Fühlung mit der Welt der Bücher; sie spielte in der Ständegesellschaft kulturell ebensowenig eine Rolle wie politisch. Sie hatte allenfalls an einer Literatur Anteil, die in mündlicher Form, durch Vor- und Nachsingen, Vor- und Nacherzählen unter den Menschen kursierte, an der sogenannten Oral Poetry,24 an

[<< 71]

vorliterarischen Formen wie Volkslied, Sage, Legende und Märchen, Rätsel, Schwank und Witz.25

Die deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts als „Volkspoesie“

So groß und nachhaltig der Einfluß der neulateinischen Literatur auf die Entwicklung der Literatur in der Neuzeit auch war – sie selbst ist heute weithin vergessen, während sich die volkssprachliche Literatur des 16. Jahrhunderts durchaus im kulturellen Gedächtnis erhalten hat. Sie figuriert hier vor allem unter Titeln wie „Volkspoesie“, „Volkslied“ und „Volksbuch“, und das heißt: unter Gattungsnamen, die sich so im 16. Jahrhundert noch nicht finden, die ihr erst das romantische Interesse des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts angeheftet hat und die dann von der Literaturgeschichtsschreibung der frühen Germanistik aufgegriffen und weitergetragen worden sind. Mit dem Bestandteil „Volk“ sollte ihrem Bezug zum „gemeinen Mann“ Rechnung getragen werden, doch wurde damit Mißverständnissen Tür und Tor geöffnet, denn, wie gerade festgestellt, der „gemeine Mann“ ist nicht das „Volk“, und er ist es schon gar nicht im Sinne des Begriffs der Nation, den das 19. Jahrhundert kultiviert hat. Auch meinten die romantischen Taufpaten von „Volkslied“ und „Volksbuch“, in ihnen Literatur des Mittelalters vor sich zu haben – zu Unrecht, denn es handelt sich dabei wesentlich um Literatur des 16. Jahrhunderts, freilich um eben den Teil dieser Literatur, der dem mittelalterlichen Erbe besonders verpflichtet war.26

Im folgenden soll von der volkssprachlichen Literatur für den „gemeinen Mann“ unter dem Titel Popularliteratur gehandelt werden, zum einen um die nationalistischen Implikationen der Volksbegriffe des 19. Jahrhunderts auf Distanz zu halten, und zum andern weil schon das 16. Jahrhundert einen Begriff der populären Poesie kannte, wie es überhaupt ein klares Bewußtsein vom Nebeneinander der beiden Literaturen hatte. So unterscheidet z. B. Montaigne in seinen „Essais“ zwischen einer „poësie populaire et purement naturelle“ und einer „poësie parfaitte selon l’art“,27 zwischen einer populären Poesie,

[<< 72]

die ihm als eine reine Naturpoesie, also als eine mehr oder weniger kunstlose Kunst gilt, und einer Poesie, die durch Kunst vollkommen ist. Bei „art“ ( griechisch: techne, lateinisch: ars, in deutscher Übersetzung: Kunst) denkt der Humanist Montaigne natürlich an die künstlerischen Mittel, die sich dem Dichter im gelehrten Studium der antiken Muster erschließen.

Kunstpoesie vs. Naturpoesie

Montaigne billigt der Popularpoesie Qualitäten zu, die sich mit denen der humanistischen Poesie vergleichen lassen, doch steht er damit seinerzeit weithin alleine da. Für die meisten Humanisten ist das Bewußtsein vom Nebeneinander der beiden Literaturen mit der Vorstellung einer Rangordnung verbunden, mit der Überzeugung, daß die Popularliteratur als Naturpoesie von minderem Wert sei und daß allein eine Kunstpoesie auf der Basis des humanistischen Wissens den Gipfel der Vollkommenheit erreichen könne. Auf Werke wie die der Meistersänger, wie die eines Hans Sachs (1494 –1576), des fruchtbarsten, meistgedruckten und meistgelesenen deutschsprachigen Autors des 16. Jahrhunderts neben Luther, gaben sie nichts, blickten sie mit Verachtung herab und schalten ihre Verse „Knittelverse“.

Wie in anderen Belangen war es auch hier die Autorität der Alten, die ihnen die letzte Sicherheit gab. Denn die Unterscheidung von Natur- und Kunstpoesie ist bereits antik. Sie findet sich z. B. in dem umfangreichsten Rhetorik-Lehrbuch der Antike, in der „Institutio oratoria“ von Quintilian (35? – 100? n. Chr.), einem Werk, das gerade für den frühmodernen Humanismus ein Grundbuch aller Bildung war. Da wird im 10. Buch der Kanon der literarischen Überlieferung gesichtet, ein langer Katalog von Werken, die der Rhetor studieren soll, um seine Bildung und seine Sprache aufzupolieren, und dabei werden diese Werke in einer Ordnung präsentiert, die bei jeder Gattung von der Naturpoesie barbarisch roher Anfänge zur Kunst­poesie entwickelterer, gebildeterer Verhältnisse führt.28 Was konnte für einen Humanisten näher liegen, als dieses Modell auf das Verhältnis zwischen einer Popularliteratur mit mittelalterlichen Wurzeln und einer humanistischen Literatur zu übertragen, die dank ihrer

[<< 73]

Antike­kenntnis alle Register der Kunst zu ziehen wußte! Hier kann man erkennen, daß das Verhältnis von Popularliteratur und humani­s­tischer Literatur nicht nur eines des Nebeneinanders, sondern auch eines des Gegeneinanders war. Es wird sich zeigen, daß dies nicht nur die Humanisten so sahen; auch die Vertreter der Popularliteratur, oder jedenfalls doch einige von ihnen, bekannten sich gelegentlich zu einem solchen Gegeneinander.

Übrigens hat die Dichotomie von Natur- und Kunstpoesie nicht nur den Blick der Humanisten auf die Popularliteratur der frühen Neuzeit bestimmt, sondern auch noch den jener Autoren des späten 18. Jahrhunderts, jener Aufklärer und Romantiker von Johann ­Gottfried Herder (1744 –1803) bis zu Joseph Görres (1776 –1848), die sie unter Titeln wie „Volkslied“ und „Volksbuch“ neu für sich entdeckten. Anders als bei den Humanisten dient ihre Rubrizierung als Naturpoesie hier aber nicht mehr dazu, sie abzuwerten – im Gegenteil; Naturpoesie ist nun ein Ehrentitel, der es erlaubt, erstmals ihren poetischen Qualitäten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Denn inzwischen hat sich eine Umwertung der Begriffe Natur und Kunst vollzogen. Standen für die Humanisten Kunst und Wissenschaft noch an der obersten Stelle, so sind die Aufklärer des 18. Jahrhunderts mehr und mehr dazu übergegangen, diesen obersten Rang der Natur zuzusprechen und die Leistungsfähigkeit von Kunst und Wissenschaft in Zweifel zu ziehen. So beginnt das Jahrhundert der Aufklärung mit einer Abwertung der gelehrten Kunstliteratur des Humanismus, die zumal in ihrer barocken Endgestalt als unnatürlicher „Schwulst“ verworfen wird, um mit einer Aufwertung der frühmodernen Popularliteratur zu enden. In ihr will man nun den „dichtenden Volksgeist“ am Werk sehen und in diesem wiederum die natürliche Basis aller großen Kunst erkennen.

Der Austausch zwischen neulateinischer und volkssprachlicher Literatur

Wenn hier vom 16. Jahrhundert als der Zeit eines Neben- und Gegeneinanders von neulateinischer Literatur humanistischer Prägung und deutschsprachiger Popularliteratur mit mittelalterlichen Wurzeln gesprochen wird, so soll das nicht heißen, daß es nicht auch einen Austausch, ein Hinüber und Herüber von Stoffen und Motiven, poe­tischen Bildern und stilistischen Mitteln über die Sprachgrenze hinweg gegeben hätte. Viele Werke der humanistischen Gelehrsamkeit sind bald schon ins Deutsche übersetzt worden und standen

[<< 74]

somit auch einem Publikum zur Verfügung, das des Lateinischen nicht mächtig war, abgesehen davon, daß die meisten Autoren von Popular­literatur – freilich nicht alle – eine lateinische Bildung genossen haben. Und auf der anderen Seite haben die Neulateiner manches von dem aufgegriffen, was im Raum der Popularliteratur kursierte, etwa Stoffe aus der Welt der mittelalterlichen Ritter, der Sphäre der Sagen, Märchen und Legenden oder der Schwankliteratur. Und dennoch haben beide Seiten ihren Grundcharakter bewahrt, wie er sich aus der Ausrichtung auf ein je anderes Publikum, auf einen je anderen „impliziten Leser“ – hier auf den gelehrten Humanisten, dort auf den „gemeinen Mann“ – ergab. Der Austausch blieb punktuell, auf einzelne Stoffe, Motive, symbolische Bilder, Stil- und Kunstmittel beschränkt; von einer generellen Angleichung beider Literaturen konnte keine Rede sein.

Die Literaturreform von Martin Opitz

In diese Situation kam erst in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts, also mitten im Dreißigjährigen Krieg, Bewegung, dank der „Literaturreform“ von Martin Opitz. Das Ergebnis war freilich nicht, daß das Neben- und Gegeneinander von neulateinischer und Popularliteratur nun sein Ende fand, sondern daß diesen beiden Literaturen eine dritte an die Seite trat: eine humanistische Literatur in der deutschen Volkssprache. Das ist eben die Literatur, die die Literaturgeschichtsschreibung im Rückblick mit einem Begriff, den sie sich bei der Kunstgeschichte borgte, auf den Namen Barock getauft hat.29 Die Literatur des Barock ist wesentlich ein Ergebnis des Versuchs, die Inhalte und Formen, die sich die neulateinische Literatur in der Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe erschlossen hatte, in der deutschen Volkssprache zu realisieren und aus Eigenem weiter auszubauen.

[<< 75]

Wenn diese neue Entwicklung im kulturellen Gedächtnis vor allem mit dem Namen von Martin Opitz.30 verknüpft wird, so geschieht dies durchaus zu Recht. Denn er war es, der erkannte, daß die Zeit überreif für einen Neuanfang war, der sich mit programmatischer Klarheit und Entschlossenheit für ihn einsetzte und ihm eine engagierte Anhängerschaft und ein Publikum verschaffte. Das bekannteste Dokument seiner Literaturreform ist sein „Buch von der Deutschen Poeterey“ (1624),31 ein Lehrbuch für die Hand des Autors, doch waren seine eigenen Werke, die zahllosen Übersetzungen, Bearbeitungen und Werke „eigener Erfindung“, mit denen er „Exempel“, musterhafte Beispiele für die neue Art des Dichtens schuf, von nicht geringerer Wirkung.

Daß es Opitz mit seinem „Buch von der deutschen Poeterey“ in der Tat darum geht, der deutschen Dichtung die Möglichkeiten der neulateinischen Literatur zu erschließen, zeigt sich allein schon darin, daß er mehrfach grundsätzlich auf die umfänglichste und einflußreichste Poetik dieser neulateinischen Literatur, die „Poetices libri septem“ (1561) von Julius Caesar Scaliger (1484 –1558),32 verweist. So kann er sich in seiner eigenen Schrift mit drei Forderungen begnügen, die ihm in der deutschen Situation besonders nötig scheinen. Zum einen will er die Gattungen der mittelalterlichen Tradition durch die der antiken Literatur – durch Gattungen wie Tragödie und Komödie, wie das Epos, das er freilich mit dem Lehrgedicht gleichsetzt, und das Epigramm – ersetzt sehen. Sodann fordert er eine Dichtung, die

[<< 76]

in der Lage ist, alle Register der rhetorischen Stilistik zu ziehen, die ihren Umgang mit der deutschen Sprache nicht nur punktuell, sondern mit durchgreifender Konsequenz an den Lehren der antiken Rhetorik ausrichtet. Und schließlich verlangt er die Abkehr von den metrischen Formen der mittelalterlichen Tradition, von Formen wie dem „Knittelvers“ und der „Barform“, und die Umstellung auf das System der griechisch-römischen Metrik, oder vielmehr auf die Teile dieses Systems, die ihm im Deutschen realisierbar scheinen. Und er macht Vorschläge dafür, wie dies geschehen könne; so hat er die quanti­fizierende Metrik der Griechen und Römer durch eine qualifizierende oder akzentuierende Metrik ersetzt, der gemäß bei der Einhaltung des Versmaßes nicht mehr auf die Länge, sondern auf die Betonung der Silben zu achten ist.

Opitz hat mit seinen Bestrebungen einen solchen Erfolg gehabt, daß ihm bald schon der Ehrentitel eines „Vaters der deutschen Dichtung“ zuerkannt wurde. Zumal im protestantischen Deutschland und hier wiederum besonders in seiner Heimat Schlesien schlossen sich eine ganze Reihe von Autoren an ihn an, die bis heute zur ersten Riege der Literatur des 17. Jahrhunderts gezählt werden, so etwa Friedrich von Logau (1604 –1655), Andreas Gryphius (1616 –1664), Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1616 –1679) und Daniel Casper von Lohenstein (1635 –1683), um nur die prominentesten Namen zu nennen.

Eine Reform, die lange auf sich warten ließ

Angesichts dieses Erfolges mag man sich fragen, warum man nicht schon früher auf die Idee gekommen war, es mit einer humanistischen Literatur in deutscher Sprache zu versuchen. Hier ist in Rechnung zu stellen, daß die Humanisten – anders als ihre historischen Erben, die Aufklärer – von Hause aus nicht auf Breitenwirkung bedacht waren. Bei aller christlichen Demut pflegten sie ein Selbstverständnis, das durchaus esoterisch und elitär war. Sie wollten mit ihren Schriften nicht möglichst viele Menschen erreichen, sondern nur die anderen Gebildeten, auch weil ihnen bei dem Gedanken nicht wohl war, daß ihr Wissen in falsche Hände geraten, von Halbgebildeten mißverstanden und mißbraucht werden könnte, was mancherlei Gefahren für sie selbst als dessen Urheber hätte mit sich bringen müssen – ein Zug, der sie mit den Gelehrten des Mittelalters verbindet. In die Breite wollten sie allenfalls indirekt, nämlich dadurch wirken, daß sie Einfluß auf die Eliten der Ständegesellschaft gewannen. Im übrigen mußte die

[<< 77]

humanistische Bildung auch erst in breitere Kreise vorgedrungen sein, wenn eine humanistische Dichtung in deutscher Sprache ihr Publikum haben sollte, und das brauchte nun einmal seine Zeit.

Frühere Reformen anderer Nationen

Unbeschadet dessen haben aber andere Nationen, allen voran die großen Nationen im Süden und Westen Deutschlands, schon vor den Deutschen eine Literaturreform im Stil des Opitzschen Unternehmens erleben können. Wenn die „Essais“ von Montaigne hier in französischer Sprache zu zitieren waren, so ist dem auch zu entnehmen, daß die französischen Humanisten schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts in ihrer Muttersprache zu schreiben begannen. Als erste hatten es die Italiener mit einer humanistischen Dichtung in der Volkssprache versucht. Italien, das Land, in dem das Römische Reich zu Hause war, in dem die Hinterlassenschaft der Römer bis heute allgegenwärtig ist und die Sprache gesprochen wird, die dem Lateinischen am engsten verwandt ist, war das Mutterland der Renaissance, war überhaupt im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit in allen kulturellen Belangen am weitesten und wurde damit zum Vorreiter und Vorbild für die anderen europäischen Nationen. So haben sich hier schon im 14. Jahrhundert Frühhumanisten wie Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio in einigen ihrer Schriften – freilich längst nicht in allen – der italienischen Volkssprache bedient. Ihnen folgten im 16. Jahrhundert die französischen, spanischen, englischen und schließlich auch die niederländischen Humanisten.

Opitz und die Reformen der anderen Nationen

Das hatte übrigens für Opitz den Vorteil, daß er sich bei der Frage, wie sich die Qualitäten der antiken Muster in die volkssprachliche Literatur hineintragen ließen, an den Literaturen dieser anderen modernen Nationen orientieren konnte. Demgemäß hat er sich bei dem Versuch, dem deutschen Publikum durch Übersetzung Muster der neuen Art des Dichtens zu geben, ebenso an Werke aus diesen anderen modernen Literaturen wie an solche der Antike selbst gehalten. Besonders gerne hat er Werke der niederländischen Literatur übersetzt, die als letzte eine Literaturreform erlebt hatte und insofern den neuesten Stand des Transformationsgeschäfts verkörperte, wie die Niederlande am Beginn des 17. Jahrhunderts überhaupt das avancierteste Land in Europa, der Schauplatz vieler wegweisender Entwicklungen des gesellschaftlichen und kulturellen

[<< 78]

Lebens waren.33 Außerdem war das Niederländische dem Deutschen näher als jede andere Sprache, ja es wurde von Opitz überhaupt als eine Variante des Deutschen begriffen.

Das zeigt sich etwa in einem Gedicht, in dem er sich bei seinem wichtigsten Vorgänger, dem niederländischen Literaturreformator Daniel Heinsius (1580 –1655), dem „Schwan von Gent“, für dessen Vorarbeit bedankt.

(…) Was Aristoteles / was Socrates gelehret /

Was Orpheus sang / was Rom von Mantua (Vergil) gehöret /

Was Tullius (Cicero) gesagt / was irgend jemand kan /

Das sieht man jetzt von euch / von euch / ihr Gentscher Schwan.

Die Deutsche Poesie war gantz und gar verlohren /

Wir wusten selber kaum von wannen wir gebohren;

Die Sprache vor der (zu)vor viel Feind’ erschrocken sind

Vergassen wir mit Fleiß’ und schlugen sie in Wind.

Biß ewer grosses Hertz ist endlich ausgerissen /

Und hat uns klar gemacht / wie schendlich wir verliessen

Was allen doch gebührt: wir redten gut Latein /

Und wolte keiner nicht für Deutsch gescholten seyn.

Der war weit über Meer in Griechenland geflogen /

Der hatt’ Italien / der Gallien durchzogen /

Der prallte Spanisch her. Ihr habt sie recht verlacht /

Und unsre Muttersprach’ in ihren werth gebracht. (…)

Ich auch / weil ihr mir seyd im Schreiben vorgegangen /

Was ich für Ehr’ und Rhum durch Hochdeutsch werd’ erlangen /

Wil meinem Vaterland’ eröffnen rund und frey /

Daß ewre Poesie der meinen Mutter sey. (GB 19 –20)

Wie sehr Opitz’ eigene Literaturreform von denen der anderen modernen Nationen zehrte, mag man daraus ersehen, daß zwei formale Neuerungen, die er mit besonderem Nachdruck propagierte und die dann in der Tat zu Lieblingsformen der deutschen Barockliteratur wurden, die

[<< 79]

Gedichtform des Sonetts und die Versform des Alexandriners, gar nicht antiken, sondern mittelalterlichen Ursprungs sind, als solche freilich zu bevorzugten Formen der humanistisch-­volkssprachlichen Literatur dieser anderen Nationen geworden waren. Das Sonett, die Weiterentwicklung einer mittelalterlichen Strophenform, der ­Kanzone oder Barform, erhielt seine kanonische Gestalt durch Petrarca und wurde dank der gewaltigen Wirkung von dessen „Canzoniere“ (1327 –1369), seinen „Sonetten an Madonna Laura“, zu einer Grundform aller reformierten Literaturen. Und der Alexandriner, der Vers der altfranzösischen Alexander-Epen, war von dem französischen Humanisten Pierre de Ronsard (1524? –1585) wiederentdeckt und mit Hilfe seiner Dichterfreunde, der Autoren der „Pléiade“, durchgesetzt worden. Von diesen hatten sich vor allem die Niederländer anstecken lassen, die wiederum für Opitz maßgeblich waren.

Die frühe Blüte des Humanismus in Deutschland

Wenn aber so viele andere Nationen bereits vor den Deutschen den Weg zu einer humanistischen Literatur in der Volkssprache gefunden hatten, dann ist um so mehr zu fragen, warum es in Deutschland erst in der Zeit von Opitz zu einer solchen Literaturreform kam. Eines war sicher nicht dafür verantwortlich: ein ­Mangel an Humanisten. Denn schon um 1500 war der Humanismus im deutschen Kulturraum fest etabliert, vor allem im Süden und Südwesten Deutschlands, in großen Reichsstädten wie Augsburg, Nürnberg und Straßburg und in Universitätsstädten wie Heidelberg, Tübingen und Basel, wo Erasmus von Rotterdam wirkte. Prominente Vertreter dieses frühen Humanismus vor und neben Erasmus waren Rudolf Agricola (1444 –1485), Jakob Wimpfeling (1450 –1528), Sebastian Brant (1457?-1521), Konrad Celtis (1459 –1508), Konrad Peutinger (1465 –1547), Willibald Pirckheimer (1470 –1530) und Ulrich von Hutten (1488 –1523). Wie bereits erwähnt, erfreute sich der Humanismus der Förderung durch den damaligen Kaiser Maximilian I., der sie für seine Reichsreform brauchte, und darüber hinaus für die Ausrichtung eines höfischen Lebens, dessen Glanz und Ausstrahlung seine politischen Ambitionen in Europa unterstützen konnte.34 Und ihm folgten viele deutsche Fürsten.

[<< 80]

Der Einfluß der Reformation

Die Frage ist, warum von dieser frühen Blüte des Humanismus und der neulateinischen Literatur in Deutschland nicht der Funke auf die deutschsprachige Literatur übersprang, warum es damals bei einzelnen Vorstößen wie dem „Narrenschiff“ (1494) von Sebastian Brant blieb, einem Werk in deutscher Sprache, das zwar mit seiner Formensprache noch nicht weit über die ältere Literatur hinausführt, aber bereits reich mit humanistischem Wissen gesättigt ist. Der Versuch, hierauf eine Antwort zu finden, lenkt den Blick auf die zweite große kulturelle Bewegung der frühen Neuzeit neben dem Humanismus, auf die Reformation.

Deutschland war nun einmal das Stammland der Reformation. Hier war die Auseinandersetzung um den wahren Glauben ausgebrochen, hier hatte Martin Luther 1517 seine 95 Thesen veröffentlicht, und hier tobte der Streit am heftigsten, rangen die verschiedenen Konfessionen am verbissensten miteinander, so daß ihr Konflikt nach und nach alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und individuellen Lebens durchdrang. Er hat die Aufmerksamkeit des breiten Publikums und die Potentiale des kulturellen Lebens überhaupt – einschließlich der Kapazitäten des noch gar nicht so alten Druck- und Buchwesens – schließlich in einem Maße an sich gebunden, daß daneben kaum noch Raum blieb für humanistische Interessen, wie sie dann Opitz kultivierte. Religiöse Fragen beherrschten die Szene. Die Menschen bangten um ihr Seelenheil; da fehlte ihnen der Sinn für die eher weltlichen, auf ein reicheres, wissenderes, schöneres Leben gerichteten Interessen der Humanisten.

Opitz’ Literaturreform und der Konfessionsstreit

Wenn das aber zutrifft, dann ist es kein Zufall, daß Opitz seine Literaturreform ausgerechnet in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges,35 auf dem Höhepunkt oder vielmehr Tiefpunkt des Konfessionsstreits, so energisch vorantrieb, auf jenem Kulminationspunkt, der sich bald schon als ein Wendepunkt erweisen sollte. Die Katastrophe des nicht enden wollenden Kriegs ließ verstärkt nach Wegen aus dem Streit der Konfessionen suchen, und diese Wege konnte seinerzeit nicht mehr die Religion selbst, konnte nur der Humanismus weisen. Er konnte sie zum Beispiel mit seiner Kenntnis antiker Rechtsvorstellungen

[<< 81]

erschließen, jener Begriffe von Natur- und Völkerrecht, die dann zu einer Grundlage des Westfälischen Friedens von 1648 wurden. Und er konnte eben auch mit seiner Literatur auf neue Wege führen; er konnte die Menschen mit ihrer Hilfe auf andere Gedanken bringen, konnte die Fixierung auf den Konfessionsstreit lockern, indem er in ihr seine säkularen Interessen mit neuer Entschlossenheit zur Geltung brachte und auf der Basis der Volkssprache in breitere Schichten der Bevölkerung hineintrug.

Das literarische Antidot der Idylle

Daß Opitz seine Literaturreform in der Tat als ein solches Friedens­projekt verstand, zeigt sich nicht zuletzt darin, für welche Gattungen der antiken Literatur er sich besonders engagierte. So hat er sich mit besonderem Nachdruck darum bemüht, die Gattung der Idylle, des Schäfergedichts in der deutschen Literatur heimisch zu machen. Ihrer Entfaltung dient nicht nur seine „Schäfferey von der Nimfen Hercinie“ (1630), das Muster eines deutschen Schäferspiels; sie nimmt auch in vielen anderen seiner Werke, etwa in den umfangreichen episch-lehrhaften Gedichten „Zlatna oder Getichte Von Ruhe deß Gemüthes“ (1623) und „Trost Gedichte In Widerwertigkeit Dess Kriegs“ (1633), breiten Raum ein.

Aus heutiger Sicht mag man sich fragen, warum gerade hier ein Schwerpunkt seines Werks liegt, warum er gerade mit dem Sujet der Schäferwelt der deutschen Literatur auf die Sprünge helfen wollte; hatte er keine anderen, keine besseren, gewichtigeren Themen? Die Antwort ergibt sich eben aus der historischen Lage, aus der Situation des Dreißigjährigen Kriegs. In der Idylle 36 wird von einem einfachen, unbeschwerten Leben in der freien Natur erzählt, wird ein uto­pischer Raum fern von Städten und Höfen beschworen, der nichts von Errungenschaften der Zivilisation wie Kriegskunst und Kontroverstheologie weiß, in dem nur die elementaren Dinge des menschlichen Lebens zählen und kein größeres Unheil anzutreffen ist als der Schmerz unglücklicher Liebe. Was konnte seinerzeit wichtiger sein, als sich hierauf zu besinnen?37

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
560 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783846336533
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre