Kitabı oku: «Geschichte der deutschen Literatur Band 4», sayfa 7

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2.4.2 Religionskritik in Immermanns „Epigonen“

Das Bild eines Materialisten

Einem solchen Materialisten begegnen wir nun auch in den „Epigonen“ von Immermann, und es will wohl etwas besagen, daß gerade er in der Welt des Romans die Rolle des großen Religionskritikers zugewiesen bekommt. Es handelt sich bei ihm natürlich um einen Vertreter der Naturwissenschaften, genauer gesagt, um einen Arzt, aber eben um einen, der sich ganz dem modernen naturwissenschaftlichen Denken verschrieben hat. [<<84]

Der Arzt hatte seine Wissenschaft mit Geist und Freiheit studiert, die verwandten Naturgebiete waren von ihm in den Kreis der Betrachtung gezogen worden; er teilte sich gern und ausführlich mit. Aber freilich hatten diese Studien die gewöhnliche Folge gehabt. Dem Eingeweihten war das animalische Leben die Hauptsache geworden. Von Natur zweiflerisch gesinnt, hatte er durch ein wundes Verhältnis, welches ihn heimlich peinigte (eine unglückliche Liebe), einen noch schärferen Blick für den Zwiespalt der einzelnen Dinge bekommen. Alles Geistige und Gemütvolle fand an ihm einen entschiednen Verneiner, der die ätzendsten Einwürfe im ruhigsten Tone vortrug.

Jene trostlose Meinung, daß der Mensch sich nur durch eine Art von höherem Instinkt über das Tier erhebe, trat hier in reiner ausgeprägter Gestalt auf. Der Arzt war unerschöpflich in Beispielen, welche beweisen sollten, daß alles ideelle Streben der Menschheit und des Menschen immer nur zur Torheit oder zum Verbrechen geführt habe, daß der Kreis, in welchem sich die Geschlechter umherdrehn, ein überaus kleiner sei, und daß nur die unermüdliche Einbildung der Selbstgefälligkeit ihn zu einem großen erweitre oder seine Peripherie in die beliebte grade Linie nach dem sogenannten Ziele der Vollkommenheit (Perfektibilität) verwandle.

Hermann hatte sich (…) selbst für einen frühreifen Propheten des Nihilismus gehalten. Wie aber das Licht der Kerze neben der Strahlenglut der Sonne erbleicht, so schmilzt die Spielerei eines angeeigneten Wahns am Feuer einer echten Gesinnung. Er bestritt den Arzt mit allen Waffen, die ihm zu Gebote standen, und führte die Sache der Begeisterung so gut er konnte. (IW 3, 128–129)

Das Studium der Naturwissenschaften und die damit verbundene Fokussierung auf das „animalische Leben“ haben aus dem Arzt nicht nur einen „Materialisten“, sondern geradezu einen „Propheten des Nihilismus“ gemacht, nämlich einen „entschiedenen Verneiner“ „alles Geistigen und Gemütvollen“, „allen ideellen Strebens“ und der „Sache der Begeisterung“, also einen, der das Eigenleben und die Eigenbedeutung der „Seele“ und des „Geistes“ prinzipiell in Frage stellt, und damit zugleich jede Form von „Idealismus“ und „Romantik“. Wenn der Erzähler dies die „gewöhnliche Folge“ eines solchen Studiums nennt, so läßt er erkennen, daß der Arzt in der Welt des Vormärz längst kein Einzelfall mehr ist, daß das Welt- und Menschenbild, das an der Figur [<<85] des Arztes festgemacht wird, hier bereits eine gar nicht so kleine Zahl von Anhängern hat, daß sich unter den Gebildeten ein Antiidealismus und eine Antiromantik auszubreiten beginnen.

Die Frage nach dem Status von „Seele“ und „Geist“

Dieser Arzt nun wird mit einem katholischen Geistlichen, einem Domherrn, ins Gespräch gebracht, den er mit seiner ärztlichen Kunst zu versorgen hat. Da die Gesundheit des Domherrn aufs äußerste angegriffen ist, kommt die Rede bald auf ein zentrales Bestandstück der christlichen Lehre: auf die Vorstellung von einem Leben nach dem Tode. Damit ist eine Frage aufgerufen, die nicht nur einen Kernpunkt der Theologie, sondern zugleich auch eine Schlüsselfrage der Anthropologie bezeichnet, eben die Frage nach dem ontologischen Status der „Seele“ und des „Geistes“, nach dem Ort des menschlichen Bewußtseins in der Welt, eine Frage, die sich überall dort noch einmal neu und mit besonderer Dringlichkeit stellte, wo man sich anschickte, den Boden der Religion zu verlassen und sich am Leitfaden der modernen Wissenschaft in ein säkulares Welt- und Menschenbild hineinzubegeben.

Solange sich eine Mehrzahl von Menschen gläubig im Raum einer Religion bewegt, für die die Seele unsterblich ist, steht die Bedeutung alles Seelischen und Geistigen außer Zweifel, läßt sich mit größter Selbstverständlichkeit von dem inneren Reich der Vorstellungsbildung und von der Welt der Ideen handeln. Mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele entfällt das metaphysische Widerlager für einen solchen fraglosen Umgang mit dem Bewußtseinsleben und es wird für viele zum Problem, an der Vorstellung von einem Eigenleben, einer Eigenbedeutung und Eigenlogik des Seelisch-Geistigen festzuhalten, zumal die moderne Wissenschaft ihren ganzen Ehrgeiz dareinsetzt aufzuzeigen, wo überall Seelisch-Geistiges von physikalischen, chemischen und biologischen Gegebenheiten abhängig sei – jener latente Materialismus und Nihilismus der modernen Wissenschaft, den Immermann in der Figur des Arztes zum Vorschein bringen will.

So ist denn der Weg in die säkulare Moderne auch durch den permanenten Kampf zwischen denen, die das Bewußtsein im Namen der Wissenschaft zum bloßen Schein erklären, und denen geprägt, die ihm immer noch eine eigene Form des Seins zuerkennen wollen, wenn vielleicht auch mit anderen Mitteln als denen der Religion, ein Kampf, der natürlich für Kunst und Literatur von größter Bedeutung ist, da er mit dem Bewußtseinsleben das Fundament all ihrer Aktivitäten betrifft, [<<86] und der heute etwa im Blick auf die Prätentionen und Insinuationen der Gen- und Hirnforschung ausgetragen wird. Schon die Autoren der Goethezeit haben mit der Herausforderung durch den latenten Materialismus und Nihilismus der modernen Wissenschaft gerungen – man denke nur an Goethes „Faust“ – und erst recht hat er die Autoren des Vormärz bewegt, hatten sie doch nun eine Religionskritik zu verarbeiten, die weiter und tiefer reichte als alles bislang Dagewesene.

An jenem Abende nun versuchte zwar der Arzt zuvörderst den Domherrn über seine Gesundheitsumstände zu trösten, ließ jedoch ein entscheidendes Wort über die Lebensdauer gewisser Konstitutionen fallen, wobei er ihn bedenklich ansah. Dieser Blick konnte den andern wenig vergnügen, und seine Stimmung wurde nicht gebessert, als der Arzt ein treffendes Bild der Auflösung (des Körpers) entwarf, worin deren einzelne Erscheinungen und Stadien mit schauderhafter Lebendigkeit hervortraten, so daß man froh sein mußte, wenn dieses widerliche Gären endlich im grauen Staube sich beruhigte.

Der Domherr ging im Zimmer auf und nieder und sagte „Possen! Wer an Fortdauer (der Seele) glaubt, läßt sich durch dergleichen nicht schrecken.“

Der Arzt versetzte hierauf, daß der Glaube und die Wissenschaft allerdings zwei gesonderte Gebiete beherrschten, wovon nur das eine den Vorzug habe, daß man wisse, wo es liege, während dies von dem andern sich nicht so ganz behaupten lasse. Er wollte hierauf das Gespräch abbrechen und sich entfernen, womit aber dem Domherrn durchaus nicht gedient war. Dieser hielt ihn vielmehr mit schlecht verhüllter Ängstlichkeit zurück und rief: „Ihr seid Materialist, Doktor, ich weiß das; aber ein innerstes Gefühl sagt dem Menschen, daß seine Seele etwas Grundverschiednes sei von dem Zucken der Muskeln und dem Umlaufe des Bluts. Sprecht eure Zweifel nur aus; es ist mir nichts unerträglicher als dieses Halten hinter dem Berge.“

„Man hat“, sagte der Arzt, „auch lange von den vier Elementen gesprochen, und nun wissen wir denn doch, daß diese für Grundstoffe gehaltnen Dinge aus verschiednen andern bestehn, welche erst zusammengefügt das bilden, was wir Erde, Wasser, Luft und Feuer nennen. Und wer weiß, wie weit die Chemie die Scheidung noch treiben kann! Hievon die Anwendung auf die menschliche Seele zu machen, scheint mir leicht. Zum Beweise ihrer ewigen Dauer ist viel von ihrer Einfachheit gesprochen worden. Dabei wurde nur vergessen, daß derselbe Mensch unter verschiednen [<<87] Umständen oft als ein ganz andrer erscheint, daß Grundsätze, Meinungen und Überzeugungen in demselben Individuo einander widersprechen, und daß daher in dem Dinge, welchem wir so gerne eine vornehme Selbständigkeit beilegen möchten, manche gar nicht so notwendig zueinander gehörende Potenzen wirksam sind, die ja auch die empirische Psychologie längst aufgezählt und nachgewiesen hat.“

„Also sollte sich die Seele bei dem Tode gewissermaßen in Verstand, Vernunft und Urteilskraft zerlegen?“ fragte der Domherr, froh, seinen Gegner zum Absurden geführt zu haben.

Der Arzt versetzte: „Wie die Auflösung des Seelischen von statten gehe, weiß ich nicht; ich habe es hier nur mit einem Irrtume zu tun. Sind Sie derselbe noch, der Sie als Kind und Jüngling waren? Entschwanden nicht ganze Regionen von Erinnrungen und Empfindungen aus Ihrem Geiste? Wechselten nicht Liebe und Neigung in ihnen? Wollen Sie noch, was Sie wollten? Können Sie einen einzigen Moment in sich nachweisen, wo Ihre Seele anders als zeitlich, räumlich, hinfällig, leiblich dachte und fühlte? Welchen Teil, welche Stufe dieses Etwas wollen Sie also für jene Ewigkeit retten?“ (IW 3, 254–256)

Die Frage nach der Kontinuität der Person

Immermann läßt seinen Arzt hier eine Frage aufwerfen, die für die Literatur auf ihrem Weg in die Moderne noch große Bedeutung erlangen wird: die Frage nach der Konsistenz und Kontinuität der Person. Schreiben heißt wesentlich Menschen darstellen, Bilder von Menschen zeichnen, Figuren entwerfen. Die gängige Methode solcher literarischen Menschenbildnerei war und ist die Ausstattung der Figuren mit einem Charakter, mit einem fixen Kostüm von Eigenschaften – aber heißt das wirklich den Menschen zur Darstellung bringen? Ist der Mensch nicht gerade darin Mensch, daß er immer wieder ein anderer ist und damit jedem Versuch einer Charakterisierung immer schon voraus, ist er nicht wesentlich ein „Mann ohne Eigenschaften“ (Robert Musil), wie der Titel eines berühmten Klassikers der Moderne lautet? Und wie kann die Literatur dem gerecht werden, die doch auf die Sprache angewiesen ist und demgemäß vom Menschen nur in der Weise des Fixierens sprachlicher Aussagen handeln kann?

Bei Immermann ist die Frage nach der Konsistenz und Kontinuität der Person noch keine Frage an die Literatur selbst und ihre Verfahren zur Darstellung des Menschen, wird sie zunächst einmal nur [<<88] im Dialog der Figuren dem Unsterblichkeitsglauben als Stolperstein in den Weg geworfen. Aber sie tritt damit doch schon in den Horizont der Literatur, und es ist kein Zufall, daß dies gerade hier geschieht, wo zentrale Fragen des Menschenbilds wie die nach dem Status der „Seele“ und des „Geistes“ im Licht der fortschreitenden Verwissenschaftlichung der Welt erörtert werden.

Die Vorstellung vom „Himmel auf Erden“

Immermanns Arzt begnügt sich freilich nicht damit, den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele mit Argumenten wie dem geschilderten zu bestreiten. Er will die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode keineswegs mit Stumpf und Stiel ausgerissen, will sie lediglich in andere Bahnen als die des christlichen Glaubens gelenkt, nämlich von der Transzendenz auf die Immanenz, vom Jenseits des Christentums auf das Diesseits umdirigiert wissen. Der Mensch soll seinen „Himmel“ nicht mehr in irgendwelchen „Hinterwelten“, sondern „auf Erden“, in dem „gegenwärtigen irdischen Leben selbst“ suchen. Da soll er dann erkennen können, daß ihm schon hier sehr viel mehr an Leben zuteil werde als nur das, was er in seiner kurzen Lebensspanne auf Rechnung seiner individuellen „Seele“ erfahre, daß er nämlich als Mensch unter Menschen an dem Leben der gesamten Menschheit partizipiere, und dies gleich in doppelter Hinsicht: als Glied sowohl in der natürlichen als auch in der geschichtlich-kulturellen Reproduktion der Gattung. In dem einzelnen Menschen lebt die Geschichte der ganzen Menschheit fort, wie er selbst in seinen Kindern fortlebt.

Leben in und mit der Geschichte

Das mag nun immer noch ein Materialismus heißen, aber es ist durchaus kein Nihilismus mehr. Der Materialismus, für den die Figur des Arztes steht, ist offenbar einer, der sich mit seiner Kritik an der Macht und Herrlichkeit des Geistes keineswegs im Nihilismus ankommen sehen will, der sich vielmehr der Hoffnung hingibt, aus sich selbst heraus Perspektiven entwickeln zu können, die eine echte Alternative zu den Verheißungen der Religion darstellen würden. Dabei werden Vorstellungen erprobt, die so gar nicht zu dem Rationalismus passen wollen, mit dem der alte Unsterblichkeitsglaube kritisiert worden ist. So spricht der Arzt bei der Ausführung des Gedankens vom Leben in und mit der Geschichte etwa von Wiedergängerei und Seelenwanderung, ersteres ein Lieblingsmotiv der romantischen Dichtung, letzteres eine Vorstellung indischer Religionen, die seinerzeit auch von dem Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1860) erwogen worden ist. [<<89] Immerhin räumt er ein, daß es sich dabei um Vorstellungen handele, von denen sich nur schwer sprechen lasse und die überhaupt eine höchst persönliche Angelegenheit seien.

Aufwertung der Sexualität

Anders die Passagen, in denen er auf das Weiterleben in der natürlichen Reproduktion zu sprechen kommt; da äußert er sich mit der größten Bestimmtheit, und er spart nicht mit Worten, die das „Geschäft“ der Zeugung im wunderbarsten Licht erstrahlen lassen. Damit zielt er natürlich auf das schwierige Verhältnis des Christentums zur Leiblichkeit des Menschen, auf jenes fundamentale Mißtrauen gegenüber der menschlichen Sexualität, das in der zölibatären Lebensweise katholischer Priester und im Keuschheitsgelübde katholischer Mönche und Nonnen zum Ausdruck kommt. Immermann läßt damit einen Diskurs wieder aufleben, den bereits die Aufklärung des 18. Jahrhunderts angesponnen hatte und der über dem religiösen Roll back der Romantik abzureißen drohte, den der Erkundung und Neubewertung der menschlichen Triebnatur als etwas Natürliches, als integraler Bestandteil der „allgemeinen Menschennatur“, der als solcher zunächst einmal zu würdigen und nicht immer schon verdächtig zu machen sei.

„Man hat auch von Nektar und Ambrosia gesprochen, und gewiß hat mancher nach dieser Götterspeise, wie Tantalus, ein Gelüsten empfunden; gleichwohl, hat sie jemand gekostet? Mußte nicht jeder sich mit gemeiner menschlicher Kost begnügen? Und so ist es mit dem Unsterblichkeitsglauben. Ein lügenhaftes, schwärmendes Etwas in uns verlangt nach Nektar und Ambrosia, während die wahre, innige und viel tröstlichere Befriedigung überall uns nahegestellt worden ist, ohne daß unsre blöden Sinne sie wahrnehmen.“

„Und die wäre?“ fragte der Domherr.

„Das gegenwärtige irdische Leben selbst“, versetzte der Arzt. „Auch ich sage in meinem Sinne: Der Mensch ist ewiger Dauer. Aber ich setze hinzu: Der Himmel ist auf Erden, und mit dem Tode ist es nicht aus, sondern es beginnt aufs neue. Wie Feuer von oben ergreift das Psychische den Ton, bildet und wirkt ihn aus, und wenn es ihn abgenutzt hat, sucht es sich frischen Stoff. Wir sind alle Revenants (Wiedergänger), und dieser Erscheinung der Geister oder des Geistes ist kein Ziel in der Zeit gesetzt.“

„Das ist eine schlechte Fortdauer“, seufzte der Domherr. „Was hilft es mir zu vermuten, ich habe schon irgendwo einmal gesteckt, wenn ich nicht weiß, wo und in welcher Haut ich steckte!“ [<<90]

„Und wenn nun jene Vermutung sich bis zur klarsten Anschauung steigern ließe? Im ahnenden Vortraume ist letztre schon gesetzt: er heißt Geschichte. Diese in allen so lebendig zu machen, daß jeder sich auf Jahrtausende zurück wiederfinden kann, ist eigentlich die geheimnisvoll verhüllte Aufgabe der Gegenwart. Wir reifen einer Periode entgegen, worin die Menschen ebensosehr Bürger der Vergangenheit sein werden, als sie eine Zeitlang in der durch das Christentum angewiesenen Richtung Anwärter der Zukunft waren. Das ist der heilig zuckende Wille des Weltgeistes unter der Decke der politischen Bestrebungen unsrer Zeit, welche eben dieses, von ihrer bewußten Absicht ganz verschiedne Resultat hervorzubringen bestimmt sind. Hin und wieder ist dieser Unsterblichkeitsglaube oder vielmehr dieses Wissen schon vorhanden; es gibt Vorboten der neuen Epoche. So glaube ich von mir sagen zu können, daß ich mit Bestimmtheit sehe, wo ich da und dort schon aufgetaucht bin.“

„Ist es möglich?“ rief der Domherr. „Entdecken Sie mir…“

„Diese Kunde gehört nur mir“, erwiderte der Arzt. „Allein ich glaube, daß jeder nicht ganz Verwahrlosete sie in sich erzeugen könnte.“

„Und wie?“

„Man kommt zu Mysterien bekanntlich erst nach vielen Vorbereitungen. Auch wird nur der eine höhere Seelenerfahrung recht besitzen, der sie selbsttätig sich hervorbringt. Um aber auf Ihre Angst und Not, die ich mit Bedauern wahrnehme, zurückzukommen – es gibt ein sehr einfaches Mittel, sie zu heben, Sie von aller Unruhe über die Dinge jenseits des Grabes zu heilen und Ihnen dieses so zu zeigen, wie es ist, nämlich als einen unschuldigen, harmlosen Hügel Erde.“

„Nun? dieses Mittel?“

„Heiraten Sie und zeugen Sie einen Sohn! Wenn wir uns einigermaßen an die Natur halten wollen – und das ist wohl in jedem Falle das Sicherste – so müssen wir erkennen, daß mit jener wunderbaren Funktion, worin der ganze Mensch zu einer belebenden Flamme auflodert, auch der ganze Mensch im natürlichen und im höheren Sinne fortgesetzt wird. Nur eine verdorbne Phantasie hat um sie ihr lüsternes Unkraut gewoben; sie ist für den wahren Priester des Universums etwas so Ernstes und Schweres wie die Bewegung der Himmelskörper, die Reise des Lichts, der Drang der Voltaischen Säule. Hier ist uns auf die liebreichste Weise das Mittel in die Hand gegeben, alle kranken Schrecken abzuschütteln, und ich habe immer die Weisheit der alten Indier bewundert, welche aus dem Geschäfte, zu [<<91] welchem ich Sie aufmuntern möchte, einen Punkt ihrer Pflichtenlehre machten. Meine Beobachtungen lehrten mich auch fast immer, daß Personen, welche die Zeit nach ihnen verkörpert vor sich sahn, aufhörten, dieselbe zu fürchten (…). Es ist keine Redensart, es ist eine Wahrheit, daß die Eltern in den Kindern fortleben. So aber geht es; der Mensch sucht über den Sternen, was zu seinen Füßen liegt (…).“ (IW 3, 256–259)

Es zeigt sich, daß der Domherr gegen solche Vorstellungen keineswegs immun ist. Weist er sie anfangs noch empört zurück, mit einer nervösen Unruhe freilich, die seinem Christentum kein gutes Zeugnis ausstellt, so bricht sein Widerstand gegen sie bald völlig zusammen, um einem ebenso überstürzten wie naiven Versuch gläubiger Aneignung Platz zu machen. Bereits am nächsten Morgen weiß er dem Arzt von einem Traum zu berichten, in dem er sich selbst als Wiedergänger eines Ahnherrn gesehen haben will, und zwar eines Ahnherrn auf Freiersfüßen, und er will dies als ein Zeichen begreifen, um bei seinen Oberen um die „Erlassung der Zölibatspflicht“ einzukommen und sich selbst ebenfalls auf Brautschau zu begeben. Die Bereitwilligkeit und Geschwindigkeit, mit der Immermann den Kirchenmann auf die Linie des Arztes einschwenken läßt, machen einmal mehr deutlich, wie es nach seinem Urteil um die Glaubenswelt des Christentums bestellt ist.

2.4.3 Die Vorstellung vom „Himmel auf Erden“

„Der Himmel ist auf Erden“. Mit diesem Gedanken stehen Immermann und sein Arzt seinerzeit keineswegs alleine da. Gerade im Vormärz wird er mehr und mehr zum Fluchtpunkt der Perspektiven, die sich im Zuge der Säkularisation und der Verwissenschaftlichung der Welt eröffnen, die sich überhaupt mit dem Weg in die Moderne verbinden. Wer von dem Glauben Abschied nimmt, daß sich das Dasein des Menschen erst im Jenseits ganz erfülle, der kann nur noch im Diesseits auf Erfüllung ausgehen, der wird sich ein Bild vom Leben „auf Erden“ machen wollen, das es ihm erlaubt, die Erwartungen, die der Christ in seine Vorstellung vom „Himmel“ investiert, auf das irdische Dasein zu übertragen. Und er wird sich dazu um so mehr berechtigt fühlen, als er sich davon überzeugen kann, daß es sich bei ihnen um Erwartungen handele, die allesamt gleichermaßen aus dem Leben [<<92] „auf Erden“, aus irdischen Bedürfnissen und Nöten entsprungen seien und deren Erfüllung deshalb auch nur im Kontext des Lebens „auf Erden“ Sinn mache.

Pantheismus, Humanitätsreligion, Kunstreligion

Bei der Ausgestaltung der Vorstellung vom „Himmel auf Erden“ setzten die Autoren des Vormärz vor allem auf drei Bereiche, die bereits in einer früheren Phase der Säkularisation, in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt waren und die darüber ein Ansehen gewonnen hatten, dessen sie sich in der christlichen Welt der Frühen Neuzeit noch nicht hatten erfreuen können: auf die „lebendige Natur“, auf die „allgemeine Menschennatur“, die „Humanität“, und auf die Kunst. Die Art und Weise, wie diese Komplexe von den Aufklärern zu weltanschaulichen Auffangstationen der säkularisatorischen Tendenzen der Moderne ausgebaut worden waren, hatte ihnen eine Aura, eine quasi-religiöse Bedeutung zuwachsen lassen, die es den Autoren des Vormärz leicht machte, ihre Vorstellungen von einem „Himmel auf Erden“ auf sie zu gründen.

Denn die „lebendige Natur“ war hier zum Kultobjekt des Pantheismus geworden, die „allgemeine Menschennatur“ zum Kultobjekt der Humanitätsreligion und die Kunst zum Kultobjekt der Kunstreligion. Dem Pantheismus39 des 18. Jahrhunderts galt die „lebendige Natur“ als „göttlich“, weil sie es dem Menschen erlaubte, sich in ihr zumindest zeitweise in einem „Himmel auf Erden“ zu fühlen, sich nämlich in einem vollkommenen Einklang mit der Welt und mit sich selbst zu erleben. Die Humanitätsreligion wollte in der „allgemeinen Menschennatur“ etwas „Göttliches“ erblicken, weil sie die Wunder der selbstlosen Wahrheitssuche und der Erkenntnis, des selbstlosen Einstehens für das Wahre und Gute und das Wunder der Kreativität, der schöpferischen kulturellen Produktivität, weil sie das Wahre-Gute-Schöne aus sich hervorbrachte. Und die Kunstreligion nannte die Kunst „göttlich“, weil sie ebensowohl in der Lage war, die Schönheit der Welt zum Vorschein zu bringen und sie damit als Ort eines glüc [<<94] klichen Lebens zu erweisen, wie sie über die Mittel verfügte, auf eigene Rechnung Bilder des Schönen zu schaffen, Bilder, die es erlaubten, sich über allfällige Abgründe des Sinnentzugs zu „erheben“ und sich zumindest in der Phantasie in ein erfülltes Dasein hineinzuversetzen. Daran ließ sich anknüpfen.

Vitalismus

Immermanns Arzt bezieht sich bei seiner Rede vom „Himmel auf Erden“ freilich auf keinen dieser drei Bereiche, auch nicht auf den der „lebendigen Natur“. Er spricht lediglich von dem „gegenwärtigen irdischen Leben“. Damit zielt er zwar einerseits auch auf das natürliche, das „animalische Leben“, wie es unter anderem die Glückspotentiale des Sexuallebens, „jene wunderbare Funktion“ bereithält, „worin der ganze Mensch zu einer belebenden Flamme auflodert“; andererseits meint er damit zugleich das Leben in und mit der Geschichte, die lebendige Teilhabe an den Segnungen der Kultur. Dieser zwiegesichtige, eigentümlich zwischen Natur und Kultur changierende Lebensbegriff wird in den weltanschaulichen Debatten des 19. Jahrhunderts bald schon Karriere machen, wird zur Basis einer „Lebensreligion“ und „Lebensphilosophie“, eines „Vitalismus“ werden, der nach und nach an die Stelle des Pantheismus tritt.40

Der Pantheismus gerät nämlich im 19. Jahrhundert in eben dem Maße in Bedrängnis, in dem die Natur zur Beute der modernen Naturwissenschaft und Technik wird. Wer sich erst einmal daran gewöhnt hat, sich mit dem Wissen des Naturwissenschaftlers und den Interessen des Technikers in der Natur umzutun, wer sich ihr zunächst und vor allem als einem Objekt der Analyse, des Messens, Rechnens und der technischen Manipulation nähert, den kann es irgendwann nicht mehr überzeugen, wenn sie ihm als eine Stätte quasireligiöser Einheits- und Harmonieerlebnisse angedient wird. Nichts anderes zeigt Immermann an der Figur des Arztes. So hat sich der Pantheismus bald nur noch in einer Epigonenlyrik halten können, wie sie Geibel kultiviert hat, [<<94] um an der Schwelle zur ästhetischen Moderne, in der Zeit der großen Wirkung Nietzsches, schließlich vollends einem Vitalismus zu weichen, der ohne einen pantheistischen Naturbegriff auskommt.

Da heißt es dann: „Der Sinn des Lebens ist das Leben“. Will sagen: wer sich ganz dem „gegenwärtigen irdischen Leben“ hingibt, wer es in all seinen Möglichkeiten wahrnimmt, in all seinen Höhen und Tiefen durchmißt und mit größtmöglicher Intensität durchlebt und durchdenkt, für den erübrigt sich die Frage nach einem „Sinn des Lebens“, der braucht sich von einem „lügenhaften, schwärmenden Etwas“ im Menschen nichts mehr in Sachen Sinn vormachen zu lassen. Damit nimmt die Vorstellung vom „Himmel auf Erden“ eine Form an, in der sie sich noch der letzten Reste des Christenhimmels entledigt hat.

Vom Himmel der Religion zum Himmel der Utopie

Das bekannteste Beispiel für die Gestaltung der Idee des „Himmels auf Erden“, das die Literatur des Vormärz hervorgebracht hat, stammt aus der Feder von Heine: das Eingangsgedicht von „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1844), überschrieben „Caput I“, lateinisch für „erstes Kapitel“; die einzelnen Gedichte des Zyklus haben ja keine besonderen Titel. Heine setzt in ihm vor allem auf die Humanitätsreligion, wie er sich in dem gesamten Zyklus darum bemüht, seinem Leser die entsprechenden Vorstellungen nahezubringen. Schon in dem Vorwort, das den Gedichten vorangestellt ist, bekennt er sich zu einer Position, die er einen „Patriotismus“ der „Humanität“ nennt. Dabei weist er der „Humanität“ ausdrücklich eine quasi-religiöse Bedeutung zu, spricht er von ihr nämlich als von dem „Gott, der auf Erden im Menschen wohnt“ (HS 7, 575).

Zugleich arbeitet er die politischen Aspekte der Religionskritik heraus, der die Humanitätsreligion – wie bei den Linkshegelianern besonders deutlich zu sehen – ihre Entstehung verdankt. Der „Himmel“ des Christentums wird für ihn vor dem Hintergrund der sozialen Frage und des Bündnisses der Kirchen mit den Mächten der Reaktion zu einem „letzten Schlupfwinkel“ der „Dienstbarkeit“, zu einem ultimativen ideologischen Mittel der Unterdrückung, mit dem Linkshegelianer Marx zu reden: zu „Opium des Volkes“. Es gilt, den „Himmel“ vom Jenseits ins Diesseits umzusiedeln und damit den „Gott, der auf Erden im Menschen wohnt“, „aus seiner Erniedrigung (zu) retten“, will sagen: dem „freien Menschentum“ seine „Würde“ zurückzugeben (HS 7, 574–575). In diesem Sinne wird im Eingangsgedicht von [<<95] „Deutschland. Ein Wintermärchen“ aus dem Himmel der Religion der Himmel der politischen Utopie.41

Ausgangspunkt ist die Begegnung mit einem „Harfenmädchen“, einer Straßensängerin, wie wir ihr heute noch in einer Fußgängerzone oder Kneipe begegnen mögen. Solche Straßensänger pflegten ihr Publikum seinerzeit mit Volksballaden und Moritaten, mit Geschichten von Liebesglück und Liebesleid, Mord und Totschlag zu unterhalten und sich dabei auf einer schlichten Version der Harfe zu begleiten; deshalb heißt zum Beispiel auch der Straßensänger in Goethes „Wilhelm Meister“ „der Harfner“.

Ein kleines Harfenmädchen sang.

Sie sang mit wahrem Gefühle

Und falscher Stimme, doch ward ich sehr

Gerühret von ihrem Spiele.

Sie sang von Liebe und Liebesgram,

Aufopfrung und Wiederfinden

Dort oben, in jener besseren Welt,

Wo alle Leiden schwinden.

Sie sang vom irdischen Jammertal,

Von Freuden, die bald zerronnen,

Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt

Verklärt in ewgen Wonnen.

Sie sang das alte Entsagungslied,

Das Eiapopeia vom Himmel,

Womit man einlullt, wenn es greint,

Das Volk, den großen Lümmel.

Ich kenn die Weise, ich kenne den Text,

Ich kenn auch die Herren Verfasser; [<<96]

Ich weiß, sie tranken heimlich Wein

Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,

O Freunde, will ich euch dichten!

Wir wollen hier auf Erden schon

Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,

Und wollen nicht mehr darben;

Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,

Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug

Für alle Menschenkinder,

Auch Myrten und Rosen, Schönheit und Lust,

Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,

Sobald die Schoten platzen!

Den Himmel überlassen wir

Den Engeln und den Spatzen.

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,

So wollen wir Euch besuchen

Dort oben, und wir essen mit Euch

Die seligsten Torten und Kuchen.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,

Es klingt wie Flöten und Geigen!

Das Miserere ist vorbei,

Die Sterbeglocken schweigen. (HS 7, 577–578) [<<97]

12 Benno v. Wiese: Karl Immermann. Sein Werk und sein Leben. Bad Homburg 1969. – Peter Hasubek: Karl Leberecht Immermann. Ein Dichter zwischen Romantik und Realismus. Köln Weimar Wien 1996. – Markus Fauser: Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien. München 1999.

13 Siegfried Kohlhammer: Resignation und Revolte. Karl Immermanns Roman „Münchhausen“. Stuttgart 1973. – Günther J. Holst: Das Bild des Menschen in den Romanen Karl Immermanns. Meisenheim 1976. – Günter Oesterle: Arabeske und Zeitgeist. Karl Immermanns Roman „Münchhausen“. In: Martina Lauster (Hrsg.): Deutschland und der europäische Zeitgeist. Bielefeld 1994, S. 215–239.

14 Markus Schwering: Epochenwandel im spätromantischen Roman. Köln Wien 1985. – Waltraud Maierhofer: Wilhelm Meisters Wanderjahre und der Roman des Nebeneinander. Bielefeld 1990.

15 Heinrich Schauerte: Die Fabrik im Roman des Vormärz. Köln 1983.

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