Kitabı oku: «Hamburgische Dramaturgie», sayfa 29
Vierundachtzigstes Stueck Den 19. Februar 1768
Den einundfunfzigsten Abend (montags, den 27. Julius) ward "Der Hausvater" des Hrn. Diderot aufgefuehrt.
Da dieses vortreffliche Stueck, welches den Franzosen nur so so gefaellt, —wenigstens hat es mit Mueh' und Not kaum ein- oder zweimal auf dem Pariser Theater erscheinen duerfen—sich, allem Ansehen nach, lange, sehr lange, und warum nicht immer? auf unsern Buehnen erhalten wird; da es auch hier nicht oft genug wird koennen gespielt werden: so hoffe ich, Raum und Gelegenheit genug zu haben, alles auszukramen, was ich sowohl ueber das Stueck selbst, als ueber das ganze dramatische System des Verfassers, von Zeit zu Zeit angemerkt habe.
Ich hole recht weit aus. Nicht erst mit dem "Natuerlichen Sohne", in den beigefuegten Unterredungen, welche zusammen im Jahre 1757 herauskamen, hat Diderot sein Missvergnuegen mit dem Theater seiner Nation geaeussert. Bereits verschiedne Jahre vorher liess er es sich merken, dass er die hohen Begriffe gar nicht davon habe, mit welchen sich seine Landsleute taeuschen und Europa sich von ihnen taeuschen lassen. Aber er tat es in einem Buche, in welchem man freilich dergleichen Dinge nicht sucht; in einem Buche, in welchem der persiflierende Ton so herrschet, dass den meisten Lesern auch das, was guter gesunder Verstand darin ist, nichts als Posse und Hoehnerei zu sein scheinet. Ohne Zweifel hat Diderot seine Ursachen, warum er mit seiner Herzensmeinung lieber erst in einem solchen Buche hervorkommen wollte: ein kluger Mann sagt oefters erst mit Lachen, was er hernach im Ernste wiederholen will.
Dieses Buch heisst "Les bijoux indiscrets", und Diderot will es itzt durchaus nicht geschrieben haben. Daran tut Diderot auch sehr wohl; aber doch hat er es geschrieben und muss es geschrieben haben, wenn er nicht ein Plagiarius sein will. Auch ist es gewiss, dass nur ein solcher junger Mann dieses Buch schreiben konnte, der sich einmal schaemen wuerde, es geschrieben zu haben.
Es ist ebenso gut, wenn die wenigsten von meinen Lesern dieses Buch kennen. Ich will mich auch wohl hueten, es ihnen weiter bekannt zu machen, als es hier in meinen Kram dienet.—
Ein Kaiser—was weiss ich, wo und welcher?—hatte mit einem gewissen magischen Ringe gewisse Kleinode so viel haessliches Zeug schwatzen lassen, dass seine Favoritin durchaus nichts mehr davon hoeren wollte. Sie haette lieber gar mit ihrem ganzen Geschlechte darueber brechen moegen; wenigstens nahm sie sich auf die ersten vierzehn Tage vor, ihren Umgang einzig auf des Sultans Majestaet und ein paar witzige Koepfe einzuschraenken. Diese waren Selim und Riccaric: Selim, ein Hofmann; und Riccaric, ein Mitglied der kaiserlichen Akademie, ein Mann, der das Altertum studieret hatte und ein grosser Verehrer desselben war, doch ohne Pedant zu sein. Mit diesen unterhaelt sich die Favoritin einsmals, und das Gespraech faellt auf den elenden Ton der akademischen Reden, ueber den sich niemand mehr ereifert als der Sultan selbst, weil es ihn verdriesst, sich nur immer auf Unkosten seines Vaters und seiner Vorfahren darin loben zu hoeren, und er wohl voraussieht, dass die Akademie ebenso auch seinen Ruhm einmal dem Ruhme seiner Nachfolger aufopfern werde. Selim, als Hofmann, war dem Sultan in allem beigefallen: und so spinnt sich die Unterredung ueber das Theater an, die ich meinen Lesern hier ganz mitteile.
"Ich glaube, Sie irren sich, mein Herr", antwortete Riccaric dem Selim. "Die Akademie ist noch itzt das Heiligtum des guten Geschmacks, und ihre schoensten Tage haben weder Weltweise noch Dichter aufzuweisen, denen wir nicht andere aus unserer Zeit entgegensetzen koennten. Unser Theater ward fuer das erste Theater in ganz Afrika gehalten, und wird noch dafuer gehalten. Welch ein Werk ist nicht der 'Tamerlan' des Tuxigraphe! Es verbindet das Pathetische des Eurisope mit dem Erhabnen des Azophe. Es ist das klare Altertum!"
"Ich habe", sagte die Favoritin, "die erste Vorstellung des Tamerlans gesehen und gleichfalls den Faden des Stuecks sehr richtig gefuehret, den Dialog sehr zierlich und das Anstaendige sehr wohl beobachtet gefunden."
"Welcher Unterschied, Madame", unterbrach sie Riccaric, "zwischen einem Verfasser wie Tuxigraphe, der sich durch Lesung der Alten genaehret, und dem groessten Teile unsrer Neuern!"
"Aber diese Neuern", sagte Selim, "die Sie hier so wacker ueber die Klinge springen lassen, sind doch bei weitem so veraechtlich nicht, als Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine Charaktere, keine Schilderungen, keine Tiraden bei ihnen? Was bekuemmere ich mich um Regeln, wenn man mir nur Vergnuegen macht? Es sind wahrlich nicht die Bemerkungen des weisen Almudir und des Gelehrten Abdaldok, noch die Dichtkunst des scharfsinnigen Facardin, die ich alle nicht gelesen habe, welche es machen, dass ich die Stuecke des Aboulcazem, des Muhardar, des Albaboukre und so vieler andren Sarazenen bewundre! Gibt es denn auch eine andere Regel, als die Nachahmung der Natur? Und haben wir nicht eben die Augen, mit welchen diese sie studierten?"
"Die Natur", antwortete Riccaric, "zeiget sich uns alle Augenblicke in verschiednen Gestalten. Alle sind wahr, aber nicht alle sind gleich schoen. Eine gute Wahl darunter zu treffen, das muessen wir aus den Werken lernen, von welchen Sie eben nicht viel zu halten scheinen. Es sind die gesammelten Erfahrungen, welche ihre Verfasser und deren Vorgaenger gemacht haben. Man mag ein noch so vortrefflicher Kopf sein, so erlangt man doch nur seine Einsichten eine nach der andern; und ein einzelner Mensch schmeichelt sich vergebens, in dem kurzen Raume seines Lebens alles selbst zu bemerken, was in so vielen Jahrhunderten vor ihm entdeckt worden. Sonst liesse sich behaupten, dass eine Wissenschaft ihren Ursprung, ihren Fortgang und ihre Vollkommenheit einem einzigen Geiste zu verdanken haben koenne; welches doch wider alle Erfahrung ist."
"Hieraus, mein Herr", antwortete ihm Selim, "folget weiter nichts, als dass die Neuern, welche sich alle die Schaetze zunutze machen koennen, die bis auf ihre Zeit gesammelt worden, reicher sein muessen, als die Alten: oder, wenn Ihnen diese Vergleichung nicht gefaellt, dass sie auf den Schultern dieser Kolossen, auf die sie gestiegen, notwendig muessen weiter sehen koennen, als diese selbst. Was ist auch in der Tat ihre Naturlehre, ihre Astronomie, ihre Schiffskunst, ihre Mechanik, ihre Rechenlehre in Vergleichung mit unsern? Warum sollten wir ihnen also in der Beredsamkeit und Poesie nicht ebensowohl ueberlegen sein?"
"Selim", versetzte die Sultane, "der Unterschied ist gross, und Riccaric kann Ihnen die Ursachen davon ein andermal erklaeren. Er mag Ihnen sagen, warum unsere Tragoedien schlechter sind, als der Alten ihre; aber dass sie es sind, kann ich leicht selbst auf mich nehmen, Ihnen zu beweisen. Ich will Ihnen nicht schuld geben", fuhr sie fort, "dass Sie die Alten nicht gelesen haben. Sie haben sich um zu viele schoene Kenntnisse beworben, als dass Ihnen das Theater der Alten unbekannt sein sollte. Nun setzen Sie gewisse Ideen, die sich auf ihre Gebraeuche, auf ihre Sitten, auf ihre Religion beziehen, und die Ihnen nur deswegen anstoessig sind, weil sich die Umstaende geaendert haben, beiseite und sagen Sie mir, ob ihr Stoff nicht immer edel, wohlgewaehlt und interessant ist? ob sich die Handlung nicht gleichsam von selbst einleitet? ob der simple Dialog dem Natuerlichen nicht sehr nahe koemmt? ob die Entwicklungen im geringsten gezwungen sind? ob sich das Interesse wohl teilt und die Handlung mit Episoden ueberladen ist? Versetzen Sie sich in Gedanken in die Insel Alindala; untersuchen Sie alles, was da vorging, hoeren Sie alles, was von dem Augenblicke an, als der junge Ibrahim und der verschlagne Forfanti ans Land stiegen, da gesagt ward; naehern Sie sich der Hoehle des ungluecklichen Polipsile; verlieren Sie kein Wort von seinen Klagen, und sagen Sie mir, ob das Geringste vorkoemmt, was Sie in der Taeuschung stoeren koennte? Nennen Sie mir ein einziges neueres Stueck, welches die naemliche Pruefung aushalten, welches auf den naemlichen Grad der Vollkommenheit Anspruch machen kann: und Sie sollen gewonnen haben."
"Beim Brahma!" rief der Sultan und gaehnte; "Madame hat uns da eine vortreffliche akademische Vorlesung gehalten!"
"Ich verstehe die Regeln nicht", fuhr die Favoritin fort, "und noch weniger die gelehrten Worte, in welchen man sie abgefasst hat. Aber ich weiss, dass nur das Wahre gefaellt und ruehret. Ich weiss auch, dass die Vollkommenheit eines Schauspiels in der so genauen Nachahmung einer Handlung bestehet, dass der ohne Unterbrechung betrogne Zuschauer bei der Handlung selbst gegenwaertig zu sein glaubt. Findet sich aber in den Tragoedien, die Sie uns so ruehmen, nur das geringste, was diesem aehnlich saehe?"
Fuenfundachtzigstes Stueck Den 23. Februar 1768
"Wollen Sie den Verlauf darin loben? Er ist meistens so vielfach und verwickelt, dass es ein Wunder sein wuerde, wenn wirklich so viel Dinge in so kurzer Zeit geschehen waeren. Der Untergang oder die Erhaltung eines Reichs, die Heirat einer Prinzessin, der Fall eines Prinzen, alles das geschieht so geschwind, wie man eine Hand umwendet. Koemmt es auf eine Verschwoerung an? Im ersten Akte wird sie entworfen; im zweiten ist sie beisammen; im dritten werden alle Massregeln genommen, alle Hindernisse gehoben, und die Verschwornen halten sich fertig; mit naechstem wird es einen Aufstand setzen, wird es zum Treffen kommen, wohl gar zu einer foermlichen Schlacht. Und das alles nennen Sie gut gefuehrt, interessant, warm, wahrscheinlich? Ihnen kann ich nun so etwas am wenigsten vergeben, der Sie wissen, wieviel es oft kostet, die allerelendeste Intrige zustande zu bringen, und wieviel Zeit bei der kleinsten politischen Angelegenheit auf Einleitungen, auf Besprechungen und Beratschlagungen geht."
"Es ist wahr, Madame", antwortete Selim, "unsere Stuecke sind ein wenig ueberladen; aber das ist ein notwendiges Uebel; ohne Hilfe der Episoden wuerden wir uns vor Frost nicht zu lassen wissen."
"Das ist. Um der Nachahmung einer Handlung Feuer und Geist zu geben, muss man die Handlung weder so vorstellen, wie sie ist, noch so, wie sie sein sollte. Kann etwas Laecherlicheres gedacht werden? Schwerlich wohl; es waere denn etwa dieses, dass man die Geigen ein lebhaftes Stueck, eine muntere Sonate spielen laesst, waehrend dass die Zuhoerer um den Prinzen bekuemmert sein sollen, der auf dem Punkte ist, seine Geliebte, seinen Thron und sein Leben zu verlieren.
"Madame", sagte Mongogul, "Sie haben vollkommen recht; traurige Arien muesste man indes spielen, und ich will Ihnen gleich einige bestellen gehen." Hiermit stand er auf und ging heraus, und Selim, Riccaric und die Favoritin setzten die Unterredung unter sich fort.
"Wenigstens, Madame", erwiderte Selim, "werden Sie nicht leugnen, dass, wenn die Episoden uns aus der Taeuschung herausbringen, der Dialog uns wieder hereinsetzt. Ich wuesste nicht, wer das besser verstuende, als unsere tragische Dichter."
"Nun so versteht es durchaus niemand", antwortete Mirzoza. "Das Gesuchte, das Witzige, das Spielende, das darin herrscht, ist tausend und tausend Meilen von der Natur entfernt. Umsonst sucht sich der Verfasser zu verstecken; er entgeht meinen Augen nicht, und ich erblicke ihn unaufhoerlich hinter seinen Personen. Cinna, Sertorius, Maximus, Aemilia sind alle Augenblicke das Sprachrohr des Corneille. So spricht man bei unsern alten Sarazenen nicht miteinander. Herr Riccaric kann Ihnen, wenn Sie wollen, einige Stellen daraus uebersetzen; und Sie werden die blosse Natur hoeren, die sich durch den Mund derselben ausdrueckt. Ich moechte gar zu gern zu den Neuern sagen: 'Meine Herren, anstatt dass ihr euern Personen bei aller Gelegenheit Witz gebt, so sucht sie doch lieber in Umstaende zu setzen, die ihnen welchen geben.'"
"Nach dem zu urteilen, was Madame von dem Verlaufe und dem Dialoge unserer dramatischen Stuecke gesagt hat, scheint es wohl nicht", sagte Selim, "dass Sie den Entwicklungen wird Gnade widerfahren lassen."
"Nein, gewiss nicht", versetzte die Favoritin, "es gibt hundert schlechte fuer eine gute. Die eine ist nicht vorbereitet; die andere ereignet sich durch ein Wunder. Weiss der Verfasser nicht, was er mit einer Person, die er von Szene zu Szene ganze fuenf Akte durchgeschleppt hat, anfangen soll: geschwind fertiget er sie mit einem guten Dolchstosse ab; die ganze Welt faengt an zu weinen, und ich, ich lache, als ob ich toll waere. Hernach, hat man wohl jemals so gesprochen, wie wir deklamieren? Pflegen die Prinzen und Koenige wohl anders zu gehen, als sonst ein Mensch, der gut geht? Gestikulieren sie wohl jemals wie Besessene und Rasende? Und wenn Prinzessinnen sprechen, sprechen sie wohl in so einem heulenden Tone? Man nimmt durchgaengig an, dass wir die Tragoedie zu einem hohen Grade der Vollkommenheit gebracht haben; und ich, meinesteils, halte es fast fuer erwiesen, dass von allen Gattungen der Literatur, auf die sich die Afrikaner in den letzten Jahrhunderten gelegt haben, gerade diese die unvollkommenste geblieben ist."
Eben hier war die Favoritin mit ihrem Ausfalle gegen unsere theatralische Werke, als Mongogul wieder hereinkam. "Madame", sagte er, "Sie werden mir einen Gefallen erweisen, wenn Sie fortfahren. Sie sehen, ich verstehe mich darauf, eine Dichtkunst abzukuerzen, wenn ich sie zu lang finde."
"Lassen Sie uns", fuhr die Favoritin fort, "einmal annehmen, es kaeme einer ganz frisch aus Angote, der in seinem Leben von keinem Schauspiele etwas gehoert haette; dem es aber weder an Verstande noch an Welt fehle; der ungefaehr wisse, was an einem Hofe vorgehe; der mit den Anschlaegen der Hoeflinge, mit der Eifersucht der Minister, mit den Hetzereien der Weiber nicht ganz unbekannt waere, und zu dem ich im Vertrauen sagte: 'Mein Freund, es aeussern sich in dem Seraglio schreckliche Bewegungen. Der Fuerst, der mit seinem Sohne missvergnuegt ist, weil er ihn im Verdacht hat, dass er die Manimonbande liebt, ist ein Mann, den ich fuer faehig halte, an beiden die grausamste Rache zu ueben. Diese Sache muss, allem Ansehen nach, sehr traurige Folgen haben. Wenn Sie wollen, so will ich machen, dass Sie von allem, was vorgeht, Zeuge sein koennen.' Er nimmt mein Anerbieten an, und ich fuehre ihn in eine mit Gitterwerk vermachte Loge, aus der er das Theater sieht, welches er fuer den Palast des Sultans haelt. Glauben Sie wohl, dass trotz alles Ernstes, in dem ich mich zu erhalten bemuehte, die Taeuschung dieses Fremden einen Augenblick dauern koennte? Muessen Sie nicht vielmehr gestehen, dass er, bei dem steifen Gange der Akteurs, bei ihrer wunderlichen Tracht, bei ihren ausschweifenden Gebaerden, bei dem seltsamen Nachdrucke ihrer gereimten, abgemessenen Sprache, bei tausend andern Ungereimtheiten, die ihm auffallen wuerden, gleich in der ersten Szene mir ins Gesicht lachen und gerade heraus sagen wuerde, dass ich ihn entweder zum Besten haben wollte, oder dass der Fuerst mitsamt seinem Hofe nicht wohl bei Sinnen sein muessten."
"Ich bekenne", sagte Selim, "dass mich dieser angenommene Fall verlegen macht; aber koennte man Ihnen nicht zu bedenken geben, dass wir in das Schauspiel gehen, mit der Ueberzeugung, der Nachahmung einer Handlung, nicht aber der Handlung selbst beizuwohnen."
"Und sollte denn diese Ueberzeugung verwehren", erwiderte Mirzoza, "die Handlung auf die allernatuerlichste Art vorzustellen?"—
Hier koemmt das Gespraech nach und nach auf andere Dinge, die uns nichts angehen. Wir wenden uns also wieder, zu sehen, was wir gelesen haben. Den klaren Lautern Diderot! Aber alle diese Wahrheiten waren damals in den Wind gesagt. Sie erregten eher keine Empfindung in dem franzoesischen Publico, als bis sie mit allem didaktischen Ernste wiederholt und mit Proben begleitet wurden, in welchen sich der Verfasser von einigen der geruegten Maengel zu entfernen und den Weg der Natur und Taeuschung besser einzuschlagen bemueht hatte. Nun weckte der Neid die Kritik. Nun war es klar, warum Diderot das Theater seiner Nation auf dem Gipfel der Vollkommenheit nicht sahe, auf dem wir es durchaus glauben sollen; warum er so viel Fehler in den gepriesenen Meisterstuecken desselben fand: bloss und allein, um seinen Stuecken Platz zu schaffen. Er musste die Methode seiner Vorgaenger verschrien haben, weil er empfand, dass in Befolgung der naemlichen Methode, er unendlich unter ihnen bleiben wuerde. Er musste ein elender Charlatan sein, der allen fremden Theriak verachtet, damit kein Mensch andern als seinen kaufe. Und so fielen die Palissots ueber seine Stuecke her.
Allerdings hatte er ihnen auch, in seinem "Natuerlichen Sohne", manche Bloesse gegeben. Dieser erste Versuch ist bei weiten das nicht, was der "Hausvater" ist. Zu viel Einfoermigkeit in den Charakteren, das Romantische in diesen Charakteren selbst, ein steifer kostbarer Dialog, ein pedantisches Geklingle von neumodisch philosophischen Sentenzen: alles das machte den Tadlern leichtes Spiel. Besonders zog die feierliche Theresia (oder Constantia, wie sie in dem Originale heisst), die so philosophisch selbst auf die Freierei geht, die mit einem Manne, der sie nicht mag, so weise von tugendhaften Kindern spricht, die sie mit ihm zu erzielen gedenkt, die Lacher auf ihre Seite. Auch kann man nicht leugnen, dass die Einkleidung, welche Diderot den beigefuegten Unterredungen gab, dass der Ton, den er darin annahm, ein wenig eitel und pompoes war; dass verschiedene Anmerkungen als ganz neue Entdeckungen darin vorgetragen wurden, die doch nicht neu und dem Verfasser nicht eigen waren; dass andere Anmerkungen die Gruendlichkeit nicht hatten, die sie in dem blendenden Vortrage zu haben schienen.
Sechsundachtzigstes Stueck Den 26. Februar 1768
z.E. Diderot behauptete,131 dass es in der menschlichen Natur aufs hoechste nur ein Dutzend wirklich komische Charaktere gaebe, die grosser Zuege faehig waeren; und dass die kleinen Verschiedenheiten unter den menschlichen Charakteren nicht so gluecklich bearbeitet werden koennten, als die reinen unvermischten Charaktere. Er schlug daher vor, nicht mehr die Charaktere, sondern die Staende auf die Buehne zu bringen; und wollte die Bearbeitung dieser zu dem besondern Geschaefte der ernsthaften Komoedie machen. "Bisher", sagt er, "ist in der Komoedie der Charakter das Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas Zufaelliges: nun aber muss der Stand das Hauptwerk, und der Charakter das Zufaellige werden. Aus dem Charakter zog man die ganze Intrige: man suchte durchgaengig die Umstaende, in welchen er sich am besten aeussert, und verband diese Umstaende untereinander. Kuenftig muss der Stand, muessen die Pflichten, die Vorteile, die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage des Werks dienen. Diese Quelle scheint mir weit ergiebiger, von weit groesserm Umfange, von weit groesserm Nutzen, als die Quelle der Charaktere. War der Charakter nur ein wenig uebertrieben, so konnte der Zuschauer zu sich selbst sagen: das bin ich nicht. Das aber kann er unmoeglich leugnen, dass der Stand, den man spielt, sein Stand ist; seine Pflichten kann er unmoeglich verkennen. Er muss das, was er hoert, notwendig auf sich anwenden."
Was Palissot hierwider erinnert,132 ist nicht ohne Grund. Er leugnet es, dass die Natur so arm an urspruenglichen Charakteren sei, dass sie die komischen Dichter bereits sollten erschoepft haben. Moliere sahe noch genug neue Charaktere vor sich und glaubte kaum den allerkleinsten Teil von denen behandelt zu haben, die er behandeln koenne. Die Stelle, in welcher er verschiedne derselben in der Geschwindigkeit entwirft, ist so merkwuerdig als lehrreich, indem sie vermuten laesst, dass der Misanthrop schwerlich sein Non plus ultra in dem hohen Komischen duerfte geblieben sein, wann er laenger gelebt haette.133 Palissot selbst ist nicht ungluecklich, einige neue Charaktere von seiner eignen Bemerkung beizufuegen: den dummen Maezen mit seinen kriechenden Klienten; den Mann an seiner unrechten Stelle; den Arglistigen, dessen ausgekuenstelte Anschlaege immer gegen die Einfalt eines treuherzigen Biedermanns scheitern; den Scheinphilosophen; den Sonderling, den Destouches verfehlt habe; den Heuchler mit gesellschaftlichen Tugenden, da der Religionsheuchler ziemlich aus der Mode sei.—Das sind wahrlich nicht gemeine Aussichten, die sich einem Auge, das gut in die Ferne traegt, bis ins Unendliche erweitern. Das ist noch Ernte genug fuer die wenigen Schnitter, die sich daran wagen duerfen!
Und wenn auch, sagt Palissot, der komischen Charaktere wirklich so wenige, und diese wenigen wirklich alle schon bearbeitet waeren: wuerden die Staende denn dieser Verlegenheit abhelfen? Man waehle einmal einen; z. E. den Stand des Richters. Werde ich ihm denn, dem Richter, nicht einen Charakter geben muessen? Wird er nicht traurig oder lustig, ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stuermisch sein muessen? Wird es nicht bloss dieser Charakter sein, der ihn aus der Klasse metaphysischer Abstrakte heraushebt und eine wirkliche Person aus ihm macht? Wird nicht folglich die Grundlage der Intrige und die Moral des Stuecks wiederum auf dem Charakter beruhen? Wird nicht folglich wiederum der Stand nur das Zufaellige sein?
Zwar koennte Diderot hierauf antworten: Freilich muss die Person, welche ich mit dem Stande bekleide, auch ihren individuellen moralischen Charakter haben; aber ich will, dass es ein solcher sein soll, der mit den Pflichten und Verhaeltnissen des Standes nicht streitet, sondern aufs beste harmonieret. Also, wenn diese Person ein Richter ist, so steht es mir nicht frei, ob ich ihn ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stuermisch machen will: er muss notwendig ernsthaft und leutselig sein, und jedesmal es in dem Grade sein, den das vorhabende Geschaefte erfodert.
Dieses, sage ich, koennte Diderot antworten: aber zugleich haette er sich einer andern Klippe genaehert; naemlich der Klippe der vollkommnen Charaktere. Die Personen seiner Staende wuerden nie etwas anders tun, als was sie nach Pflicht und Gewissen tun muessten; sie wuerden handeln, voellig wie es im Buche steht. Erwarten wir das in der Komoedie? Koennen dergleichen Vorstellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den wir davon hoffen duerfen, gross genug sein, dass es sich der Muehe verlohnt, eine neue Gattung dafuer festzusetzen und fuer diese eine eigene Dichtkunst zu schreiben?
Die Klippe der vollkommenen Charaktere scheinet mir Diderot ueberhaupt nicht genug erkundiget zu haben. In seinen Stuecken steuert er ziemlich gerade darauf los: und in seinen kritischen Seekarten findet sich durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden sich Dinge darin, die den Lauf nach ihr hin zu lenken raten. Man erinnere sich nur, was er, bei Gelegenheit des Kontrasts unter den Charakteren, von den "Bruedern" des Terenz sagt.134 "Die zwei kontrastierten Vaeter darin sind mit so gleicher Staerke gezeichnet, dass man dem feinsten Kunstrichter Trotz bieten kann, die Hauptperson zu nennen; ob es Micio oder ob es Demea sein soll? Faellt er sein Urteil vor dem letzten Auftritte, so duerfte er leicht mit Erstaunen wahrnehmen, dass der, den er ganzer fuenf Aufzuege hindurch fuer einen verstaendigen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr ist, und dass der, den er fuer einen Narren gehalten hat, wohl gar der verstaendige Mann sein koennte. Man sollte zu Anfange des fuenften Aufzuges dieses Drama fast sagen, der Verfasser sei durch den beschwerlichen Kontrast gezwungen worden, seinen Zweck fahren zu lassen und das ganze Interesse des Stuecks umzukehren. Was ist aber daraus geworden? Dieses, dass man gar nicht mehr weiss, fuer wen man sich interessieren soll. Vom Anfange her ist man fuer den Micio gegen den Demea gewesen, und am Ende ist man fuer keinen von beiden. Beinahe sollte man einen dritten Vater verlangen, der das Mittel zwischen diesen zwei Personen hielte und zeigte, worin sie beide fehlten."
Nicht ich! Ich verbitte mir ihn sehr, diesen dritten Vater; es sei in dem naemlichen Stuecke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wissen, wie ein Vater sein soll? Auf dem rechten Wege duenken wir uns alle: wir verlangen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet zu werden.
Diderot hat recht: es ist besser, wenn die Charaktere bloss verschieden, als wenn sie kontrastiert sind. Kontrastierte Charaktere sind minder natuerlich und vermehren den romantischen Anstrich, an dem es den dramatischen Begebenheiten so schon selten fehlt. Fuer eine Gesellschaft im gemeinen Leben, wo sich der Kontrast der Charaktere so abstechend zeigt, als ihn der komische Dichter verlangt, werden sich immer tausend finden, wo sie weiter nichts als verschieden sind. Sehr richtig! Aber ist ein Charakter, der sich immer genau in dem graden Gleise haelt, das ihm Vernunft und Tugend vorschreiben, nicht eine noch seltenere Erscheinung? Von zwanzig Gesellschaften im gemeinen Leben werden eher zehn sein, in welchen man Vaeter findet, die bei Erziehung ihrer Kinder voellig entgegengesetzte Wege einschlagen, als eine, die den wahren Vater aufweisen koennte. Und dieser wahre Vater ist noch dazu immer der naemliche, ist nur ein einziger, da der Abweichungen von ihm unendlich sind. Folglich werden die Stuecke, die den wahren Vater ins Spiel bringen, nicht allein jedes vor sich unnatuerlicher, sondern auch untereinander einfoermiger sein, als es die sein koennen, welche Vaeter von verschiednen Grundsaetzen einfuehren. Auch ist es gewiss, dass die Charaktere, welche in ruhigen Gesellschaften bloss verschieden scheinen, sich von selbst kontrastieren, sobald ein streitendes Interesse sie in Bewegung setzt. Ja es ist natuerlich, dass sie sich sodann beeifern, noch weiter voneinander entfernt zu scheinen, als sie wirklich sind. Der Lebhafte wird Feuer und Flamme gegen den, der ihm zu lau sich zu betragen scheinet: und der Laue wird kalt wie Eis, um jenem soviel Uebereilungen begehen zu lassen, als ihm nur immer nuetzlich sein koennen.