Kitabı oku: «Krähen über Niflungenland», sayfa 5
6.
Zahnschmerzen! Oda stöhnte auf und grub die Fingernägel in ihre Handballen. Seit vier Nächten ging das schon so! Sie hatte es bereits mit Räucherungen und Schafgarbentee versucht, und Irmgard, die sich in derlei Dingen auskannte, hatte ihr Möglichstes getan, den Wurm, der an ihrem Zahn nagte, zu beschwören, aber nichts half. Schicksalergeben setzte Oda ihre unterbrochene Zahnpflege fort, verzichtete allerdings darauf, den Mund noch einmal mit kaltem Wasser zu spülen, sondern griff gleich zu den Salbeiblättchen. Sorgsam rieb sie ihre Zähne damit ab und verzog das Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse, als sie versehentlich den befallenen Zahn berührte. Sinnloser Zorn überflutete sie.
»Quält dich der Wurm immer noch?«, erkundigte sich Grimhild, die eben zur Tür hereinkam, mitfühlend.
»Es ist kaum auszuhalten.« Oda hatte genug und warf die Salbeiblättchen auf einen Tisch. »Hast du deine Vorbereitungen für das Mittsommerfest getroffen?«
»Dazu habe ich später noch Zeit.«
»Du überraschst mich. Die letzten Jahre konntest du es kaum erwarten und hast uns schon Wochen vorher verrückt gemacht. Du warst eine richtige Landplage.«
Grimhild schnaubte verächtlich. Das war Ewigkeiten her. Damals war sie noch ein Kind gewesen. Jetzt war sie eine Frau und sah die Welt mit anderen Augen. Gedankenverloren leckte sie sich über die Lippen. Wie brachte sie am besten zur Sprache, was ihr auf dem Herzen lag? Bei ihrer Mutter musste sie anders zu Werke gehen als bei Gislher, sich ihrer Unterstützung zu versichern, erforderte Fingerspitzengefühl. »Ich muss mit dir sprechen, Mutter.«
Oda seufzte. Blieb ihr denn heute gar nichts erspart? Sie wollte sich einfach nur ins Bett legen, an nichts denken und leiden. Aber als Herrin über die Frauenangelegenheiten der Burg hatte sie ebenso Pflichten wie als Mutter. »Es geht um frō Sigfrid?«
Grimhild versuchte erst gar keine Ausflüchte. »Ich glaube, er wird bei Gunter um mich freien«, sagte sie und merkte zu ihrer Verärgerung, wie sie rot wurde.
»So, du glaubst«, spöttelte Oda. Sie kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass diese Mittel und Wege fand, sich zu vergewissern, wenn ihr etwas am Herzen lag.
Grimhild ignorierte den Unterton; auf der Ebene kam sie gegen ihre Mutter nicht an. »Würdest du …« Sie verstummte, schluckte und setzte erneut an: »Würdest du Gunter zureden, Sigfrids Werbung anzunehmen?« Es gelang ihr nicht, ihre Mutter dabei anzusehen. Zuviel bedeutete ihr die Antwort auf diese Frage, und sie wollte nicht, dass jemand so tief auf den Grund ihres Herzens blicken konnte.
Oda setzte sich zu Grimhild auf die Bank und sah abwesend in die Ferne. Es gab manches zu überdenken. Und nicht das Geringste war die Tatsache, dass ihrer Tochter viel daran gelegen sein musste, wenn sie sich so weit vorwagte. Nachdenklich fuhr Oda mit der Zunge über den kranken Zahn, der sie mit seinem Pochen immer wieder ablenkte.
Grimhild wagte nicht, die Überlegungen ihrer Mutter zu stören, so ungeduldig sie auch auf eine Antwort wartete. Es behagte ihr nicht, wenn sich die Dinge außerhalb ihrer Kontrolle befanden. Sie hatte es lieber, wenn sie den Gedanken der Menschen einen sanften Stoß in die richtige Richtung geben konnte. Ohnmacht war etwas Entsetzliches.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist, dass Sigfrid um dich freit.« Oda sprach mehr zu sich selbst als zu ihrer Tochter. »Natürlich, er ist ein großer Krieger und der Erbe von Tarlungenland, als Verbündeter in der Not wäre er von unschätzbarem Wert. Andererseits ist er leichtsinnig und unbesonnen, er denkt nicht klug wie dein Bruder. Sein heißes Blut könnte ihn in einen sinnlosen Krieg stürzen, und dann wären wir gezwungen, ihm beizustehen.«
»Mutter«, sagte Grimhild ungeduldig, »es geht nicht um Politik, sondern um mein Leben!«
»Du weißt sehr gut, dass das ein und dasselbe ist, meine vorwitzige Tochter.« Oda seufzte. »Um ehrlich zu sein, ich bin nicht einmal sicher, ob ich um deinetwillen mit ihm versippt sein möchte.« Sie hob beschwichtigend die Hände, ehe Grimhild protestieren konnte. »Ich weiß, ich weiß! Er sieht gut aus, er ist tapfer, er ist ehrlich – ich kenne seine Vorzüge.«
Und er ist zärtlich, fügte Grimhild in Gedanken hinzu, aber das wagte sie nicht laut zu sagen.
Vielleicht konnte ihre Mutter hinter ihrer Stirn lesen, denn sie fügte hinzu: »Und er wird dir vermutlich ein guter Liebhaber sein.« Oda lachte, als sie den schockierten Gesichtsausdruck ihrer Tochter sah. »Ist es mir einmal gelungen, dich sprachlos zu machen? Ich verstehe sehr gut, was dir an ihm gefällt. Wäre ich zwanzig Jahre jünger, würde ich ihm auch schöne Augen machen. Aber Liebe ist nicht zwangsläufig die ideale Ausgangsbasis für ein Ehebündnis. Manchmal ist es vorteilhafter, wenn einem keine Gefühle im Weg stehen.« Sie sah ihre Tochter an und seufzte erneut. »Ich nehme an, jedes meiner Worte ist verschwendet. Ich kann es dir nicht einmal übel nehmen. Mit deinem Vater ging es mir schließlich nicht anders.«
Die verzweifelte Hoffnung in den Augen ihrer Tochter erschreckte Oda. Grimhild war plötzlich so verletzbar. Aber vielleicht hatte sie ja recht. Vielleicht war ein Mann, den sie anbetete, der Richtige, um ihr Temperament in geordnete Bahnen zu lenken. »Also schön, ich gebe zu, ich habe nichts weiter vorzuweisen als ein unbehagliches Gefühl, und ich will deinem Glück nicht im Wege stehen. Ich werde mit Gunter reden.«
Grimhild flog ihrer Mutter um den Hals. »Danke, tausendmal danke! Du wirst sehen, deine Sorgen sind grundlos. Wir werden das glücklichste Paar sein so weit die Sonne scheint und das Korn auf den Feldern reift.«
Und eben das könnte euer Verhängnis sein, dachte Oda.
7.
Als sie den Hügel erklommen hatte, war Grimhild außer Atem. Ihrer Mutter dagegen war die Anstrengung kein bisschen anzumerken. Seltsam, wie die Aussicht auf das Fest sie verjüngte!
Bald schon würde die Sonne am Horizont versinken, dann begannen die Feierlichkeiten. Scheite und Zweige waren zu gewaltigen Haufen aufgeschichtet worden, und immer noch kamen Männer und Frauen und gaben ihren Teil zum Feuerholz dazu. Ansgar half bei den Vorbereitungen. »He-ho, setz dich zu mir, frouwa!«, rief er, als er Grimhild bemerkte, und grinste über das ganze Gesicht. Sie lächelte. Selbst erwachsene Männer wurden zu Mittsommer wieder zu Kindern.
Die Bevölkerung von Tolbiacum schien zusammengekommen, jedenfalls, soweit sie nicht christlich war. Selbst von denen, die Christus für mächtiger als Wodan hielten und sich im Namen des gekreuzigten Gottes hatten taufen lassen, ließen es sich viele nicht nehmen, bei diesem Fest dabei zu sein, so sehr die Priester auch dagegen wetterten. Mittsommer war ein Höhepunkt des Jahres, und es konnte nicht schaden, die Sonne im Zenit ihres Laufs zu stärken.
Mit Bedauern stellte Grimhild fest, dass die Aufregung des Sonnenwendfestes sie nicht wie früher fesselte. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie der Feier ebenso entgegengefiebert wie alle. Jetzt überlagerte eine Aufregung anderer Art ihre Gefühle. Wenn Sigfrid nur endlich kommen würde!
Nach wie vor strömten Menschen den Hügel hinauf. Auch einige Nachbarn waren gekommen, um das Fest gemeinsam mit den Niflungen zu begehen. Grimhild erkannte Rodinger von Bakalar, einen Gefolgsmann König Attalas, mit seiner Sippe und eilte zu ihnen, um sie zu begrüßen.
Rodinger war ein unscheinbarer Mann, der in der Menge breitschultriger Krieger leicht unterging, doch wenn man ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, konnte man eine innere Stärke spüren. Und sobald man seine sanfte Stimme hörte, um die ihn mancher Skop beneidete, musste man vollends für ihn eingenommen sein.
»Frouwa Grimhild! Euer Lächeln ist eine weitaus größere Unterstützung für die Sonne als jedes Sonnenwendfeuer.«
Und wortgewandt war er, erinnerte sich Grimhild. »Ich grüße Euch, frō Rodinger!«
»Ihr seid eine Frau geworden, seit ich Euch zuletzt sah«, stellte er fest.
In gespielter Schamhaftigkeit senkte sie die Lider.
Etwas abseits stand Oda mit Rodingers Gemahlin Gudelinde, einer gutmütigen Frau, die zu Fülligkeit neigte, und deren achtjähriger Tochter Dietlind, die über und über mit Sommersprossen bedeckt war. Sie hatte den Hang ihrer Mutter zu Rundlichkeit geerbt, war aber nichtsdestoweniger ein hübsches Mädchen. Über die Entfernung hinweg warfen Gudelinde und ihr Mann sich manch vertrauten Blick zu, ein stummer Ausdruck von Zuneigung, der Grimhild ans Herz ging. Sie und Sigfrid würden sich auch immer so ansehen, da war sie sicher.
Ihre Brüder kamen mit Hagen den Hügel hinauf. Grimhild reckte den Kopf. Zu ihrer Enttäuschung war Sigfrid nicht bei ihnen. Ob Gislher schon mit Gunter gesprochen hatte?
Gislher plapperte in einem fort. An diesem Morgen hatte er seine Waffenübungen mit Sigfrid abgehalten. Seit der Sachse ihn vor Wodans Wut gerettet hatte, vergötterte er ihn geradezu und kam gar nicht auf den Gedanken, dass sein Verhalten Hagen kränken könnte. Im Gegenteil, stolz berichtete er ihm von den Fortschritten, die er machte. Und Hagen, der war, der er war, behielt seine unergründliche Miene und schwieg.
»Ich wünschte, ich hätte auch so ein Schwert wie Sigfrid«, sagte Gislher. »Mit einem solchen Schwert wäre ich unbesiegbar.«
»Mut ist entscheidender als ein gutes Schwert«, widersprach Hagen. »Manch kühnen Mann sah ich den Kampf gewinnen mit stumpfer Klinge, während Feiglinge trotz eines guten Schwertes unterlagen.«
»Am besten ist es, beides zu besitzen, ein gutes Schwert und Tapferkeit. Wie Sigfrid. Volker kann mehr Heldentaten von ihm besingen, als man zu zählen vermag.«
»Es ist keine Kunst, tapfer zu sein, wenn man unverwundbar ist.«
In diesem Moment kam der pluostrari, der Priester, der die Opfer darbrachte, mit einer Fackel den Hügel herauf. Am Nachmittag war in Tolbiacum das Herdfeuer gelöscht worden. Die Bewohner des Ortes hatten sich versammelt und gemeinschaftlich mithilfe gegeneinander geriebener Holzstäbe eine neue Flamme ins Leben gerufen und dadurch Segen in Ställe und Häuser gebracht. Jetzt trug der Priester das frische Feuer den Hügel herauf und stimmte einen Gesang an. Nach und nach fielen die Umstehenden ein. Es war ein ausgelassener Gesang, eine Hymne an die Sonne, die eben im Begriff stand unterzugehen.
Ein Ochse wurde gebracht. Vier Männer hielten das sich sträubende Tier fest. Der Priester hängte ihm, immer noch singend, einen Kranz aus Wolfsblumen um den Hals, die wegen ihrer sonnenähnlichen Gestalt ausgewählt wurden. Im letzten Licht des Tages reichte er Gunter die Fackel, zog einen heiligen Dolch und steigerte seinen Gesang zu einem ekstatischen Höhepunkt. Der Ochse wurde unruhig, er spürte die Gefahr. Abrupt brach der Gesang ab. Mit einer fachgerechten Bewegung schnitt der pluostrari dem Opfertier die Kehle durch. Der Ochse wehrte sich und versuchte zu brüllen, doch der Tod war schneller. Blut tränkte den Boden. Feierlich nahm der Priester die Fackel aus Gunters Händen und entzündete die errichteten Scheiterhaufen. Einige Männer waren schon dabei, den toten Ochsen zu zerteilen, um das Fleisch im Feuer zu rösten.
Ansgar feixte, als Volker sich neben ihn setzte. »Hast du den Priester gehört? Das war doch wenigstens mal ein Gesang! Davon könnte sich mancher Sänger eine Scheibe abschneiden.«
»Ein guter Sänger ist er wohl. Aber hast du gesehen? Er schneidet seinen sachverständigsten Zuhörern die Kehle durch.«
Oda hatte sich derweil zu Gunter begeben. »Es tut mir leid, wenn ich dich am heutigen Abend mit Reichsangelegenheiten behellige, aber ich wollte mit dir über etwas reden.«
Der Niflunge nickte. Ein König war immer ein König. Für ihn gab es keinen Augenblick, in dem er nur er selbst sein konnte. Im Übrigen hatte er festgestellt, dass die Ratschläge seiner Mutter oft von Wert waren.
»Ich habe über Sigfrid nachgedacht. Er wäre ein guter Mann für Grimhild, glaube ich.«
Seine Mutter ebenfalls? Gislher hatte schon den halben Vormittag mit ihm über dieses Thema sprechen wollen. Nachdenklich wanderte Gunters Blick zu seiner Schwester.
Die versuchte vergeblich, ein Wort von dem zu erraten, was gesprochen wurde. Wenn sie doch nur selbst etwas tun könnte! War es wirklich genug, wenn Gislher und ihre Mutter mit Gunter redeten? Vielleicht genügten zwei Fürsprecher nicht! Grimhild machte sich auf die Suche nach ihrem dritten Bruder.
Im flackernden Schein der Feuer entdeckte sie Gernholt und blieb unschlüssig stehen. Ob sie Erfolg haben würde, hing davon ab, in welcher Stimmung er sich befand. Seit seiner Verkrüppelung pendelte er zwischen Unruhe und Teilnahmslosigkeit. Es gab Augenblicke, in denen er die Welt erobern wollte, dann war er nicht zu bremsen. In solchen Momenten konnte er fröhlich und ausgelassen und sogar komisch sein. Zu anderen Zeiten jedoch kam er sich unnütz vor und empfand sich als Last für die anderen. Dann sprach er oft vom Tod und gab sich düsteren Gedanken hin. Das war vor allem bei feuchtem Wetter der Fall, wenn sein Armstumpf und die Narben an seinem Bein schmerzten. Meist betäubte er sich dann mit einem Sud aus Bilsenkraut.
Sie hatte Pech. Es war feucht, und Gernholt hatte bilisa zu sich genommen. Angewidert verzog Grimhild die Nase. Nach dem Trocknen roch die Pflanze zwar nur noch schwach, aber sie hasste das Kraut. Es verschaffte ihrem Bruder Linderung, aber es trennte ihn auch von der Welt. Für sie waren der Geruch und Gernholts verbitterter Zustand untrennbar miteinander verbunden. Prüfend sah sie ihn von der Seite an. Seine Augen waren glasig, aber sein Verstand schien nichtsdestoweniger in Ordnung. Sie gab sich einen Ruck und setzte sich zu ihm.
»Meine Schwester«, begrüßte er sie schwerfällig, »was willst du denn von einem Krüppel wie mir?«
Grimhild hasste es, wenn er sich so bezeichnete. »Ich wollte dich um deine Hilfe bitten«, sagte sie. So wenig er es ertragen konnte, wenn andere ihm halfen, so sehr gierte er nach den seltenen Fällen, in denen er jemandem beistehen konnte. Es ließ ihn für einen Moment seine Behinderung vergessen und glauben, er sei ein Mann wie jeder andere.
Tatsächlich erhielten seine stumpfen Augen Glanz. »Wie kann ich dir helfen?«
»Frō Sigfrid wird vielleicht um mich freien.« Sie sprach langsam, deutlich und in kurzen Sätzen, damit der Sinn ihrer Worte zu ihm durchdrang. »Bitte unterstütz ihn! Sprich mit Gunter!«
Gernholt bemühte sich um einen klaren Kopf. Sigfrid. Das war der blonde Sachse, ein angenehmer Krieger. Freundlich, fröhlich … »Mach dir keine Sorgen, ich rede mit ihm!« Mühsam drehte er sich auf die Seite, um sich auf seinen vorhandenen Arm zu stützen. Dann winkelte er die Beine an und wälzte sich auf die Knie. Schwankend stellte er einen Fuß auf den Boden und drückte sich hoch.
Grimhild hütete sich zu helfen, obwohl sein Anblick ihr in der Seele wehtat. Er hätte ihre Hilfe nicht geschätzt. Während sie ihm nachschaute, als er mit unsicherem Schritt zu ihrem ältesten Bruder hinüberwankte, fragte sie sich unwillkürlich, ob sie nicht einen Fehler begangen hatte, ihn zu ihrem Fürsprecher zu machen.
Der Niflungenkönig sah seinen Bruder auf sich zukommen und lud ihn ein, neben ihm Platz zu nehmen, ohne sich die Besorgnis über seinen Zustand anmerken zu lassen.
Gernholt kam gleich zur Sache. »Ich muss mit dir reden«, sagte er.
Gunter seufzte. »Du möchtest mir sagen, was für ein guter Verbündeter Sigfrid wäre.«
Gernholt sah ihn verdutzt an. »Woher weißt du das?«
In gespielter Verzweiflung rang der Niflungenkönig die Hände. »Ich hoffe, der Sachse verlangt sie endlich zur Frau, damit ich wieder einmal Ratschläge zu anderen Themen zu hören bekomme.«
Die Sonne war inzwischen hinter den Hügeln versunken. Ein schmaler rötlicher Schein erhellte noch den Horizont, ansonsten hatte sich die Nacht bereits wie ein azurblaues Tuch über das Land gelegt. Die Sterne funkelten in seltener Klarheit. Unter Jauchzen und Schreien bereiteten sich Jungen und Mädchen und solche, die wieder jung wurden, auf das Feuerradrollen vor. Zahllose Wagenräder aus Stroh wurden aufgestellt. Der pluostrari ging herum und entzündete unter rituellen Beschwörungsformeln ein Rad nach dem anderen. Begleitet vom Geschrei der Feiernden rollten die Sonnensymbole dann ins Tal hinab.
Gislher ließ ein Geheul ertönen, als er seinem brennenden Rad einen Stoß gab und mit den Augen der Feuerspur folgte. Ivo tat es ihm gleich, und die beiden Jungen feuerten ihr Rad an, als Erstes unten zu sein. Im unruhigen Licht des Feuers wirkten sie wie Brüder. Ivo war hier geboren und unfrei geworden, als Aldrian das Niflungenreich eroberte. Der König hatte ihn gemeinsam mit Gislher aufgezogen, wie es üblich war.
Hunderte flammender Funken jagten den Hügel hinab und bildeten zuckende Muster in der Dunkelheit. Es war aufregend, ihnen nachzusehen. Auch Dietlind schrie vor Begeisterung. Gislher bemerkte ihre sehnsüchtigen Blicke, und ihm kam zu Bewusstsein, dass sie auf ihrer Reise keine Gelegenheit gehabt hatte, Vorbereitungen für das Fest zu treffen. »Wartet!«, sagte er und lief mit raschen Schritten davon. Als er zurückkam, hielt er ein Strohrad in der Hand. »Für Euch.«
Dietlind war gerührt. »Danke«, sagte sie.
Er zog ein brennendes Scheit aus dem Feuer und entzündete das Stroh für sie. Sie gab dem Rad einen Stoß. Eine Flammenspur fegte ins Tal hinab und erhellte den Weg mit feurigem Atem. Dietlind machte ihren Gefühlen durch lautes Schreien Luft, was Gislher so ansteckend fand, dass er begeistert mitschrie.
Der pluostrari hatte Gewürze ins Feuer geworfen, die angenehme Gerüche verbreiteten. Jetzt ließ er einen Kessel mit einem aromatisch riechenden Getränk herumgehen, von dem jeder einen Becher voll nehmen durfte. Die Zutaten dafür waren ein Geheimnis der Priester. Die Mixtur öffnete die Sinne für den Zauber und die Schönheit der Mittsommernacht. Gislher ließ Dietlind den Vortritt und trank anschließend selbst. Der Geschmack war streng, aber nicht unangenehm. Mit einem wohligen Gefühl plumpsten die beiden ins Gras und blickten in den Himmel.
»Was wünscht Ihr Euch am meisten im Leben?«, fragte Dietlind.
Gislher kaute an einem Grashalm. »Ich möchte so werden wie Sigfrid«, erwiderte er. »Ich möchte meiner Sippe Ehre machen. Die Skopen sollen von mir singen.« Im nächsten Jahr, wenn er dreizehn war, würde er auf dem Thing sein eigenes Schwert erhalten und als waffenfähiger Krieger in den Sippenverband aufgenommen werden. Ein Jahr noch! Es fiel ihm schwer, so lange zu warten. »Und Ihr? Was ist Euer größter Wunsch?«
»Ihr werdet mich auslachen, wenn ich es sage.«
»Das werde ich nicht.«
»Ich … ich möchte einmal, nur ein einziges Mal eine Nymphe sehen«, platzte sie heraus. »Man sagt, sie seien schön und zerbrechlich. Wie oft schon habe ich einem Baum oder einem Strauch Opfer gebracht, aber noch nie hat sich mir eine gezeigt.«
»Mir auch nicht«, sagte Gislher, »aber Ivo, unser Stallbursche, ist einer Oreade begegnet, einer Bergnymphe. Er erzählt oft davon.«
Beide schwiegen eine lange Zeit. Sie hatten die Augen geschlossen und sogen die verheißungsvolle Atmosphäre dieser besonderen Nacht in sich auf. Ein Versprechen lag in der Luft, die Kraft der Erneuerung. Dietlind fasste es als Erste in Worte. »Wenn die Sonne zurückkehrt, sind wir nicht mehr dieselben.«
»Wir werden etwas Neues sein, etwas, dessen Größe und Bedeutung wir noch gar nicht kennen.«
»Auf dem Weg hierher trafen wir einen Mann, der den ganzen Tag auf einer Säule stand und vom Gott der Christen sprach und die alten Bräuche verfluchte. Ich begreife nicht, warum sie Sonnenwendfeiern für etwas Schlechtes halten. Sie fühlen nicht die Bedeutung dieser Nacht, oder?«
»Sie leugnen sogar, dass Bäume und Quellen eine Seele haben. Ist das nicht töricht? Jeder, der einen Baum berührt, kann sein megin spüren.«
»Es ist ein seltsamer Glaube, dem sie folgen. Der Mann auf der Säule hat mir Angst gemacht. Er war so unerbittlich.«
Gislher wusste, was sie meinte. Die Strenge der Christenprediger machte ihn immer schaudern. »Ihr Glaube muss ohne jede Freude und ohne Ekstase sein. Sie lieben das Leben nicht.«
»Dabei ist es voller Schönheit! Es gibt so viel zu sehen und zu erfahren, so viel, was ich lernen möchte! Sogar Pflanzen und Sträucher verraten einem ihre Geheimnisse, wenn man genau hinhört.«
»Sie sprechen zu Euch?«
Dietlind errötete. »Vater sagt, ich besäße Kräuterheil. Mutter lehrt mich alles, was sie darüber weiß, aber auch sie meint, sie könne mir eigentlich nichts mehr beibringen.«
»Ich weiß nicht, was für eine Art Heil ich besitze«, erwiderte Gislher nachdenklich. »Sicher kein Königsheil. Trotzdem, ich fühle, dass die Nornen Großes mit mir vorhaben. Im nächsten Jahr werde ich auf dem Thing als freier Krieger in die Sippe aufgenommen. Dann bin ich ein Mann und werde alles daran setzen, so viel Ruhm zu erwerben wie Sigfrid.«
»Wird König Gunter Euch Euer Schwert überreichen?«
Der Niflunge nickte stumm.
»Ihr vermisst Euren Vater, nicht wahr?«
Gislher beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Für ein Mädchen verstand sie ziemlich viel. »Ich wünschte, er könnte mir mein Schwert geben«, vertraute er ihr an. »Ich liebe meinen Bruder, aber es ist eben nicht dasselbe.«
»Wisst Ihr schon, wen Ihr zur Frau nehmen werdet?«
Gislher wurde rot. Gespräche über Eheverbindungen machten ihn verlegen. »Nein. Und ich bin froh darüber. Ich will überhaupt nicht heiraten.«
»Ich schon. Wenn Liebe zwischen mir und meinem Mann ist, wie zwischen meinem Vater und meiner Mutter. Ich glaube, dann kann man alles erreichen, was man will. Das megin aus der Verbindung eines Mannes und einer Frau ist viel stärker als die beiden einzelnen megins zusammen.«
»Ja, jeder kann sehen, dass Eure Eltern großes Heil miteinander haben.« Der Rausch des Trankes stieg Gislher allmählich zu Kopf. Er blinzelte. Die Sterne schienen klarer und näher als zuvor.
»Wie nah sie sind!«, seufzte Dietlind, als hätte sie seine Gedanken erraten.
Gislher blickte sie an, und seine durch den Trank geschärften Sinne sahen sie in einem goldenen Licht. Sie schien von innen heraus zu strahlen. Schwerfällig drehte er den Kopf. Er hatte die vielen Menschen, die mit ihnen das Sonnenwendfest feierten, völlig vergessen, aber da waren sie, Männer und Frauen, und jeder von ihnen strahlte dieses goldene Licht aus. Jeder schien eine Sonne zu sein. Gislher rieb sich die Augen und sah ein zweites Mal hin, aber das Leuchten blieb. Plötzlich fühlte er eine starke Verbindung zu ihnen, mehr noch, er fühlte sich eins mit den Vögeln, den Pflanzen, den Würmern, ja, mit der Erde selbst.
Dietlind nahm ein Amulett von ihrem Hals. »Ich möchte Euch dies hier schenken«, sagte sie. »Es soll Euch schützen, Eure Wünsche in Erfüllung gehen lassen und Euch vor Schaden bewahren.«
Der birnenförmige Anhänger bestand aus Gold. Außen war sōwelō, die Sonnenrune, eingeritzt, und vermutlich war der Hohlkörper mit magischen Gegenständen gefüllt. Als Dietlind ihm das Amulett umhängte, spürte Gislher, dass zwischen ihr und ihm eine besondere Verbindung bestand.
Sigfrid saß an einem der vielen Feuer. Er hatte reichlich vom Trank des Priesters zu sich genommen, zudem atmete er den Geruch der Kräuter ein, die in den Flammen verbrannten.
Flammen. Hitze. Feuer.
Feuer!
Der Himmel war rot vom Widerschein der Flammen. Auf unerklärliche Weise davon angezogen, ritt Sigfrid auf das Licht zu. Vor ihm stieg eine Waberlohe in den Himmel und versengte ihn mit heißem Atem. Grane scheute vor der Barriere und wich schnaubend zurück. Sigfrid redete beruhigend auf ihn ein und tätschelte ihm den Hals. Vergeblich versuchte er zu erkennen, was hinter der Flammenwand lag. Er musste hindurch! Irgendetwas wartete dort auf ihn. Kurz entschlossen ließ er das Pferd zurücktraben, bis der Abstand groß genug war. Dann reckte er Gesicht und Hände gen Himmel, um Wodan um Beistand anzuflehen. Er konnte seine eigenen Worte nicht verstehen, das Prasseln des Feuers übertönte jedes Geräusch.
Mit einem Schenkeldruck trieb er Grane an, ließ einen Schlachtruf ertönen und jagte auf die glühende Mauer zu. Jäh verwandelte sich das treue Tier unter ihm; vier zusätzliche Beine wuchsen aus seinem Körper, zwei Flügel aus seinen Flanken. Wodan hatte ihn erhört! Er gab ihm Sleipnir, sein eigenes Ross! Das edle Pferd raste auf das Flammenmeer zu, tat einen gewaltigen Satz und schlug mit den Flügeln. Dann war Sigfrid von tosendem Feuer umhüllt. Hitze verbrannte ihm das Gesicht, Funken umzüngelten ihn, um ihn am Weiterkommen zu hindern. Seine Brünne begann zu schmelzen. Höher und höher stieg Sleipnir, während die Flammen unter ihm wüteten.
Und plötzlich sank das Feuer in sich zusammen. Die Stille, die auf das Tosen folgte, war ohrenbetäubend. Wodans Pferd schwebte dem Erdboden entgegen und landete auf einer Wiese, die von keiner Flamme berührt schien. Sigfrid stieg von Sleipnirs Rücken und näherte sich einem Schildwall. Ohne stehen zu bleiben, durchschritt er den Ring aufrecht stehender Schilde.
Auf der Erde lag eine Frau, mit dem Rücken zu ihm, und Sigfrid wusste, sie war der Ursprung der Kraft, die ihn angezogen hatte, sie war das Ziel all seinen Begehrens. Sie bewegte sich nicht, nicht einmal, als er sie berührte. Ein Schlafdorn musste sie in diesen Zustand versetzt haben. Er wusste, dass es so war, so sicher, wie er wusste, dass sie für ihn bestimmt war. Eine silberne Brünne schützte sie, in ihrer Hand lag ein stählerner Ger. Sie war eine Walküre, doch würde nicht sie ihn für Wodans Schlachthalle erwählen, sondern er sie als sein Weib. Ein heißes Gefühl verbrannte sein Herz, heißer als das Feuer der Waberlohe. Sobald er sie erweckte, würde ewiges Glück ihn erwarten. Sanft drehte er sie herum.
Ihr Kopf war glatt wie ein Ei. Sie hatte kein Gesicht.
Grimhild hatte nur einen Schluck des magischen Tranks zu sich genommen. Sie war nach wie vor auf der Suche nach Sigfrid. In der Ferne entdeckte sie Hagen. Irgendwie schaffte er es immer, auch bei müßigem Umherstreifen zielstrebig zu wirken. Vermutlich hatte er ebenfalls vom Trank des Priesters nur genippt. Er liebte es nicht, die Kontrolle über sich zu verlieren. Die Niflunge ging zu ihm. »Ich habe dir noch gar nicht für die Rettung meines Bruders gedankt«, sagte sie.
»Es ist meine Aufgabe, deine Sippe zu schützen.«
»Eine Aufgabe, die du meisterhaft erfüllst.« Grimhild war dankbar für seine Gesellschaft, die sie von ihren Sorgen ablenkte. Um ein Gespräch in Gang zu bringen, fragte sie: »Hast du je Feuerräder gerollt?«
»Glaubst du, es fließt kein Blut in meinen Adern? Manchmal bin ich mit ihnen um die Wette gelaufen.«
Es fiel ihr schwer, sich den Waffenmeister vorzustellen, wie er kreischend neben einem brennenden Rad den Hügel hinablief. Der Gedanke war erheiternd.
»Ich gäbe etwas darum zu wissen, was du gerade hinter deiner Stirn versteckst«, sagte er, und seinem Tonfall nach wusste er genau, was es war.
»Ist das nicht eine wundervolle Nacht? Die Welt kommt mir heute so verändert vor.«
»Es ist die Nacht der Erneuerung.«
Sie dachte an Sigfrid und seufzte. »Ja. Die Nacht der Erneuerung. Was bedeutet sie für dich?«
»Nichts. Die Menschen bleiben dieselben. Die Götter bleiben dieselben. Sogar die Sterne bleiben, wie sie sind.«
»Aber die Mittsommernacht ist voller Hoffnung! Spürst du es nicht?«
»Hoffnungen sind dazu da, von den Göttern zunichte gemacht zu werden. Ich nehme, was kommt, das erspart mir Enttäuschungen.«
»Ob du glücklich oder unglücklich bist, liegt allein in deiner Hand, Hagen. Das Gewebe der Nornen sagt nichts darüber aus. Das ist es, was uns die Mittsommernacht verspricht: dass du aus einem alten Webmuster etwas völlig Neues machen kannst.«
»Ebenso könnte ich versuchen, einen Stern vom Himmel zu holen.«
»Ich könnte es«, sagte sie trotzig und wartete auf Widerspruch oder ein nachsichtiges Lächeln.
Zu ihrer Überraschung tat er nichts dergleichen, sondern nickte nur. »Bei dir ist das etwas anderes. Was du dir vornimmst, wirst du auch erreichen.«
Bislang hatte sie immer angenommen, dass ihre Mutter die Einzige war, die sich nicht von ihr hinters Licht führen ließ, aber wie es schien, hatte nicht nur Oda Augen im Kopf und einen Verstand zum Denken.
»Du siehst mich an wie eine Dryade«, sagte Hagen und fügte nach einer winzigen Pause hinzu: »Schmiedeauge.« Sie war so verblüfft, dass sie im ersten Moment gar nicht begriff, dass er einen Scherz gemacht hatte. Darüber musste er lachen. Es war ein hartes, trockenes Lachen, kurz und präzise wie sein Wesen, aber es kam aus seinem Inneren, und er ließ es frei.
Sie sah ihn mit Zuneigung an. »Es ist schön, wenn du lachst.«
Sein Lachen erstarb ebenso abrupt, wie es begonnen hatte. »Grimhild, ich möchte dir sagen –«
Was immer er ihr sagen wollte, der Satz wurde nie vollendet.
Denn Grimhild entdeckte endlich das Gesicht, nach dem sie Ausschau gehalten hatte, und ihr Herz machte einen Satz. Sie wollte zu Sigfrid laufen und ihn berühren, um sich zu überzeugen, dass er Wirklichkeit war und kein Traum ihr einen Streich spielte, aber dann beschloss sie, die Gelegenheit zu ergreifen, Hagen auf ihre Seite zu ziehen. Beschwörend legte sie die Hand auf seinen Arm, obwohl sie wusste, dass er gewöhnlich unwillig auf Körperkontakt reagierte. »Du sollst der Erste sein, Hagen, der es erfährt. Sigfrid wird bei Gunter um mich freien. Ich bitte dich, unterstütz diesen Wunsch! Um meinetwillen!«
Der Moment der Gemeinsamkeit schien vorbei zu sein. Der Waffenmeister trug wieder den unnahbaren Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie so gut kannte. Zunächst schien es, als wolle er ihr eine Antwort verweigern, und als er sich dann doch dazu entschloss, etwas zu sagen, lag eine Ewigkeit zwischen seinen Worten. »Ich … werde … sehen.« Damit wandte er sich ab und ließ sie stehen.