Kitabı oku: «Krähen über Niflungenland», sayfa 4
3.
Einige Nächte waren ins Land gegangen, und der Sommer kündigte sich an. Der Nachmittag war schwül und versprach, noch heißer zu werden. Überall konnte man den schwirrenden Gesang der Grillen und Heuschrecken hören, ein vielstimmiger Wettstreit aus Knarren und Zirpen, mit dem die Männchen die Weibchen anlockten. Bienen summten geschäftig umher, selbst Maikäfer flogen noch in großer Zahl durch die Luft. In der Hitze reiften die Früchte. Nicht mehr lange, dann wurde es Zeit für die Kornernte.
Gunter saß an einen Baum gelehnt und ließ träge die Augen über das Land schweifen. Die Wiese war mit Hahnenfuß, Mohn und Kornblumen übersät. Auch der Löwenzahn blühte überall. Ein rotbraun gefleckter Schmetterling ließ sich auf einer Distel nieder und faltete die Flügel ein paarmal auf und zu, ehe er zur Ruhe kam. Gunter beobachtete ihn eine Weile und seufzte zufrieden. Wie schade, dass ihm Momente wie dieser so selten vergönnt waren! Es tat gut zu sehen, wie das Land gedieh. Vielleicht war er am Ende doch kein so schlechter König. Der Schmetterling breitete seine Flügel aus, um die Wärme der Sonne einzufangen. Gunter liebte dieses Land. Wenn Aldrian je eine richtige Entscheidung getroffen hatte, dann die, hier sein Reich zu gründen.
Der Gedanke an seinen Vater warf einen Schatten über den Augenblick der Unbeschwertheit. Wie so oft wanderten Gunters Gedanken zurück zu jenem schicksalhaften Augenblick, als sich seine Bestimmung erfüllte und er gezwungen war, gegen seinen Willen König von Niflungenland zu werden. Grimhild brachte ihm damals in hysterischem Zustand die Nachricht von Aldrians Tod. Auf Hagens Rat entschloss er sich, die Todesursache zu vertuschen, um Schaden von ihrer Sippe abzuwenden. Ein König, der der Blutrache zum Opfer fiel – das würde viele Menschen davon überzeugen, dass das Königsheil die Niflungen verlassen hatte. Sogar Grimhild mit ihren jungen Jahren begriff das. So sagten sie weder Gernholt noch Gislher etwas davon, und selbst Oda weihte Gunter nur zögernd ein. Überraschenderweise war sie ihnen eine große Hilfe. Klaglos ritt sie mit hinaus, um die Leiche zu bergen und heimlich in die Burg zu bringen, wo sie die klaffende Rückenwunde so vernähte, dass diese bei der Totenwache nicht auffiel. Sie tat, was nötig war, wie eine echte Königin, und behielt ihren Schmerz für sich, bis die schauerliche Arbeit vollbracht war. Erst dann zog sie sich in ihre Gemächer zurück, um zu trauern. Monatelang sprach sie mit niemandem, aß und trank kaum, und es bedurfte der gemeinsamen Anstrengung ihrer Kinder, um sie aus ihrer Gleichgültigkeit zu reißen.
Gunter betrachtete seine Fingerspitzen. Keine Möglichkeit zur Rache zu haben, weil er nicht wusste, wer seinen Vater getötet hatte, das war eine Wunde, die unaufhörlich blutete, aus der nach und nach sein Lebenssaft rann. Ein schleichendes Gift in der Seele, das allmählich sein Selbstbewusstsein untergrub. Seinem Vater und damit seiner Sippe war die Ehre genommen worden, ohne dass er sie sich zurückholen konnte. Eines Tages würden die Gefolgsleute seine Kraftlosigkeit erkennen, und das würde das Ende seiner Herrschaft sein. Düster starrte Gunter zu Boden. Die Hochstimmung, die ihn eben noch erfasst hatte, war wie weggeblasen.
Sigfrid hatte sich von den anderen entfernt, um allein zu sein. Er wollte über die Fetzen eines merkwürdigen Traumes nachdenken, der ihm im Kopf herumspukte. Er konnte sich nur an Bruchstücke erinnern. Es hatte mit Feuer zu tun, einer Waberlohe oder dergleichen, er wusste es nicht mehr genau. In letzter Zeit stellte er immer öfter fest, dass sein Gedächtnis Lücken aufwies.
Der kühle Wald zog ihn an. Mit raschen Schritten ging er hangaufwärts, bis er in den Schatten der Bäume eintauchte. Sobald ihn niemand mehr beobachten konnte, fiel alles Gezwungene von ihm ab und machte einem glücklichen Grinsen Platz. Er konnte sich überall einfügen, aber nur unter dem Laubdach des Waldes fühlte er sich wirklich zu Hause. Hier war er keinen Zwängen unterworfen, hier musste er nicht versuchen, die verwickelten Gedankengänge anderer Menschen nachzuvollziehen, hier konnte er sein, wer er war: ein einfacher Mann. Tief sog er den harzigen Geruch der Bäume in seine Nase und berührte die Stämme der Eichen und Buchen, ohne zu wissen, warum. Er wusste nur, dass es sein Herz mit Frieden erfüllte. Seine Brust wurde zu eng für seine Gefühle und gab ein übermütiges Lachen frei. Mit diesem Lachen auf seinen Lippen schritt Sigfrid tiefer in den Wald.
Aus dem Schatten eines Baumes trat Hagen hervor und sah ihm mit eigentümlichem Blick nach. Er fühlte sich seltsam angezogen von der lichten Seite Sigfrids. Auch wenn er es ungern zugab, empfand er doch eine widerwillige Sympathie für den Sachsen, vielleicht gerade weil sie beide so gegensätzlich waren wie zwei Seiten einer Münze, er mit seiner düsteren Verschlossenheit, der Sachse mit seinem fröhlichen Optimismus. Sympathie, ja … und Neid. Sigfrid fiel alles in den Schoß. Mühelos erlangte er Zugang zu den Herzen der Menschen und erreichte, was immer er sich vornahm, ohne auch nur darüber nachdenken zu müssen. Hagen wusste, dass seine Eifersucht ein kleinlicher Zug war, aber er grollte dem Sachsen dafür, dass er ein Liebling der Götter war. Erbittert zog er sein Wolfsfell enger um die Schultern und stapfte in die entgegengesetzte Richtung davon.
Gislher schreckte aus dem Halbschlaf und hob den Kopf. War er eingenickt? Benommen schaute er sich um. Etwas stimmte nicht. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass es die unnatürliche Stille war, die ihm auffiel. Der Gesang der Vögel war verstummt, die Luft drückend und schwül. Irgendein intensiver Geruch hing in der Luft. Der Wald schien auf etwas zu warten. Aber worauf?
Wie zur Antwort brach plötzlich ein Unwetter los, es krachte und donnerte, kalter Wind fuhr aus dem Nichts zwischen die Bäume, und dann barsten die Dämme des Himmels. Die Wilde Jagd, dachte Gislher furchtsam und kauerte sich am Fuße des Baumes zusammen. Wenn Wodan mit seinen Einheriern, den in der Schlacht Gefallenen, der Kampfekstase nachgab, war verloren, wer sich ihnen in den Weg stellte.
Die Jagdgesellschaft war beim Zusammenpacken gewesen, als es plötzlich finster wurde. Wolken türmten sich auf, in Windeseile zog sich der Himmel zu. Die Jagdhunde verkrochen sich und winselten. Ein Hase rannte über einen Hügel und verschwand in seinem Bau.
Hagen begriff als Erster und stieß eine Verwünschung aus. »Die Wilde Jagd!«
Gunter war verblüfft. Er hatte noch nie erlebt, dass die Geister der Verstorbenen im Sommer durch die Lüfte ritten; der Winter war die Jahreszeit der Toten. »Beeilt euch!«, trieb er seine Männer an. »Wir müssen zusehen, dass wir von hier fortkommen.« Es war ein unnötiger Befehl, jeder packte, als ginge es um sein Leben, zumal sich jetzt die Schleusen des Himmels öffneten. »Wo ist Gislher? Noch im Wald?«
Hagen griff nach seinem Schwert. »Reitet in die Burg, ich kümmere mich um ihn!« Schon lief er davon. Nicht Gislher, dachte er. Nicht auch noch er! Genügte es nicht, dass er einmal versagt und zugelassen hatte, dass König Aldrian getötet wurde?
Sigfrid rannte hinter dem Waffenmeister her. Auch er machte sich Sorgen um Gislher, der ihm wie ein Bruder ans Herz gewachsen war.
Am Waldrand bemerkte Hagen seinen Begleiter. »Ich sagte, Ihr sollt in die Burg zurückreiten!«, fauchte er.
»Ich bin nicht Euer Gefolgsmann, dem Ihr befehlen könnt.«
Feindselig standen die Männer sich gegenüber.
»Ich brauche Eure Hilfe nicht, mischt Euch nicht ein!«, schrie Hagen.
Sigfrids erste Reaktion auf das überraschende Verhalten des Waffenmeisters war Zorn, doch dann wurde ihm bewusst, dass sie wertvolle Zeit vergeudeten. »Spart Euren Atem für das Laufen!«, rief er und eilte weiter, ohne sich um seinen Kontrahenten zu kümmern.
Hagen knirschte mit den Zähnen und setzte ihm nach. Wie ein dummes Kind beiseite geschoben! Es war seine Aufgabe, die Sippe des Königs zu schützen; wenn Sigfrid ihm dabei half, war das wie ein Eingeständnis von Versagen. Doch der Sachse war schon weit voraus, und der eisige Regen, der Hagen ins Gesicht peitschte, sorgte dafür, dass er den blonden Krieger aus dem Auge verlor.
Gislher konnte sich nicht rühren. Mit grausiger Faszination starrte er auf die turmhohen Wolken, die das Kommen des Wüters ankündigten. Das Gebüsch hinter ihm zitterte. Wild zerrte eine Bö an den Ästen und rüttelte an den Wipfeln der Bäume, die sich unter dem Druck beugten. Die ersten Zweige brachen. Gislher stand inmitten dieses Chaos‘, dem Aufruhr der Natur preisgegeben. Aus den Augenwinkeln sah er etwas vorbeifliegen, wahrscheinlich eine Dryade auf der Flucht vor dem unberechenbaren Groll des Gottes. Vielleicht war es auch die Windsbraut, die auf dem heißen Atem des Sturms ritt.
Er musste von hier verschwinden! Wenn Wodan über ihn hinwegfegte, würde er ihn zerquetschen wie eine Laus, ohne es auch nur zu bemerken. Aber wohin? Er konnte kaum mehr als ein paar Schritte weit sehen. Gislher stemmte sich gegen den Orkan und tappte aufs Geratewohl los, mit dem Arm seine Augen schützend. Mehr als einmal stolperte er und erlangte nur mühsam das Gleichgewicht wieder. Um ihn herum erklang ein mächtiges Heulen, das Heer der Gefallenen musste bereits in der Nähe sein. Gislher lief schneller, obwohl er kaum wusste, wohin er seine Füße setzte, fort, nur fort von der Gewalt des Asen! Das Horn Wodans dröhnte, das Stampfen geisterhafter Pferdehufe wurde lauter und lauter, und dann war das Wilde Heer heran.
Von rasendem Zorn beherrscht, jagte Wodan mit seinen Kriegern durch den Wald, entwurzelte Bäume und hetzte Blätter, Tiere und Dryaden vor sich her. Je mehr er tobte, desto mehr wurde seine Wut angestachelt. Kampfekstase trieb ihn zu immer neuen Orgien der Vernichtung, nicht umsonst nannte man ihn den Besessenen. Roh schüttelte er einen Baum nach dem anderen und riss ihn mit sich fort, Büsche und Farnkraut wirbelten durch die Luft. Dann entdeckte der Wüter den fliehenden Menschen, schnappte ihn mitten im Lauf und warf ihn gegen einen Stamm. Mit einem Schmerzensschrei schlug Gislher auf und zerschrammte sich Gesicht und Hände. Es blieb ihm keine Zeit, sich zu erholen, denn der Ase deckte ihn mit einem Schauer aus Steinen und Ästen ein und ließ seine Übellaunigkeit an ihm aus. Wimmernd bedeckte der Niflunge das Gesicht mit seinen blutigen Händen.
Donar bezeugte dem Wüter Achtung, indem er seinen Hammer schleuderte. Einen Herzschlag lang wurde es taghell, dann krachte es ohrenbetäubend, und mit einem Mal stand eine Eiche in Flammen. Eine breite Schneise der Zerstörung hinter sich lassend, raste das entfesselte Totenheer um den brennenden Baum, der nun ihr Zeichen trug.
Gislher sah eine entwurzelte Buche auf sich zufliegen, konnte jedoch nicht rechtzeitig ausweichen, und dann wurde sein Bein darunter begraben. Schmerz zuckte durch seinen Oberschenkel. Er schrie auf und versuchte mit aller Kraft, das Gewicht von sich zu schieben, vergeblich. In diesem Augenblick entdeckte er, dass die brennende Eiche sich gefährlich in seine Richtung neigte. Wenn die Wurzeln nachgaben, würde sie ihn zermalmen! Zermalmen und zu Asche verbrennen! Gislher verdoppelte seine Anstrengungen und drückte gegen den Stamm, doch es half nichts. Schluchzend gab der Junge auf und sank in das nasse Moos zurück. Er würde hier sterben! Regen prasselte auf ihn ein und durchnässte ihn bis auf die Haut, sein Gesicht brannte von den Schlägen Abertausender von Tropfen. Mit kaltem Eisatem hauchte ihn der Ase an und packte ihn plötzlich an der Schulter. Gislher schrie auf und wehrte sich.
»Halt still, verdammt noch mal!«, fauchte Hagen. Seine groben Worte verbargen nur schwach seine Erleichterung, den Jungen am Leben zu finden. Der brennende Baum stöhnte unter der Wucht, mit der das Heer der Einherier ihm zusetzte. Mit einem Blick erkannte der Waffenmeister die Lage und ergriff den Stamm auf dem Bein des Niflungen. Er spannte die Muskeln an, biss die Zähne zusammen und zog mit aller Kraft, doch der Baum bewegte sich nicht von der Stelle. Funken und brennende Äste flogen von der lodernden Eiche herüber. Hagen musste zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden.
Noch einmal umschlang er die Buche mit beiden Armen, ohne sich um die Äste und Steine zu kümmern, mit denen das Wilde Heer ihn traktierte, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben zu nehmen. Plötzlich befanden sich zwei weitere Hände neben ihm, und der Stamm geriet in Bewegung. In diesem Moment war Hagen für Sigfrids Anwesenheit dankbar. Mit vereinten Kräften zogen sie an dem Baum, und es gelang ihnen, den Stamm so weit anzuheben, dass Gislher sich darunter hervorwinden konnte.
Die brennende Eiche knirschte verdächtig. »Weg hier!«, schrie Hagen, packte Gislher unter den Achseln und schleifte ihn aus der Gefahrenzone. Unter schrecklichem Getöse stürzte der entflammte Baum und zerschmetterte die Buche. Das hätte ich sein können, dachte Gislher wie betäubt.
Hagen war halb blind von Erdkrumen, die ihm immer wieder ins Auge flogen. Erbittert verfluchte er seine Behinderung. Andere Menschen kniffen einfach das Auge zu, wenn sie etwas hineinbekamen, und benutzten das andere, bis die Tränenflüssigkeit den Schmutz fortgespült hatte. Wenn er sein Auge schloss, war er handlungsunfähig.
Wodan wühlte die Erde auf, katapultierte Moos, Sand und Lehm durch die Luft und gebärdete sich wie rasend. Die beiden Männer, die seinem Opfer zu Hilfe gekommen waren, schienen ihn noch mehr in Wut zu versetzen. Brüllend ließ er einen Hagel aus Steinen, Dreck und Gehölz auf die Rücken der Krieger niedergehen. Das Wilde Heer brauste unter grimmigem Geschrei durch Bäume und Felsspalten und umtanzte die Fliehenden.
»Bringt Gislher in Sicherheit, ich decke Euren Rückzug«, rief Hagen und wandte sich um. Obwohl eine kalte Hand sein Herz umklammert hielt, trat er mutig dem Asen entgegen. Um Gislher zu schützen, würde er es mit jedem Feind aufnehmen, selbst mit einem Gott.
»Glaubt Ihr, ich werde Euch mit dem Wilden Heer allein lassen?«, schnaubte Sigfrid. Mimung blitzte in seiner Hand.
Hagen wollte etwas erwidern, aber dann lenkte er ein. »Gehen wir gemeinsam«, sagte er.
Wie durch ein Wunder schien Gislher nichts gebrochen zu haben, er humpelte, sich die Tränen verbeißend, voran, während die beiden Männer mit gezogenen Schwertern ihre Flucht sicherten.
Es kam Hagen gar nicht in den Sinn, sich vor Wodan zu fürchten. Was Zorn anbetraf, so konnte er es jederzeit mit dem Obersten der Götter aufnehmen. »Er gehört mir, alter Mann, hörst du?«, schrie er gegen die Amok laufende Natur an. Etwas zischte auf Hagen zu, und ehe er ausweichen konnte, traf ihn ein abgebrochener Ast. Wild hieb er auf die heranfliegenden Gegenstände ein, obwohl er kaum etwas sah.
Sigfrid wehrte die Wurfgeschosse nur halbherzig ab. Sein Herz klopfte hart. Ob Wodan auch jetzt, da er sich gegen ihn stellte, sein Schutzversprechen ihm gegenüber halten würde? Er vergewisserte sich, dass das Amulett um seinen Hals hing, und spürte zu seiner Beruhigung die Macht von ansuz, der Rune des Asen, in seiner Hand.
Ohne Übergang befanden sie sich außerhalb des Waldes. Schlagartig ließ das Unwetter nach, als respektiere Wodan ihren Mut. Vielleicht hatte er auch nur ein lohnenderes Ziel für seinen Zorn entdeckt. In der Ferne preschte das Wilde Heer vorüber. Die dunklen Wolken machten den ersten hellen Flecken am Himmel Platz, die Sonne brach hervor und brachte das Land zum Dampfen. Erschöpft ließen sich die drei Menschen ins Gras fallen.
4.
Axtschläge wiesen Grimhild den Weg. Mit wehenden Haaren stürzte sie in die Baracke, in der die Niflungen das Feuerholz zum Trocknen lagerten. Dort fand sie ihren Lieblingsbruder beim Holzspalten. »Gislher«, rief sie, »ist dir etwas passiert?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fiel sie ihm um den Hals und fing an zu schluchzen.
Gislher hatte sein lebensgefährliches Abenteuer schon halb vergessen. Seine Gedanken kreisten um andere Dinge. Übermorgen, am Abend vor Mittsommer, würde wie alle Jahre das Sonnenwendfeuer entzündet werden, ein Riesenspaß! Jeder musste seinen Teil dazu beitragen, um die Götter versöhnlich zu stimmen, deshalb schlug er Feuerholz. Grimhilds Gefühlsausbruch überrumpelte ihn. Er legte die Axt beiseite und hielt seine Schwester fest. »Ist ja alles in Ordnung«, beruhigte er sie und kam sich sehr erwachsen dabei vor.
Grimhild rang um Beherrschung. »Ich bin so froh, dass du lebst!«, sagte sie und fing vor Erleichterung wieder an zu schluchzen. Schließlich wischte sie die Tränen fort und nahm ihren Bruder in Augenschein, um sicherzugehen, dass ihm auch wirklich nichts fehlte. Sie zauste ihm das Haar, eine Angewohnheit, die sie von ihrer Mutter hatte und die Gislher zutiefst verabscheute, aber angesichts ihrer rührenden Besorgtheit verbiss er sich eine Unmutsäußerung. »Hattest du keine Angst?«, wollte sie wissen.
»Überhaupt nicht.«
Sie sah ihn prüfend an, und nach einer Weile senkte er den Blick. Sie bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken.
»Ich verdanke Sigfrid und Hagen mein Leben«, sagte er, um sie abzulenken. »Ich war eingeklemmt, und ein brennender Baum drohte auf mich zu stürzen. Sigfrid hatte überhaupt keine Angst, sich Wodan entgegenzustellen.«
Rote Flecken breiteten sich auf ihren Wangen aus, als ihr klar wurde, wie nahe er dem Tod wirklich gewesen war. Und Sigfrid, ihr Sigfrid hatte ihn gerettet! »Würdest du es begrüßen, wenn Jungherr Sigfrid für immer zu uns gehören würde?«, fragte sie.
Gislher bekam große Augen. »Er will hierbleiben?«
»Es könnte sein.«
»Aber er ist der Sohn des Königs von Tarlungenland. Er wird nicht Gunters Gefolgsmann werden wollen.«
Grimhild setzte eine verschwörerische Miene auf. »Was ich jetzt sage, muss unter uns bleiben. Es könnte sein … versteh mich recht, ich bin nicht sicher, aber … es könnte sein, dass Sigfrid mich bei Gunter zur Frau erbittet.«
»Wärst du froh darüber?«
Sie nickte zurückhaltend.
»Dann wären wir von einer Sippe!«, rief Gislher aus. »Vielleicht könnte Sigfrid mir beibringen, so gut mit dem Schwert zu sein wie er.«
Grimhild dämpfte seine Begeisterung. »Ich weiß nicht, wie Gunter darüber denkt. Vielleicht hält er Sigfrid nicht für würdig, um mich zu werben. Vielleicht hat er andere Pläne mit mir.« Obwohl sie kaum glaubte, dass ihr Bruder ihr einen Mann aufzwingen würde, und obwohl sie nicht vorhatte, es widerspruchslos hinzunehmen, falls er dergleichen plante, bestand selbstredend die Möglichkeit, dass er sie aufgrund einer politischen Überlegung jemand anderem geben wollte.
Gislher legte ihr die Hand auf den Arm. »Überlass das mir! Ich rede mit Gunter.« Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Sieh mich nicht so an, Schmiedeauge! Du kannst unbesorgt sein, ich werde ihm von unserem Gespräch nichts sagen. Ich werde bloß erwähnen, wie gut es wäre, jemanden wie Sigfrid zum Verbündeten zu haben.«
Grimhild gab ihm einen Kuss. »Danke. Jetzt ist mein Herz wieder ruhig.« Noch einmal überzeugte sie sich, dass er auch wirklich keine Verletzung davongetragen hatte, dann ging sie zur Tür.
Gislher nahm seine Axt wieder auf, doch es lag ihm noch etwas auf der Seele. Er konnte nicht besonders gut lügen, und am allerwenigsten wollte er seine geliebte Schwester anschwindeln. »Grimhild!«, rief er ihr nach.
Sie drehte sich um.
»Ein ganz kleines bisschen habe ich schon Angst gehabt.«
Sie lächelte.
»Nur ein ganz kleines bisschen.«
5.
Sigfrid hatte den Stallburschen fortgeschickt und sich eigenhändig um sein Pferd gekümmert. Nun, da Grane versorgt war, holte der Sachse sein Amulett hervor und betrachtete es nachdenklich. Er konnte die Kraft fühlen, die ihm entströmte. Es war aus geschmiedetem Eisen, erdmegin floss darin. Hatte Wodan sie wegen des Schutzzaubers verschont?
Sigfrid war immer sicher gewesen, dass ihm alles im Leben gelingen würde. Wenn der Ase die schützende Hand über seine Sippe hielt, was brauchte er da zu fürchten? War sein Vater ihm nicht leibhaftig begegnet, damals, bei der Entscheidungsschlacht gegen einen feindlichen Sachsenkönig um den Besitz von Tarlungenland? Ein Fremder erschien plötzlich auf dem Schlachtfeld, so pflegte Sigmund zu erzählen, und ging furchtlos mitten durch die Krieger, ohne sich um Äxte oder Schwerter zu kümmern. Er war einäugig – jedermann wusste, dass Wodan ein Auge hingegeben hatte, um Weisheit aus dem Mimirsbrunnen zu erlangen – und wurde von zwei Raben und zwei Wölfen begleitet. Als der Sachsenkönig nach dem Ger schlug, den der Fremde gegen ihn hob, zerbrach sein Schwert in zwei Stücke. Da wich das Heil von ihm, und das Schlachtenglück wandte sich. Der König erlitt eine schmachvolle Niederlage und starb auf dem Schlachtfeld. Als Sigmund demütig vor dem Einäugigen niederkniete, hängte der ihm ein Amulett mit der Wodansrune um den Hals. Und Sigmund wusste, das Heil des Asen ward ihm gegeben.
Das Knarren der Tür kündigte Besuch an. Hastig steckte Sigfrid das Amulett wieder ein, als hätte er etwas Verbotenes getan.
Grimhild kam herein. Der Anblick des Sachsen machte sie befangen. Ihr Herz klopfte, ihre Knie zitterten. Es war nicht gerecht, dass ein Mann so etwas in ihr auslösen konnte! »Ich … ich möchte Euch für die Rettung meines Bruders danken, frō Sigfrid«, stotterte sie. »Er ist mir das Liebste auf der Welt. Wenn ihm etwas geschehen wäre …«
Auch Sigfrid war verlegen. Wie sie so dastand, mit vor Erregung geröteten Wangen und einer Brust, die sich aufgeregt hob und senkte, verspürte er den Wunsch, loszureiten und Heldentaten für sie zu vollbringen, um den Ausdruck von Dankbarkeit, mit dem sie ihn bedachte, ewig auf ihrem Gesicht zu halten. »Ich habe es nicht allein getan«, stammelte er. »Ohne Euren Waffenmeister wäre ich zu spät gekommen.«
»Ich … möchte Euch trotzdem danken.« Sie gab ihm einen Kuss auf die verhornte Wange. Ungerufen drängte sich die erregende Vorstellung, wie seine raue Haut über ihre glitt, in ihre Gedanken. Sie wurde rot und löste sich von ihm, ehe ihr Atem sie verraten konnte.
»Bleibt eine Weile, frūa!«, bat er. Seine Wange brannte, wo ihre Lippen ihn berührt hatten.
Unschlüssig wanderten ihre Augen zwischen ihm und der Stalltür hin und her. »Es ist nicht recht«, murmelte sie. »Wenn man uns sieht …«
Der Druck zu sagen, was er fühlte, wurde übermächtig. Impulsiv ergriff er ihre Hand. »Ich möchte Euch zum Weibe nehmen. Wenn … wenn Ihr mich haben wollt.«
Wenn sie ihn wollte? Grimhild konnte kaum einen klaren Gedanken fassen vor Glück. Er freite um sie! Ihr überstürzt ausgeführter Plan, geboren aus einer unverdauten Mischung aus Furcht und Sehnsucht, ging zu ihrer eigenen Überraschung auf! Sie musste zweimal schlucken, ehe sie antworten konnte. »Ich wäre mehr als erfreut.«
Jetzt jubelte er, ergriff sie bei der Taille und wirbelte sie herum, dass ihr schwindlig wurde und sie sich erschrocken an ihm festhielt. Es lag etwas Geborgenes darin, von seinen Armen umfangen zu werden. Sie wünschte, dieser Moment würde nie zu Ende gehen. »Hört auf, frō«, lachte sie, »Ihr dürft nicht …« Aber dann umschlang sie seinen Nacken und küsste ihn. Leidenschaftlich suchte sie seinen Mund und versank im Strudel der Gefühle.
Er war es, der im Ringen um Kontrolle den Kuss beendete. Verlegen standen sie sich gegenüber und vermieden es, sich anzusehen. »Ich gehe zu Eurem Bruder und bitte ihn, Euch mir zur Frau zu geben«, sagte er und war schon auf halbem Weg nach draußen, ehe sie ihn zurückhalten konnte.
»Nein!«
Verwirrt drehte er sich um. Frauen waren wie eine mehrfach verschlüsselte Zauberrune für ihn. Hatte er Grimhilds Kuss missverstanden?
Sie sah seine Enttäuschung. »Bitte, wartet noch! Nur ein oder zwei Nächte.« Wenn Sigfrid blind auf sein Ziel losstürmte, bestand die Gefahr, dass Gunter ablehnte. Sie brauchte ein wenig Zeit, um die Entscheidung ihres Bruders in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie wollte kein Risiko eingehen, nicht bei einer so wichtigen Sache. »Wartet bis nach dem Mittsommerfest!«
»Warum? Ich liebe Euch. Ihr liebt mich. Ich bin König Sigmunds Sohn und sicher in den Augen Eures Bruders würdig, Euch zur Frau zu bekommen.«
Verzweifelt strich sich Grimhild durchs Haar. Er hatte ja recht. Aber wenn nun etwas Unvorhergesehenes eintrat?
Ihre Geste ließ sein Herz schneller schlagen. Sie wusste nicht, was sie einem Mann antat, wenn sie mit dieser weiblichen Bewegung ihren Körper zur Geltung brachte. Es war ja gleichgültig, ob er nun heute um sie freite oder in zwei Nächten. Er wollte ihr gern jeden Wunsch erfüllen, allein für die Freude, sie lächeln zu sehen. »Also gut«, sagte er, »ich werde warten.«
Sie nickte dankbar. Oh, sie würde mit ihm glücklich werden, keine Frage! Er konnte Rücksicht nehmen, er war sanft und fröhlich und voller Wärme und –
Sie merkte, dass sie ins Schwärmen geriet und die Welt um sich herum vergaß, gab ihm einen flüchtigen Kuss und schlüpfte aus dem Stall, ehe sie von ihren Gefühlen überwältigt wurde.