Kitabı oku: «Der Fluch des Bierzauberers», sayfa 3
Die Zuhörer lachten trotz ihres eigenen Elends lauthals über diese Geschichte und Knoll wünschte sich, ganz Magdeburg hätte sich vor Tilly in einer Höhle verstecken können.
Des Öfteren fragte er sich, wie er in eine solche Situation geraten konnte. Er, der einstmals geachtete, gut beleumundete Bürger, der wohlhabende Brauherr aus Magdeburg, klug, erfahren und stark. Nie hatte er aufbegehrt gegen die Obrigkeit, hatte brav seinen Platz eingenommen, auf den ihn die Vorsehung gestellt hatte. Anständig war er gewesen, hatte immer seine Steuern bezahlt und seine Pflichten erfüllt. Trotzdem war er nicht beschützt worden. Und trotzdem hatte das Schicksal ihm so übel mitgespielt, dass er nun in einer Höhle leben musste. Er lebte, immerhin, aber sein Vertrauen in die gottgegebene Gesellschaftsordnung war merklich erschüttert. Hilflosigkeit war das, was er am heftigsten empfand. Keine Möglichkeit blieb ihm, wirklich aktiv gegen sein Schicksal aufzubegehren. Nichts, außer schimpfen und fluchen.
Einmal versuchte er sich am Bierbrauen, ließ sich eine kleine Menge der kargen Getreideernte zuteilen, vermälzte diese unter primitiven Bedingungen und präsentierte am Ende ein dünnes, hopfenloses Gersten- und Haferbier, das dennoch von allen mit Genuss getrunken wurde.
Als sie endlich beschlossen, dass es genug sei, dass der Krieg nun wohl vorbei sein müsse, hatten sowohl Cord Heinrich Knoll als auch Magdalena die dreißig Jahre gerade überschritten, Gisbert war zwölf und der kleine Ulrich sechs Jahre alt. Und die kleine Lisbeth Magdalena, in der Kakushöhle geboren, zählte zwei Jahre. Sie war insofern eine Kuriosität, als dass sie zweimal getauft worden war. Einmal reformiert und einmal katholisch, jeweils von einem Elternteil, ohne Wissen des anderen. Mehr als drei Jahre lang hatten die Knolls als Höhlenmenschen gelebt. Man schrieb das Frühjahr 1635. Nur eine einzelne, zerrissene weiße Wolke hing einsam an einem ansonsten unwiderstehlich blauen Frühlingshimmel, als die Familie die Kakushöhle für immer verließ …
Und während sie in der Höhle dahinvegetierten, war in einem anderen Teil Deutschlands, im hessischen Homburg, am 30. März 1633 die Geburt des kleinen Prinzen Friedrich von Homburg gefeiert worden. Die Geburt eines Menschen, der viele, viele Jahre später so dramatisch ins Leben der Familie Knoll eingreifen sollte.
6.
Leider war der Krieg keineswegs vorbei, sondern es hatten sich lediglich erneut Schauplatz und Protagonisten geändert. Das katholische Frankreich beteiligte sich nun an der Seite des protestantischen Schweden am internationalen Schlachtfest. Dadurch geriet die Katholische Liga unter Druck, und der Krieg verlagerte sich nach Süddeutschland.
Zur gleichen Zeit begann jedoch überall, in ganz Deutschland, für die Bevölkerung der grausamste Teil des Krieges: Die, vom nun bereits beinahe zwanzig Jahre andauernden Krieg, völlig verrohten Söldner kannten inzwischen keine Grenzen mehr, was das Drangsalieren der Landbevölkerung anging. Das Magdeburgisieren wurde der traurige, der entsetzliche Standard. Überall zogen kleinere, verwahrloste Heere durchs Land, zu Wallenstein, Pappenheim, den Bayern, Franzosen, Spaniern, Holländern oder Schweden gehörig, schlugen hier und da eine bedeutungslose Schlacht, die sie jeweils zum Anlass nahmen, die Bürger und Bauern zu schröpfen. Bisweilen kam es auch zu grausamen Missverständnissen, wie in Donauwörth, wo die Schweden zuerst die reformierten Bürger vom katholischen Joch erlösten und anschließend versehentlich massakrierten.
Besonders diese schwedischen Söldner erlangten traurige Berühmtheit durch ihren Erfindungsreichtum, da sie sich immer neue Foltermethoden ausdachten. Zum Teil hing es auch damit zusammen, dass sie hier im deutschen Krieg zum ersten Mal mit Wein in Berührung gekommen waren, den sie in den gleichen Mengen und mit demselben Durst konsumierten wie ansonsten das Bier. Nur mit dem gravierenden Nachteil, dass der Wein viel stärker war als ihr üblicher Durstlöscher, und somit zogen die Schweden die meiste Zeit völlig betrunken und enthemmt durchs Land. Wie auf das Wild, so wurde auch Jagd auf Bauern gemacht, von denen man sich noch ein Stück Vieh oder ein Geldstück erhoffte. Unbarmherzig wurden die Opfer misshandelt, nackt an heiße Öfen gebunden, gehängt oder an den Fußsohlen verbrannt. Am meisten gefürchtet wurde der Schwedische Trunk: Eimerweise schüttete man den armen Leuten Wasser oder gar viehische Jauche in den mit einem Stück Holz aufgesperrten Rachen, worauf man ihnen mit den Füßen in die dick angefüllten Bäuche trat oder mit Holzlatten darauf schlug. Wer das überlebte, der verriet alle Verstecke. Auch die Söldner hatten mittlerweile den Braten gerochen, dass sich viele Menschen in Höhlen vor ihnen versteckten. Deshalb hatten sie sich folgerichtig auf Menschen abgerichtete Spürhunde angeschafft, mit denen sie durch die Wälder zogen, um so die Menschen in ihren Höhlen ausfindig zu machen. Deutsche, spanische, kroatische, niederländische sowie Soldaten anderer Nationen standen den Schweden hinsichtlich der ausgeübten Grausamkeit jedoch in wenig bis gar nichts nach.
Viele Bauern waren entweder im Krieg gestorben oder hatten sich aus Verzweiflung den Söldnern angeschlossen und die Höfe einfach ihren Frauen überlassen. Dies führte dazu, dass viele Anwesen weit unter Wert verkauft wurden, weil die überforderten Frauen sich und ihre Kinder vor dem Hungertod retten mussten. Die so heimatlos Gewordenen schlossen sich zu regelrechten Bettlerheeren zusammen, die nun planlos durch ganz Europa zogen. Alle Fundamente der ein Jahrtausend alten, von den meisten als göttlich angesehenen Gesellschaftsordnung gerieten ins Wanken. Und nachdem das ganze Land geplündert war, das Vieh tot und die Felder verwüstet, kam die Pest über die Menschen. Bis zum Herbst dauerte die Seuche an, danach gab es eine große Teuerung und zu guter Letzt erneut eine Hungersnot.
Die Natur spielte allerorten verrückt: Im Winter war es so warm gewesen, dass die Mandelbäume geblüht hatten, im Sommer nun hingegen erfroren alle Obstbäume. In Bamberg erbebte die Erde. An der Nordsee wütete eine verheerende Springflut, die nicht nur Inseln entzwei riss, sondern Teile von Hamburg und seiner Hafenanlagen zerstörte, und Schiffe, Menschen und Häuser mit sich zog. Zehntausend Menschen starben allein bei dieser Katastrophe. An der Ostsee tobte ein mörderischer Sturm mit Blitzen und Donner in nie erlebter Stärke. Aus Neapel wurde eine Entzündung des Vesuvs gemeldet, der das paradiesische Land mit Felsbrocken und glühender Asche verbrannt hatte; gerade so, als wolle die Natur zeigen, dass nicht nur die Menschen das Land verwüsten und magdeburgisieren konnten. Vielerorts wurde von Himmelserscheinungen, Kometen und drei Sonnen berichtet. Wahrsager und Scharlatane hatten Hochkonjunktur.
Spätestens im Mai 1635 hatte Knoll es bereut, die Höhle verlassen zu haben. Sie waren aber bereits zu weit gewandert, um zurückzukehren. Der Hunger wurde nun zu ihrem größten Feind. Sogar mit dem wenigen Geld, das ihnen verblieben war, konnte man nichts anfangen. Es gab einfach nichts, was die Leute entbehren konnten. Und sich mit Gewalt etwas zu nehmen, das kam für ihn nicht infrage.
»Dann wäre ich ja nicht besser als die rasenden, wütenden Bestien, die das Land verheeren«, sagte er wiederholt, wenn Magdalena die Frage aufwarf, ob Verhungern besser sei als Raub: »Wer nix hat, wird halt bös!«
Fanden sie einmal ein verendetes Pferd auf ihrem Weg, so war dies ein richtiggehender Glücksfall. Knoll verscheuchte dann die Raben und verwilderten Hunde, wedelte mit einer Hand die Myriaden Fliegen beiseite und schnitt mit seinem Messer in der anderen Hand Streifen des teilweise bereits verwesenden Fleisches ab. Sie aßen es sofort und roh, an Ort und Stelle, und häufig erbrachen sie das Ganze, von Krämpfen geschüttelt, gleich wieder. Doch manchmal half es ihnen, einen weiteren Tag zu überleben. Wiederholt sahen sie Menschen, die weinend und wimmernd dabei waren, ihre Verstorbenen wieder auszugraben, um mit deren Leichnamen ihren unsäglichen Hunger zu stillen. Alle wussten um den Frevel und die Strafen, die der Entdeckung dieser Gräueltaten folgen würden. Indes, alles war besser, als elendig den Hungertod zu sterben.
Grimmig merkte Magdalena an: »Wenn man überall vergebens um Nahrung angesucht hat, dann klopft man schließlich bei seinen Ahnen an.«
Niemand beachtete sie, niemand hatte Angst vor ihnen oder davor, dass sie die hungrigen Totengräber verraten könnten. Sie waren wie Schatten, die durch diese grausame Welt huschten.
In der Nähe von Wittlich, nicht weit entfernt vom großen Moselfluss, sahen sie von Weitem einen Bauernhof, bei dem sie um Lebensmittel nachfragen wollten. Ein schöner, großer Hof, mit einem Hauptgebäude in Fachwerkbauweise, daneben eine große Scheune, deren untere Hälfte gemauert und die obere ebenfalls als Fachwerk errichtet war. Dazu gab es noch zwei kleine Holzschuppen und einen kleinen Teich.
»Ob das vielleicht sogar der Hof eines Gutsherren ist?«, fragte Magdalena.
Knoll war skeptisch. Und das zu Recht. Schon das fehlende Anschlagen eines Hofhundes hätte sie warnen müssen. Ebenso vermissten sie die normalerweise um einen Hofteich flatternden Enten oder Gänse. Auch sonst waren keine Vögel in der Luft. Kein lautes Geschnatter, kein wütendes Bellen, kein Gezwitscher, kein Geräusch. Nichts. Gespenstische Stille. Totenstille. Als sie näher kamen, sahen sie die halbverbrannten Dächer der Gebäude. Ein Regenguss hatte anscheinend dafür gesorgt, dass nicht alles abgefackelt worden war. Sogar das Toilettenhäuslein etwas abseits war teilweise verbrannt. Das herzförmige Schild an der Tür, auf dem mit ungelenker Schrift ›Unsere Heymlichkeit‹ geschrieben stand, war mit Ruß verschmiert. War der Hof verlassen? Vielleicht gab es doch noch etwas zu holen. Die Hoffnung starb zuletzt. Trotz des bestialischen Gestanks, einer Mischung aus feuchtem Moder, dem Odeur von geronnenem Blut und dem alles überlagernden, allen Menschen dieser Zeit sattsam bekannten, süßlichen Geruch verwesenden Fleisches, für den es jedoch keine augenscheinliche Quelle gab, der einfach überall präsent war.
In der Stube war niemand. Die Speisekammer wie leergefegt. Die wenigen Möbel lagen wüst im Zimmer durcheinander, teilweise zertrümmert. In einer Ecke stand ein kleines Krautfass, gerade so groß wie ein Eimer. Dem Gewicht nach zu urteilen, war es voll. Sollten die Marodeure tatsächlich etwas übersehen haben? Knoll glaubte, dass es wohl eher verloren gegangen war, im Wirbel der Ereignisse während einer Plünderung. Er nahm das Fass und gab es Magdalena, die er dann mit den Kindern wegschickte. Hier wollte er allein weiter nach dem Rechten sehen. Zu oft hatten die Kinder bereits unfreiwillig Gräulichkeiten mit ansehen müssen. Wenn es nicht sein musste, dann wollte er ihnen das ersparen. Was er in der Scheune dann sah, ließ sogar dem inzwischen hart gesottenen Brauer die Galle hochkommen. Die Frau, zwei Großeltern und drei Kinder hingen nackt und tot an den hölzernen Wänden, die die Ställe voneinander trennten. Die räuberischen Söldner hatten die ganze Familie gekreuzigt, wohl bei lebendigem Leib und sicher nicht, ohne die weiblichen Mitglieder vorher zu schänden. Am Schlimmsten, sofern es noch schlimmer ging, hatte es jedoch den Bauern selbst getroffen. Tot und zuvor grün und blau geschlagen hing er, festgebunden, auf einem hölzernen Bock, der in einer eingetrockneten Blutlache stand. Ein Ladestock einer Muskete, schwarz vom geronnenen Blut, steckte tief in seinem After. Zudem hatte man ihm die Hoden mit einer Zange abgekniffen, die nun blutverschmiert am Boden vor sich hin rostete. Welche Schmerzen musste der arme Mann erduldet haben, bevor man ihn, auf dem Bock liegend, in dieser Position einfach hatte verbluten lassen?
Mäuse und Ratten tummelten sich furchtlos und benagten die bereits verwesenden, stinkenden Körper. Schnell verließ Knoll den Ort des Grauens, nicht ohne die zu verfluchen, die dies angerichtet hatten. Dazu sprach er ein Gebet für die arme Familie. Wie ekelte es ihn vor diesem Krieg! Dann kehrte er mit aschfahlem Gesicht zu seiner Familie zurück und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Gott in diesem Krieg wohl gestorben war.
Sie wurden mit jedem Tag schwächer. Das schon leicht verdorbene Sauerkraut hatte sie ein paar Tage über Wasser gehalten und zumindest verhindert, dass ihnen die Zähne noch weiter ausfielen. Das Wenige, das sie noch hatten, gaben sie den Kindern, besonders den beiden Kleinen. Dem ungeachtet waren alle fünf bald dermaßen schwach, dass sie nichts als Haut und Knochen waren. Mit gelblich schwarz gefärbter Haut, tief in den Höhlen liegenden Augen, fleckigen Zähnen und geschwollenen Bäuchen zogen sie durchs Land, wie so unglaublich viele andere, ziellos wie ein Stück Treibholz in einem stürmischen Meer. Sie waren ihr eigenes, kleines Bettlerheer geworden. Den schon gründlich zu Schaden gekommenen Leiterwagen ließen sie irgendwann einfach stehen. Zu anstrengend war es geworden, ihn zu ziehen. Außerdem hatten sie auch nichts mehr, was sie in den Karren hätten legen können. Die Kleider zerlumpt und rissig, schleppten sie ihre ausgemergelten Körper durch die Lande. An den Füßen trugen sie Stroh, das anfangs noch mit Schnüren festgebunden worden war, mittlerweile jedoch nur noch durch den Matsch der Straße zusammenhielt. Sie aßen Gras und Wurzeln und schabten Rinde von den Bäumen. Wenn sie ein Tier hätten fangen können, sie hätten es auch roh gefressen. Sie kauten auf alten Tierfellen herum, um ihren Mägen vorzugaukeln, sie erhielten Nahrung. Das Elend war unbeschreiblich.
Es war September, als Gisbert an Hunger starb. Sie hatten ihn für so stark gehalten, den beinahe dreizehnjährigen Jungen. Aber anscheinend hatten sie sich zu sehr um die beiden Jüngeren gekümmert, die dennoch ebenfalls kurz vor dem Tod standen. Gisbert war eines Tages einfach umgefallen und nicht mehr aufgestanden. Knoll und Magdalena hatte die Kraft gefehlt, ihn zu tragen, so hatten sie Rast gemacht und versucht, ihm ihren allerletzten Kanten schimmeliges Brot zwischen die Zähne zu zwängen, es war aber bereits zu spät. Ohne zu jammern, ohne Wehklagen hatte Gisbert mit ihnen gelitten. Cord Heinrich Knoll machte sich schreckliche Vorwürfe. Sie waren sogar zu schwach, um ihn zu begraben, sie ließen ihn einfach am Wegesrand liegen, als einen der zahlreichen Körper, die dort vor sich hin verwesten.
Die Wolken hoben sich düster vom schweflig gelben Sonnenuntergangshimmel ab. Kein Luftzug, kein Zweig rührte sich. Alles war still, als habe ein plötzliches Grauen das Leben ringsherum gelähmt, als sie Anfang Oktober 1635 an die südliche Pforte der Stadtmauer einer kleinen Stadt anklopften. Sie wussten alle, dass sie nicht mehr lange zu leben hatten.
»Wer begehrt Einlass? Kommt Ihr aus der Richtung von Wolsfeld?«, fragte eine laute Stimme durch das Gitter der dicken, eisenbeschlagenen Tür. In Wolsfeld, einem kleinen Ort etwa acht Kilometer entfernt, grassierte nämlich gerade die Pest.
»Lasst uns ein, wir sind am Verhungern. Unsere Kinder liegen im Sterben.« Knolls Stimme war bereits merklich schwächer geworden.
»Wir lassen kein Landvolk mehr in die Stadt, wir haben selbst kaum genug zu beißen«, kam als höhnische Erwiderung genau die Antwort zurück, die Knoll befürchtet hatte.
»Wir sind kein Landvolk«, erwiderte er, bevor er mit der letzten, ihm verbliebenen, würdigen Demut betonte: »Ich bin der bürgerliche Brauherr Cord Heinrich Knoll.«
Dann fiel er vor Hunger und Entkräftung einfach um.
7.
Zwei Tage und Nächte lang schlief Knoll durch.
Er merkte nicht, dass ihm zwischendurch heiße Suppe eingeflößt wurde.
Er merkte nicht, wie er ausgezogen, gewaschen und gepflegt wurde.
Er merkte nicht, wie er in seinen Alpträumen sein Leid hinausschrie.
Er schrie von Blutgerichten, geschändeten Frauen und toten Kindern, vom Fegefeuer und Zerstörung, vom Weltende und der ewigen Verdammnis. Als er endlich erwachte, hatte sich seine Familie bereits in Sorge um ihn versammelt. Der Geruch der herzhaften Suppe und des frisch gebackenen Brotes war unbeschreiblich köstlich und erweckte ihn wieder zum Leben. Die Kinder hatten sich erstaunlicherweise am schnellsten erholt, Suppe und Brot wirkten bisweilen wahre Wunder. Auch Magdalena war körperlich ziemlich rasch genesen, obwohl sie die kleine Lisbeth die meiste Zeit mittragen musste. Sie hatte, da sie durch jahrelange Teilnahme am Kriegswesen mit einem robusten Gemüt ausgestattet war, die erlittenen und mit angesehenen Scheußlichkeiten am besten verarbeitet. Außer den ausgefallenen Zähnen war allen Dreien auf den ersten Blick kaum mehr etwas anzusehen.
»Wo bin ich? Wo sind wir?«, waren Knolls erste Fragen.
»Im Hospiz in Bitburg«, antwortete Magdalena. »Weil wir eine Bürgerfamilie sind, haben sie uns Einlass in die Stadt gewährt. Und uns sogleich ins Hospital überwiesen.« Wie zum Zeichen, dass nun alles besser würde, hielt sie ihm einen großen Krug Bier hin, das erste richtige Bier seit langer, langer Zeit. Knoll trank mit Genuss. »Hier ist auch alles knapp. Aber es sind gute Menschen. Und Bier gibt es nur noch für die Schöffen und das Hospiz.«
Beinahe musste er grinsen, obwohl er gerade erst dem Tod von der Schippe gesprungen war. »Das wäre wahrhaftig ein Grund, noch länger hier zu bleiben.«
Nach zehn Tagen bereits verließ die Familie das Hospital. Gestärkt und sogar gebadet, sah man ihnen die erlittenen Strapazen bei genauerem Hinsehen aber doch noch deutlich an. Der Stadtschreiber, ein umständlicher Bürokrat namens Dietrich, wies ihnen vorläufig eines der fünf kleinen Häuser zu, die neu angesiedelten Familien vorbehalten waren. Zuerst gab er beiden Kindern einen Apfel, für Lisbeth Magdalena war es der erste ihres Lebens, aber auch Ulrich hatte keine Erinnerung mehr an frisches Obst. Nach überschwänglichen Dankesbezeugungen gingen sie zum Haus.
Magdalena konnte es genauso wenig fassen wie Knoll und die Kinder: »Ein Steinhaus! Ich habe noch niemals in einem Haus aus Stein gewohnt.« Sprachlos vor Erstaunen öffnete sie die Eingangstür und die mit Ölpapier ›verglasten‹ Fenster immer wieder. Sie hatte große Freude daran, wie ein Kind an einem neuen Spielzeug, an dem es sich nicht satt sehen kann. Auch die Kinder waren beeindruckt, obwohl der kleine Ulrich sich noch dunkel an Türen und die bleigerahmten Butzenscheibenfenster in ihrem Haus in Magdeburg erinnern konnte. Lisbeth Magdalena, auf dem Arm ihrer Mutter, schaute hingerissen durch das Fenster und klopfte mit ihren kleinen Fingerchen dagegen. Noch nie hatte sie so etwas gesehen.
»Wir haben in den letzten Jahren einige Neubürger bei uns angesiedelt«, erklärte der Stadtschreiber. »Und da war die Schatulle der spanischen Habsburger auf einmal weit offen, um hier frisches Blut hineinzubringen.«
Dankbar bezogen sie die bescheidene Behausung, die keinem Vergleich mit Knolls Magdeburger Bürgerhaus standhielt, aber weit besser war als alles, worin sie in den vergangenen vier Jahren gehaust hatten.
Magdalena sagte prophetisch: »Mein halbes Leben lang schon sitzt der Hunger mit am Tisch und der Tod am Bett. Ist das jetzt endlich vorbei?«
War dies der Ort des Neubeginns? Würden sie in Bitburg in Frieden leben können?
Die Stadt Bitburg mit ihren knapp eintausend Einwohnern lag im Luxemburger Land, im äußersten südöstlichen Ausläufer der spanischen Niederlande, und gehörte somit ins Lager der Habsburg-Loyalen und Katholiken. Landesherr war also de facto der Spanier Philipp IV. Das Umland aber, sogar das direkt um die Stadt gelegene, gehörte bereits größtenteils zu dem mächtigen und bedeutenden Kurtrier. Bis vor Kurzem war auch Trier der Allianz der Katholiken zugehörig gewesen. Der derzeitige Kurfürst aber war der bereits achtundsechzig Jahre alte Philipp Christoph von Sötern. Er regierte seit zwölf Jahren, dies jedoch mittlerweile nicht mehr unbedingt im Einverständnis mit den Trierer Bürgern. Von Sötern hatte zu Beginn seiner Regentschaft den gleichen Kurs der Rekatholisierung eingeschlagen wie der Kaiser. Diese Politik, zusammen mit einer offen betriebenen Günstlingswirtschaft und rigiden Steuerauflagen zur Finanzierung seiner Bautätigkeit, hatten nicht nur Widerstand in der Bevölkerung, sondern auch im Domkapitel hervorgerufen. Endloser Zank hatte ihn so schließlich ins Lager der reformierten Kräfte getrieben. Von Söterns gutes Verhältnis zu Frankreich war dann so lange als Neutralität ausgelegt worden, bis mit Kardinal Richelieus Hilfe Frankreich ebenfalls, zuerst passiv, ab 1635 dann aktiv, in den Krieg eingegriffen hatte. Die Bürger Triers hatten den Kaiser in Wien um Hilfe gebeten, der hatte spanische Truppen geschickt, die 1630 Trier erobert hatten. Daraufhin hatte von Sötern 1631 mit Schweden und Frankreich einen Neutralitätspakt abgeschlossen, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, sich ein Jahr darauf Trier von den Franzosen zurückerobern zu lassen. Zum Dank dafür hatte von Sötern dem achtzehn Jahre jüngeren Richelieu seine Nachfolge auf dem Trierer Bischofsstuhl versprochen. Und damit hatte er das Fass zum Überlaufen gebracht! Denn in diesem Fall hätte Armand-Jean du Plessis, Duc de Richelieu, ein französischer Kardinal, tatsächlich Mitsprache- und Mitwahlrecht bei der deutschen Kaiserwahl gehabt; und die verschiedenen Teile des Habsburgerreiches wären mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auseinandergefallen. Nur die Tatsache, dass von Sötern Richelieu um zehn Jahre überlebte, verhinderte Jahre später Schlimmeres.
Und so verliefen bei Trier und Bitburg bei Knolls Ankunft dort gleich mehrere Grenzen: Grenzen der Konfession, der Politik und der militärischen Allianzen, aber alle diese quer durcheinander, hin- und herwechselnd. Zu Verwüstungen und Plünderungen durch die wild gewordene Militärmaschinerie, wie es anderswo geschehen war, war es bislang nicht gekommen, zu sehr hatte die Politik hier noch die Fäden des Geschehens in der Hand. Zum Teil lag das auch an der Geiselnahme von Söterns, der bei der erneuten Eroberung Triers, 1635, durch habsburgische Truppen verhaftet worden war und seither in Linz in Haft saß – diese sollte zehn lange Jahre andauern; in den Augen vieler hatte erst die Festsetzung des Trierer Bischofs den Grund für den Kriegseintritt Frankreichs geliefert. Mit Genehmigung des Kaisers hatte mittlerweile das Domkapitel die Regierung des Trierer Kurfürstentums übernommen. Das war die politische Situation in der Region.
Das größte Ärgernis dort waren jedoch holländische Freibeuter, die, ohne mit dem Krieg wirklich etwas zu tun zu haben, seit dem Abfall der nördlichen Provinzen der Niederlande vom spanischen Habsburg raubend und plündernd durch das Luxemburger Land zogen, und dies bereits seit über vierzig Jahren taten, lange bevor der große Krieg begonnen hatte. Die Bitburger nannten diese Freibeuter die Staatischen. Man versuchte, mit allen Seiten so gut wie möglich auszukommen und ließ sogar Protestanten in die Stadt, wenn keine Gefahr von ihnen ausging. Auch wenn Bitburg keine Insel der Seligen inmitten dieses Krieges darstellte, so hatte die Stadt doch allein dadurch, dass sie bislang nicht geplündert oder erobert worden war, ihren bescheidenen Wohlstand halbwegs aufrechterhalten können. Bei schlechten Ernten mussten alle den Gürtel enger schnallen, aber verhungert war hier – bislang – immerhin noch niemand.
All dies konnte Knoll nicht wissen, als er und Magdalena gemeinsam zum Stadtrichter Erasmus Oetz vorgeladen wurden, der auch Bürgermeister war und, gemeinsam mit den adeligen Schöffen, die Stadt regierte. Nachdem die Neuankömmlinge mithilfe von Spenden der Bürger neu eingekleidet worden waren – Hosen und Hemden aus grobem Leinen sowie ein einfaches Kleid für Magdalena, sogar für hölzerne Pantinen hatte es gereicht –, gingen sie hinüber zu Oetz’ Haus am Kirchplatz. Es glich mit den vielen Anbauten – Tenne, Hof und Stall, einer offenen Feuerstelle nebst Herd sowie einem kräftig vor sich hin dampfenden Misthaufen – eher einem Bauernhof als einem Bürgerhaus, geschweige denn dem Haus des Bürgermeisters. Den Wohlstand, sogar inmitten des Krieges, erkannte man jedoch an den Nahrungsmitteln: Knoblauch, Lauch, Erbsen und Bohnen standen in Schüsseln auf dem großen Tisch in der guten Stube. Ein Stück Käse nebst einem großen Kanten Speck ließ Knoll das Wasser im Mund zusammenlaufen. Es roch nach Wurst und Rindfleischsuppe. Unvergleichlich gut …
Den Stadtrichter trafen sie an, als er gerade mit dem Schöffen, Johann von Esch, vor einem großen gusseisernen Ofen beisammen saß und über die Kriegslage debattierte.
Oetz war klein, untersetzt und trug eine prachtvolle Knollennase im Gesicht. Mit seinem schütteren, weißen Haar sah er so aus, wie sich die Leute den alten griechischen Philosophen Sokrates vorgestellt hätten. Nur mit dem einen Unterschied, dass Sokrates kein prächtiges, gold-grünes Wams mit roter Schärpe und gleich drei goldenen Ketten über dem Bauch getragen hätte. Hinter der gemütlichen Erscheinung mit dem Kugelbauch und dem verschmitzten Lächeln steckte jedoch ein hellwacher Verstand voller Esprit, an dem Knoll in den kommenden Jahren, in denen der Stadtrichter ein guter Freund werden sollte, noch viel Freude haben würde. Oetz war verheiratet mit der ältesten Tochter des Schöffen Laudolfe aus einer der ältesten Adelsfamilien der Stadt. Diese Verbindung hatte ihm den Weg nach ganz oben in der Bitburger Politik geebnet. Er saß auf einem thronähnlichen Stuhl, etwa einen Fuß höher als der kräftig gebaute, hagere Schöffe von Esch, der seine Vollglatze zur Schau stellte und gegenüber dem Stadtrichter in seiner einfachen Alltagskleidung geradezu unscheinbar wirkte. Fast so auffällig wie Eschs fehlende Haarpracht waren seine langen, gelben Zähne, die an die eines Wolfs erinnerten.
»So, Ihr wollt ein Brauherr sein, der halb verhungert bei uns angeklopft hat?« Knoll, der immer noch, wie während ihrer Irrfahrt durch das Kriegsgebiet, vollbärtig und zottelhaarig dastand und Magdalena, die mehr Wert auf ihr Äußeres legte und sich deswegen ein Band ins Haar geflochten hatte, nickten unterwürfig. »Sagt an, welcher Konfession gehört Ihr an?«
»Katholisch natürlich, Herr Stadtrichter«, antwortete Magdalena schnell, bevor Knoll etwas erwidern konnte.
»Nicht dass es für uns noch einen Unterschied machte. Die Staatischen sind auch Katholiken und machen uns das Leben schwerer als alle anderen.« Oetz schien in großmütiger Laune zu sein. Knoll mochte ihn auf Anhieb. Und hatte das Gefühl, als würde dies auf Gegenseitigkeit beruhen. »Wo ist denn Euer Geburtsbrief? Ohne den werdet Ihr ja Euer früheres Heim nicht verlassen haben.«
Knoll wusste nicht, ob sich das Inferno von Magdeburg bis ins Luxemburger Land herumgesprochen hatte, sagte deshalb erst einmal nur: »Ich hatte ein Brauhaus in Magdeburg. Wir sind im Mai 1631 von dort geflohen.« Schrecken und Verständnis in einem zeichnete sich auf den Gesichtern ab.
»Und Ihr habt überlebt? Da könnt Ihr Euch glücklich schätzen, dass Ihr mit dem nackten Leben davongekommen seid!« Damit war die Frage nach seinem Geburtsbrief erledigt, und das ohne eine erneute Glaubensfrage, war doch Magdeburg bekanntermaßen reformiert gewesen.
»Was habt Ihr seither getrieben?« Die nächste Frage kam vom Schöffen Esch. Der stand auf, erst jetzt sah Knoll, dass dieser Oetz um fast zwei Köpfe überragte. Cord Heinrich Knoll erzählte seine Geschichte. Als er von der Kakushöhle sprach, schüttelten die beiden Bitburger Ratsherren erstaunt die Köpfe.
»So wisst Ihr gar nicht, wie der Krieg seither weiterging?«
»Nein, nur dass er noch nicht vorbei ist, das haben wir am eigenen Leib bitter erfahren müssen.«
Der gut informierte Stadtrichter und sein Schöffe erzählten Knoll und Magdalena nun so viel sie von den Ereignissen der letzten drei Jahre wussten; immer wieder unterbrochen von überraschten Zwischenfragen der ehemaligen Höhlenbewohner.
»Dass die Schweden in den Krieg eingetreten sind, habt Ihr noch mitbekommen?«
»Wenn sie früher eingetreten wären, wäre uns und Magdeburg die Zerstörung erspart geblieben«, knurrte Knoll.
»Also, das Schlachtenglück schwankte hin und her. Fortuna hatte niemals einen Liebling in diesem Krieg. Erst siegte Tilly«, bei Nennung des verhassten Generals verfinsterte sich Knolls Gesicht, »vor dreieinhalb Jahren bei Bamberg über die Schweden. Die wiederum belagerten und eroberten Donauwörth. Dann schlugen sie bei Rain am Lech das Heer der Katholischen Liga. Dabei wurde Tilly schwer verwundet.«
»Und, was geschah mit Tilly?«, fragte Knoll.
»Der starb zwei Wochen nach der Schlacht.«
Knolls Miene hellte sich auf.
»Freut Euch nicht zu früh. Noch im gleichen Jahr erlitt der Schwedenkönig bei Nürnberg seine erste Niederlage. Wallensteins Mannen waren zu stark für ihn.«
»Wallenstein? Den hatte der Kaiser doch längst entlassen.« Knoll verstand die Welt nicht mehr.
»Nachdem das Schlachtenglück so schlecht geriet, hat er ihn 1632 wieder eingesetzt«, erwiderte von Esch lakonisch.
»Also, welcher Partei ist denn derzeit die Gunst des Kriegsgottes hold?«
»Das Jahr war ja noch nicht zu Ende. Im November kam es zur großen Schlacht, die fand bei Lützen statt. Im Sachsen-Anhaltinischen kämpften achtzigtausend Soldaten sieben Stunden lang. Und am Ende war der Schwedenkönig tot.«
Knolls Kinnlade fiel herab. König Gustav Adolf war tot?
»Aber auch Pappenheim zog sich eine tödliche Verletzung zu«, ergänzte Oetz. »Er starb am Tag nach der Schlacht.«
»Und wer hat denn jetzt gewonnen?« Knoll wurde ungeduldiger.
»Beide – und niemand!« Oetz schüttelte den Kopf. »Seit Lützen geht alles drunter und drüber. Alle wollen die Schlacht gewonnen haben. Die Schweden hatten plötzlich eine sechsjährige Königin, Gustav Adolfs Tochter Christina. Dennoch kämpft Schweden weiter, deren Reichskanzler Oxenstierna will es so.«