Kitabı oku: «Die Sagen des klassischen Altertums», sayfa 21
Ödipus und Theseus
Die Koloneer hatte große Ehrfurcht vor dem blinden Ödipus erfüllt, der in seiner Verbannung noch so gewaltig erschien; sie rieten ihm, durch ein Trankopfer die Entweihung des Furienhaines zu sühnen. Erst jetzt erfuhren auch die Greise den Namen und die unverschuldete Schuld des Königs Ödipus, und wer weiß, ob das Grauen vor seiner Tat sie nicht aufs neue gegen ihn verhärtet hätte, wenn nicht ihr König Theseus, den die Botschaft herbeigerufen hatte, jetzt eben in ihren Kreis getreten wäre. Dieser ging freundlich und ehrerbietig auf den blinden Fremdling zu und redete ihn mit liebreichen Worten an: »Armer Ödipus, mir ist dein Geschick nicht unbekannt, und schon deine gewaltsam geblendeten Augen sagen mir, wen ich vor mir habe. Dein Unglück rührt mich tief in der Seele. Sage mir, was du bei der Stadt und mir suchest. Die Tat, zu der du meine Beihilfe verlangst, müßte eine schreckliche sein, wenn ich mich von dir abwenden könnte. Ich hab es nicht vergessen, daß auch ich gleich dir in fremden Landen herangewachsen bin und viele Fährlichkeiten ausgestanden habe«. »Ich erkenne deinen Seelenadel in dieser kurzen Rede«, antwortete Ödipus, »ich komme, dir eine Bitte vorzutragen, die eigentlich eine Gabe ist. Ich schenke dir diesen meinen leidensmüden Leib, freilich ein sehr unscheinbares Gut, aber doch ein großes Gut. Du sollst mich begraben und reichen Segen von deiner Mildigkeit ernten!« »Fürwahr«, sagte Theseus erstaunt, »die Gunst, um welche du flehst, ist klein. Verlange etwas Besseres, etwas Höheres, und es soll dir alles von mir gewährt sein«. »Die Gunst ist nicht so leicht, als du glaubst«, fuhr Ödipus fort; »du wirst einen Streit um diesen meinen elenden Leib zu bestehen haben«. Nun erzählte er ihm seine Verjagung und das späte und eigennützige Verlangen seiner Verwandten, ihn wieder zu besitzen; dann bat er ihn flehentlich um seinen Heldenbeistand. Theseus hörte aufmerksam zu und sprach dann feierlich: »Schon weil jedem Gastfreunde mein Haus offensteht, darf ich meine Hand nicht von dir abziehen; wie sollte ich es tun, da du noch dazu mir und meinem Lande soviel Heil versprichst und von der Hand der Götter an meinen Herd geleitet worden bist!« Er ließ dem Ödipus hierauf die Wahl, mit ihm nach Athen zu gehen oder hier in Kolonos als Gast zu bleiben. Dieser wählte das zweite, weil ihm vom Schicksale bestimmt sei, an der Stelle, wo er jetzt eben sich befinde, den Sieg über seine Feinde davonzutragen und sein Leben rühmlich zu beschließen. Der Athenerkönig versprach ihm den kräftigsten Schutz und kehrte in die Stadt zurück.
Ödipus und Kreon
Bald darauf drang der König Kreon von Theben mit Bewaffneten in Kolonos ein und eilte auf Ödipus zu. »Ihr seid von meinem Eintritt ins attische Gebiet überrascht«, sprach er zu den noch immer versammelten Dorfbewohnern gewendet; »doch sorget und zürnet nicht! Ich bin nicht so jung, im Übermute gegen die stärkste Stadt Griechenlands einen Kampf zu unternehmen. Ich bin ein Greis, den seine Mitbürger nur abgesandt haben, diesen Mann hier durch gütliche Überredung zu bewegen, mit mir nach Theben zurückzukehren«. Dann kehrte er sich zu Ödipus und drückte in den ausgesuchtesten Worten eine erheuchelte Teilnahme an seinem und seiner Töchter Elend aus. Aber Ödipus erhob seinen Stab und streckte ihn aus, zum Zeichen, daß Kreon ihm nicht näher kommen sollte. »Schamlosester Betrüger«, rief er, »das fehlte noch zu meiner Pein, daß du kämest und mich gefangen mit dir fortführtest! Hoffe nicht, durch mich deine Stadt von der Züchtigung zu befreien, die ihr bevorsteht. Nicht ich werde zu euch kommen, sondern nur den Dämon der Rache werde ich euch senden, und meine beiden lieblosen Söhne sollen nur so viel von thebanischem Boden besitzen, als sie brauchen, um sterbend darauf zu liegen!« Kreon wollte nun versuchen, den blinden König mit Gewalt hinwegzuführen; aber die Bürger von Kolonos erhoben sich dagegen, stützten sich auf Theseus’ Wort und duldeten es nicht. Inzwischen hatten in dem Getümmel auf einen Wink ihres Herrn die Thebaner Ismene und Antigone ergriffen und von der Seite ihres Vaters weggerissen. Diese schleppten sie fort und trieben den Widerstand der Koloneer ab. Kreon aber sprach höhnend: »Deine Stäbe wenigstens habe ich dir entrissen. Versuch es jetzt, Blinder, und wandre weiter!« Und durch diesen Erfolg kühner gemacht, ging er aufs neue auf Ödipus los und legte schon Hand an ihn, als Theseus, den die Nachricht vom bewaffneten Einfalle in Kolonos zurückgerufen hatte, auftrat. Sobald dieser hörte und sah, was geschehen und noch im Werke sei, entsandte er Diener zu Fuß und zu Rosse auf der Straße hin, auf der die Töchter von den Thebanern als Raub fortgeführt wurden; dem Kreon aber erklärte er, ihn nicht eher freilassen zu wollen, als bis er dem Ödipus die Töchter zurückgegeben. »Sohn des Aigeus«, hub dieser beschämt an, »ich bin wahrlich nicht gekommen, dich und deine Stadt zu bekriegen. Wußte ich doch nicht, daß deine Mitbürger ein solcher Eifer für diesen meinen blinden Verwandten, dem ich Gutes tun wollte, befallen habe, daß sie den Vatermörder, den Gatten seiner Mutter, lieber bei sich hegen würden als ihn in sein Vaterland entlassen!« Theseus befahl ihm zu schweigen, ohne Verzug mit ihm zu gehen und den Aufenthalt der Jungfrauen anzugeben; und in kurzem führte er die geretteten Töchter dem tiefgerührten Ödipus in die Arme. Kreon und die Diener waren abgezogen.
Ödipus und Polyneikes
Aber noch sollte der arme Ödipus keine Ruhe haben. Theseus brachte von dem kurzen Zuge die Nachricht mit, daß ein naher Blutsverwandter desselben, jedoch nicht aus Theben kommend, Kolonos betreten und sich an dem Altar des benachbarten Poseidontempels, wo Theseus eben geopfert hatte, als Schutzflehender niedergelassen habe. »Das ist mein hassenswerter Sohn Polyneikes«, rief Ödipus zürnend aus. »Es wäre mir unerträglich, ihn anhören zu müssen!« Doch Antigone, die diesen Bruder als den sanfteren und besseren liebte, wußte die Zornaufwallung des Vaters zu dämpfen und dem Unglücklichen wenigstens Gehör zu verschaffen. Nachdem sich Ödipus auch gegen diesen den Arm seines Beschützers ausgebeten hatte, falls er ihn mit Gewalt hinwegführen wollte, ließ er den Sohn vor sich.
Polyneikes zeigte schon durch sein Auftreten eine ganz andere Gemütsart als sein Oheim Kreon, und Antigone versäumte nicht, ihren blinden Vater darauf aufmerksam zu machen. »Ich sehe jenen Fremdling«, rief sie, »ohne Begleiter herschreiten! Ihm strömen die Tränen aus den Augen«. »Ist er es?« fragte Ödipus und wendete sein Haupt ab. »Ja, Vater«, erwiderte die gute Schwester, »dein Sohn Polyneikes steht vor dir«. Polyneikes warf sich vor dem Vater nieder und umschlang seine Knie. An ihm hinaufblickend, betrachtete er jammernd seine Bettlerkleidung, seine hohlen Augen, sein ungekämmt in der Luft flatterndes Greisenhaar. »Ach, zu spät erfahre ich alles dieses«, rief er, »ja ich selbst muß es bezeugen, ich habe meines Vaters vergessen! Was wäre er ohne die Fürsorge meiner Schwester! Ich habe mich schwer an dir versündigt, Vater! Kannst du mir nicht vergeben? Du schweigst? Sprich doch etwas, Vater! Zürne nicht so unerbittlich hinweggewandt! O ihr lieben Schwestern, versucht ihr es, den abgekehrten Mund meines Erzeugers zu rühren!« »Sage du selbst zuvor, Bruder, was dich hergeführt hat«, sprach die milde Antigone; »vielleicht öffnet deine Rede auch seine Lippen!« Polyneikes erzählte nun seine Verjagung durch den Bruder, seine Aufnahme beim König Adrastos in Argos, der ihm die Tochter zur Gemahlin gab, und wie er dort sieben Fürsten mit siebenfacher Schar für seine gerechte Sache geworben habe und diese Bundesgenossen das thebanische Gebiet bereits umringt hätten. Dann bat er den Vater unter Tränen, sich mit ihm aufzumachen, und nachdem durch seine Hilfe der übermütige Bruder gestürzt sei, die Krone von Theben aus Sohnes Händen zum zweitenmal zu empfahen. Doch die Reue des Sohnes vermochte den harten Sinn des gekränkten Vaters nicht zu erweichen. »Du Verruchter!« sprach er und hob den Niedergeworfenen nicht vom Boden auf, »als Thron und Zepter noch in deinem Besitze war, hast du den Vater selbst aus der Heimat verstoßen und in dieses Bettlerkleid eingehüllt, das du jetzt an ihm bemitleidest, wo gleiche Not über dich gekommen ist! Du und dein Bruder, ihr seid nicht meine wahren Kinder; hinge es von euch ab, so wäre ich längst tot. Nur durch meine Töchter lebe ich. Auch harrt euer schon der Götter Rache. Du wirst deine Vaterstadt nicht vertilgen; in deinem Blute wirst du liegen, und dein Bruder in dem seinen. Dies ist die Antwort, die du deinen Bundesfürsten bringen magst!« Antigone nahte sich jetzt ihrem Bruder, der bei dem Fluche des Vaters entsetzt vom Boden aufgesprungen und einige Schritte rückwärts gewichen war. »Höre mein inbrünstiges Flehen, Polyneikes«, sprach sie ihn umfassend, »kehre mit deinem Heere nach Argos zurück, bekriege deine Vaterstadt nicht!« »Es ist unmöglich«, erwiderte zögernd der Bruder; »die Flucht brächte mir Schmach, ja Verderben! Und wenn wir Brüder beide zugrunde gehen müssen, dennoch können wir nicht Freunde sein!« So sprach er, wand sich aus der Schwester Armen und stürzte verzweifelnd davon.
So hatte Ödipus den Versuchungen seiner Verwandten nach beiden Seiten hin widerstanden und sie dem Rachegott preisgegeben. Jetzt war sein eigenes Geschick vollendet. Donnerschlag auf Donnerschlag erscholl vom Himmel. Der Greis verstand diese Stimme und verlangte sehnlich nach Theseus. Die ganze Gegend hüllte sich in Gewitterfinsternis. Eine große Angst bemächtigte sich des blinden Königes; er fürchtete, von seinem Gastfreunde nicht mehr lebend oder nicht mehr unverstörten Sinnes getroffen zu werden und ihm den vollen Dank für so viele Wohltaten nicht mehr bezahlen zu können. Endlich erschien Theseus, und nun sprach Ödipus seinen feierlichen Segen über die Stadt Athen. Dann forderte er den König auf, dem Heroldrufe der Götter zu folgen und ihn allein an die Stelle zu begleiten, wo er, von keiner sterblichen Hand berührt und nur vom Auge des Theseus geschaut, enden sollte. Keinem Menschen dürfe er sagen, wo Ödipus die Erde verlassen. Bleibe das heilige Grab, das ihn verschlingen würde, verborgen, so werde es mehr als Speer und Schild und alle Bundesgenossen eine Schutzwehr gegen alle Feinde Athens sein. Seinen Töchtern und den Bewohnern von Kolonos erlaubte er dann, ihn eine Strecke weit zu begleiten, und so vertiefte sich der ganze Zug in die schauerlichen Schatten des Furienhaines. Keines durfte an Ödipus rühren; er, der Blinde, bisher von der Tochter Hand geleitet, schien auf einmal ein Sehender geworden, ging wunderbar gestärkt und aufgerichtet allen andern voran und zeigte ihnen den Weg zu dem vom Schicksal ihm bestimmten Ziele.
Mitten in dem Haine der Erinnyen sah man einen geborstenen Erdschlund, dessen Öffnung mit einer ehernen Schwelle versehen war und zu welchem mehrere Kreuzwege führten. Von dieser Höhle ging von uralter Zeit her die Sage, daß sie einer der Eingänge in die Unterwelt sei. Jener Kreuzwege einen betrat nun Ödipus, doch ließ er sich von dem Gefolge nicht bis zu der Grotte selbst begleiten, sondern unter einem hohlen Baume machte er halt, setzte sich auf einen Stein nieder und löste den Gürtel seines schmutzigen Bettlerkleides. Dann rief er nach einer Spende fließenden Wassers, wusch sich von aller Unreinigkeit der langen Wanderung und zog ein schmuckes Gewand an, das ihm durch seine Töchter aus einer nahen Wohnung herbeigebracht wurde. Als er nun völlig umgekleidet und wie erneuert dastand, tönte unterirdischer Donner vom Boden herauf. Bebend warfen sich die Jungfrauen, die bisher um ihren Vater bemüht gewesen waren, in seinen Schoß; Ödipus aber schlang seinen Arm um sie, küßte sie und sprach: »Kinder, lebet wohl, von diesem Tag an habt ihr keinen Vater mehr!« Aus dieser Umarmung weckte sie eine donnergleiche Stimme, von der man nicht wußte, ob sie vom Himmel herab- oder aus der Unterwelt herauftönte: »Was säumest du, Ödipus? Was zögern wir zu gehen?« Als der blinde König die Stimme vernahm und wußte, daß der Gott ihn abfordere, machte er sich aus den Armen seiner Kinder los, rief den König Theseus zu sich und legte seiner Töchter Hände in die Hand desselben, zum Zeichen seiner Verpflichtung, sie nimmermehr zu lassen. Dann befahl er allen andern, umgewendet sich zu entfernen. Nur Theseus an seiner Seite durfte auf die offene Schwelle mit ihm zuschreiten. Seine Töchter und das Gefolge waren dem Winke gefolgt und schauten sich erst um, als sie eine gute Strecke rückwärtsgegangen waren. Da hatte sich ein großes Wunder ereignet. Von dem Könige Ödipus war keine Spur mehr zu erblicken. Kein Blitz war zu sehen, kein Donner zu hören, kein Wirbelwind zu spüren; die tiefste Stille herrschte in der Luft. Die dunkle Schwelle der Unterwelt schien sich sanft und lautlos für ihn aufgetan zu haben, und durch den Erdspalt war der entsündigte Greis ohne Stöhnen und Pein sachte wie auf Geisterflügeln zur Tiefe hinabgetragen worden. Den Theseus aber erblickten sie allein, mit der Hand die Augen sich überschattend, als hätte er ein göttliches, überwältigendes Gesicht gehabt. Dann sahen sie, wie er, die Hände hoch gen Himmel gehoben, zu den Olympiern, und wieder, demütig auf den Boden niedergeworfen, zu den Göttern der Unterwelt flehte. Nach kurzem Gebete kehrte der König zu den Jungfrauen zurück, versicherte sie seines väterlichen Schutzes und schritt mit ihnen, in heiliges Schweigen versunken, nach Athen zurück.
Sechstes Buch
Die Sieben gegen Theben
Polyneikes und Tydeus bei Adrast
Adrastos, der Sohn des Talaos, König von Argos, hatte fünf Kinder, darunter zwei schöne Töchter, Argia und Deïpyle. Über diese war ihm ein seltsamer Orakelspruch geworden: er werde dieselben dereinst einem Löwen und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens besann sich der König, welchen Sinn dieses dunkle Wort haben könnte, und als die Mägdlein herangewachsen waren, gedachte er sie so zu vermählen, daß die ängstliche Wahrsagung auf keine Weise erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort sollte nicht zuschanden werden. Von zweierlei Seiten kamen zwei Flüchtlinge durch Argos’ Tore. Aus Theben war Polyneikes von seinem Bruder Eteokles verjagt worden; Tydeus, des Öneus Sohn, war aus Kalydon geflohen, wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht absichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen sich vor dem Königspalaste von Argos. In der Dunkelheit der Nacht hielten sie sich für Feinde und gerieten miteinander ins Handgemenge. Adrastos hörte das Waffengetümmel unter seiner Burg, stieg bei Fackelschein von ihr herab und trennte die Streitenden. Als ihm nun zur Rechten und zur Linken je einer der Helden stand, die noch eben miteinander gekämpft hatten, so erstaunte der König wie vor einem plötzlichen Gesichte, denn von dem Schilde des Polyneikes blickte ihm ein Löwenhaupt, von dem des Tydeus starrte ihm ein Eberkopf entgegen. Der erstere trug solches Abzeichen auf dem Schilde zu Ehren des Herakles, der andere hatte sich das Wappen zum Andenken an die Jagd des Kalydonischen Ebers und Meleagers gewählt. Adrastos sah jetzt die Deutung jenes dunkeln Orakelwortes vor sich, und aus den Flüchtlingen wurden ihm Schwiegersöhne.
Polyneikes erhielt die Hand der älteren Tochter, Argia; die jüngere Tochter, Deïpyle, wurde dem Tydeus zuteil. Beiden gab er zugleich das Versprechen, sie in ihre väterlichen Reiche, aus denen sie vertrieben waren, wieder einzuführen.
Zuerst wurde der Feldzug gegen Theben beschlossen, und Adrastos sammelte seine Helden, sieben Fürsten, ihn selbst einbegriffen, mit sieben Scharen um sich. Ihre Namen waren Adratos, Polyneikes, Tydeus; Amphiaraos und Kapaneus, der erste der Schwestergemahl Adrasts, der andere ein Schwestersohn; endlich seine zwei Brüder, Hippomedon und Parthenopaios. Aber Amphiaraos, der Schwager des Königs, der früher lange sein Feind gewesen, war ein Prophet, und als solcher sah er den unglückseligen Ausgang des ganzen Feldzuges voraus. Nachdem er nun sich vergebens bemüht hatte, den Adrastos und die übrigen Helden von ihrem Vorhaben abwendig zu machen, suchte er einen Schlupfwinkel auf, den nur seine Gemahlin, Eriphyle, die Schwester des Königes, kannte, und verbarg sich dort aufs sorgfältigste. Lange suchten ihn die Helden vergebens, und ohne ihn, den er das Auge seines Heeres zu nennen pflegte, wagte Adrast den Feldzug nicht zu unternehmen. Nun hatte Polyneikes, als er aus Theben flüchtig werden mußte, das Halsband und den Schleier mitgenommen, die unglückbringenden Geschenke, die einst Aphrodite der Harmonia zu ihrem Beilager mit Kadmos, dem Gründer Thebens, verehrt hatte und die jedem, der sie trug, das Verderben brachten. Diese Gaben hatten auch wirklich schon der Harmonia selbst, der Semele, der Mutter des Bakchos, und der Iokaste den Untergang gebracht. Zuletzt hatte sie Argia, die Gemahlin des Polyneikes, die auch unglücklich werden sollte, besessen, und jetzt beschloß ihr Gemahl, mit einem derselben, dem Halsbande, die Eriphyle zu bestechen, daß sie ihm und seinen Kampfgenossen den Aufenthalt ihres Gatten verriete. Als das Weib, das längst die Nichte um den herrlichen Schmuck, den ihr der Fremdling zugebracht, beneidet hatte, die funkelnden Edelsteine und Goldspangen an dem Halsbande sah, konnte sie der Lockung nicht widerstehen, hieß den Polyneikes folgen und zog den Amphiaraos aus seiner Zufluchtsstätte hervor. Jetzt konnte dieser der Anschließung an den Feldzug um so weniger entgehen, als er schon früher, da er sich mit dem Adrastos ausgesöhnt und von ihm die Schwester zur Ehe erhalten hatte, das Versprechen gegeben, bei jeder künftigen Streitigkeit mit dem Schwager die Entscheidung seiner Gattin zu überlassen. Er tat seine Rüstung an und sammelte seine Krieger. Bevor er jedoch auszog, rief er seinen Sohn Alkmaion zu sich und verpflichtete diesen mit einem heiligen Schwure, ihn nach seinem Tode, sobald derselbe kundbar würde, an der treulosen Mutter zu rächen.
Auszug der Helden, Hypsipyle und Opheltes
Auch die übrigen Helden rüsteten sich, und bald hatte Adrastos ein gewaltiges Heer um sich versammelt, das, in sieben Heerhaufen abgeteilt und von sieben Helden befehligt, unter dem Schalle der Zinken und Trompeten jauchzend und voll Hoffnung die Stadt Argos verließ. Aber schon auf dem Wege stellte sich das Unglück ein. Sie waren in den Wald von Nemea gelangt, wo alle Quellen, Flüsse und Seen ausgetrocknet waren und des Tages Hitze mit brennendem Durste sie quälte. Panzer und Schilde wurden ihnen zu schwer; der Staub, der sich von dem Zug auf der Straße erhob, setzte sich ihnen auf den dürren Gaumen, selbst ihren Rossen trocknete der Schaum von dem Maule hinweg, und sie bissen knirschend mit trockenen Nüstern in den Zaum. Während nun Adrastos nebst einigen Kriegern vom Heere vergebens nach Quellen die Waldungen durchirrte, stießen sie auf einmal auf ein trauerndes Weib von seltener Schöne, das einen Knaben an der Brust, mit wallenden Haaren und in ärmlicher Kleidung, doch mit königlicher Miene, unter dem Schatten eines Baumes saß. Der überraschte König glaubte nicht anders, als eine Nymphe des Waldes vor sich zu sehen, warf sich vor ihr auf ein Knie und flehte sie für sich und die Seinigen um Rettung aus der Not an, mit welcher der Durst sie bedrohe. Aber die Frau antwortete mit gesenktem Auge und demütiger Stimme: »Fremdling, ich bin keine Göttin; du magst, wie dein herrliches Aussehen mich vermuten läßt, von Göttern stammen; wenn an mir etwas Übermenschliches, so muß es nur mein Leiden sein, denn ich habe mehr geduldet, als sonst Sterblichen zu leiden auferlegt wird. Ich bin Hypsipyle, einst die gefeierte Königin der Frauen auf Lemnos, die Tochter des herrlichen Thoas, jetzt, nach unnennbarem Jammer von Seeräubern entführt und verkauft, die gefangene Sklavin des Königs Lykurgos von Nemea. Der Knabe, den ich säuge, ist nicht mein eigenes Kind; er ist Opheltes, der Sohn meines Herrn, und ich bin ihm zur Wärterin bestellt. Aber was ihr von mir begehret, will ich euch gerne verschaffen. Noch eine einzige Quelle sprudelt in dieser trostlosen Einöde, und ihren geheimen Zugang kennt niemand als ich. Sie ist ergiebig genug, euer ganzes Heer zu erquicken. Folget mir!« Die Frau stand auf, legte den Säugling sorglich ins Gras und lullte ihn mit einem Wiegenliede in den Schlaf. Die Helden riefen ihren Genossen, und nun drängte sich das ganze Heer Hypspyles Tritten nach auf geheimen Pfaden, die durchs dichteste Waldgebüsch führten. Bald gelangten sie zu einer felsigen Talschlucht, aus welcher kühler Wasserstaub empordrang und die erhitzten Angesichter der vordersten Krieger, die der Führerin und ihrem König vorangeeilt waren, mit leichtem Schaum erfrischte. Zugleich rauschte das Murmeln eines starken Wasserfalles an ihr Ohr. »Wasser!« so tönte der Freudenruf aus dem Munde der Vorangedrungenen, die mit einigen Sprüngen schon unten in der Schlucht und mitten auf dem bespülten Felsgesteine standen und die Strahlen des herabfließenden Quelles mit den Helmen auffaßten. »Wasser, Wasser!« wiederholte das ganze Heer, und der Jubelruf übertönte den Wasserfall und hallte von den Bergen wider, welche die Schlucht umgaben. Nun warfen sich alle am grünenden Ufer des weithin sich schlängelnden Baches nieder und genossen mit tiefen Zügen die langentbehrte Lust. Bald fand man auch für Wagen und Rosse Pfade, die durch den Wald bequem in die Tiefe hinabführten; und die Wagenlenker fuhren, ohne die Rosse auszuspannen, mitten in die wallende Flut hinein, da, wo der Bach sich zu ebenem Laufe ausbreitete, und ließen die Rosse, die ihren Leib in den Wellen kühlten, unausgeschirrt den langen Durst stillen.
Alles war erquickt, und die gute Führerin Hypsipyle, die Taten und Leiden der Frauen von Lemnos erzählend, führte den Adrastos und seine Helden, denen jetzt das Heer in ehrerbietiger Entfernung folgte, auf die breitere Straße zurück, dahin, wo sie selbst kurz vorher mit ihrem Pflegekind unter dem gewölbten Baume erblickt worden war. Aber ehe sie jener Stelle noch ansichtig wurden, erschreckte die feinhörende Pflegerin aus der Ferne ein klägliches Kindeswimmern, das ihre Begleiter kaum vernahmen, sie selbst aber sogleich als die Stimme ihres kleinen Opheltes erkannte. Hypsipyle war selbst die Mutter großer und kleiner Kinder, die sie, von den Räubern entführt, in Lemnos hatte zurücklassen müssen. Nun hatte sie ihre ganze Mutterliebe auf diesen Säugling übertragen, dem sie als Sklavin beigegeben war. Eine bange Ahnung durchzuckte ihr zärtliches Herz. Sie flog den Helden voraus und dem wohlbekannten Platze zu, wo sie mit dem Kind an der Brust zu ruhen pflegte. Aber ach, der Kleine war verschwunden, und ihre irrenden Augen fanden keine Spur von ihm, und sie vernahm auch die Stimme nicht mehr. Als sie ihre Blicke in weiterem Kreise umhersandte, ward ihr bald das entsetzliche Schicksal klar, das ihr Pflegekind getroffen hatte, während sie dem Heere der Argiver den frommen Liebesdienst leistete. Denn nicht weit von dem Baume lag eine gräßliche Schlange geringelt, ihren Kopf auf den schwellenden Bauch zurückgelegt, in träger Ruhe das eben abgehaltene Mahl verdauend. Der unseligen Pflegemutter sträubte sich das Haar, und ihr Jammerschrei erfüllte die Lüfte. Auf dieses waren auch die Helden herbeigeeilt; der erste, der den Drachen erblickte, war Hippomedon; ohne zu säumen, riß er ein Felsstück aus dem Boden und schleuderte es auf das Ungestüm; aber sein gepanzerter Rücken schüttelte den Wurf ab, als wäre es eine Handvoll Erde; da sandte Hippomedon seinem ersten Wurfe den Speer nach, und dieser verfehlte sein Ziel nicht; er fuhr der Schlange in den Rachen, durchs hervorspritzende Gehirn, und die Spitze drang heraus zum Kamme. Das Untier drehte sich wie ein Kreisel mit dem langvorragenden Speer in der Wunde und hauchte endlich zischend seinen Atem aus.
Als die Schlange erlegt war, getraute sich erst die arme Pflegemutter der Spur ihres Kindes nachzugehen, sie fand weithin die Gräser vom Blute gerötet und endlich fernab von dem Ort ihrer Ruhe das nackte Gebein des Kindleins. Die Verzweifelnde sammelte es in ihren Schoß und übergab es den Helden, die mit ihrem ganzen Heere dem unglücklichen Knaben, der ihnen zum Opfer gefallen war, nachdem sie seine Überreste feierlich bestattet, herrliche Leichenspiele bereiteten, ihm zu Ehren die Nemeischen heiligen Kämpfe stifteten und ihn unter dem Namen Archemoros, das heißt der Frühvollendete, zuerst als Halbgott verehrten.
Hypsipyle entging der Wut nicht, in welche die Mutter des Kindes, Lykurgs Gemahlin, Eurydike, der Verlust ihres Sohnes versetzte. Sie wurde von ihr in ein grausames Gefängnis geworfen, und der fürchterlichste Tod war ihr geschworen. Das Glück wollte, daß die verlassenen ältesten Söhne Hypsipyles ihrer Mutter schon auf der Spur waren und nicht lange nach dieser Begebenheit in Nemea eintrafen, wo sie die gefangene Mutter befreiten.