Kitabı oku: «So weit wie möglich weg von hier», sayfa 2
Überraschend war für mich die Tatsache, dass niemand von den Überlebenden es ablehnte, mit mir, der Deutschen, zu reden. Das lag, wie ich schnell herausfand, auch an meinem Alter. Auf die Frage, ob sie denn keine Berührungsängste mit Deutschen hätten, sagten mir einige von ihnen unverblümt, dass sie ein Gespräch mit Menschen ihrer Generation durchaus schwierig fänden. Da schliche sich dann dauernd die Frage in den Hinterkopf, was der Gesprächspartner denn während des Krieges gemacht hätte. Mit den Nachgeborenen jedoch hätten sie kein Problem – im Gegenteil, sie freuten sich ja, wenn sie in das Museum kämen und Interesse für das Thema hätten.
Die zweite Überraschung war, dass die meisten der Überlebenden keinen Hass auf die Deutschen zu haben scheinen. Oft wird ihnen von Schülern, die das Museum besuchen, genau diese Frage gestellt: Hassen Sie die Deutschen? Und immer beantworten sie die Frage – mit dem Hinweis, dass Hass nur einen Nährboden für weiteren Hass bildet – mit „nein“.
Zuweilen hatte ich das Gefühl, dass es mir meine Gesprächspartner leicht machen wollten – dass sie mir nicht immer alles erzählten, dass sie die schrecklichsten Details ausließen und dass sie bewusst eine Episode über „den guten Deutschen“ einstreuten. Der allerdings hilft auch ihnen, den Glauben an die Menschheit nicht komplett zu verlieren.
Wie verarbeiten diese Menschen das, was sie gesehen und erlebt haben? Wie verarbeiten sie die Demütigungen, die ihren Familien, ihren Freunden und Bekannten angetan wurden, die Ausgrenzung und die Verfolgung? Wie verarbeiten sie die jahrelange Angst – im Versteck oder unter dem Deckmantel einer falschen Identität? Wie verarbeiten sie die Trennung von ihren Liebsten und Freunden, den Verlust von Eltern, Geschwistern, Großeltern, Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen?
Die Antwort ist: gar nicht. In den Jahren nach dem Krieg hatten die Emigranten die Geister der Vergangenheit möglicherweise im Griff, denn sie waren damit beschäftigt, Geld zu verdienen, eine Familie zu gründen, ein Zuhause zu schaffen, Kinder großzuziehen. Nun, im Alter – die Kinder sind aus dem Haus, der Ehepartner ist womöglich gestorben – kehren die Geister zurück. Einige der Überlebenden haben angefangen, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, andere modellieren, zeichnen oder bildhauern, andere wiederum reden als Zeitzeugen vor Schülern. Das beherrschende Thema bei allem ist immer der Holocaust. Die selbst verordnete Therapie hilft mal mehr, mal weniger. Sarah hatte „nur“ dreißig Jahre lang jede Nacht Albträume, Sabina (deren Geschichte keinen Eingang in das Buch gefunden hat, weil sie nicht reden möchte) hat die Albträume bis heute. Zsuzsi denkt jeden Tag an ihre ermordete Mutter und wird den Gedanken nicht los, dass sie im eisigen Wasser der Donau nach ihr hätte suchen müssen. Phillip quält sich mit der Frage nach dem „Warum?“, „Warum ausgerechnet die zivilisierten Deutschen?“, Sala hat bis heute Verfolgungsängste und kann nur bruchstückhaft über das Erlebte sprechen. Die meisten nehmen Antidepressiva.
Auch die Familie wirkt wie ein Antidepressivum. Die Kinder haben häufig die Träume der Eltern wahrgemacht: Viele von ihnen haben studiert, sind Lehrer, Ärzte, Architekten geworden. Inzwischen sind es die Enkel und Urenkel, auf die man stolz ist. „Unsere Kinder und Enkel sind unser Sieg über Hitler“, sagt Stephanie Heller.
Warum arbeiten viele der Überlebenden auch noch im hohen Alter im Museum? Nur für wenige ist es eine Art Therapie, denn den meisten fällt es nach wie vor schwer, über die Vergangenheit zu reden. Sie machen es vielmehr, weil sie es als Verpflichtung empfinden: als Verpflichtung gegenüber ihren ermordeten Familienangehörigen und Freunden, als Verpflichtung gegenüber allen ermordeten Juden. Ganz nebenbei ist das Museum dabei für viele zu einer zweiten Heimat geworden, zu einer Art Ersatzfamilie. Oft hörte ich Polnisch, wenn die alten Damen und Herren beim Lunch oder beim Kaffee saßen.
Ich habe Freunde, die mir sagen, dass sie nichts über den Holocaust lesen können, weil sie dann den Glauben an die Menschheit verlören. Dem Argument kann ich mich nicht völlig verschließen – auch ich hatte Phasen völliger Verstörtheit während meiner Interviews und Recherchen. Wenn wir jedoch versuchen, den Fokus beim Lesen nicht auf die Täter und deren Grausamkeiten, sondern vielmehr auf die Menschen zu richten, die zu Hilfe kamen, und – auch zwischen den Zeilen – erkennen, dass es Handlungsmöglichkeiten, Alternativen und zivilen Ungehorsam gab, dann ändert das die Perspektive. Wie sagte Kitia Altman, die Auschwitz überlebt hat, am Ende unseres Interviews doch sehr überraschend: „Eigentlich ist meine Lebensgeschichte doch eine Geschichte von tiefer Menschlichkeit.“
Kapitel 1
Die Verfolgung der Juden im Deutschen Reich: Von Dresden nach Theresienstadt
Fünf Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 unterzeichnete Adolf Hitler die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes“, ein Gesetz, das die Versammlungs- und Pressefreiheit in Deutschland umfassend einschränkte. Ende Februar 1933 wurde die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ verabschiedet, die wesentliche Bürgerrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft setzte und die juristische Grundlage für willkürliche Verhaftungen politischer Gegner bot. Kurz darauf begann eine Verfolgungswelle, die mit der Inhaftierung von Tausenden Kommunisten, Sozialdemokraten und deren Sympathisanten im Ende März 1933 errichteten Konzentrationslager Dachau endete. In schneller Folge wurden nun neue Lager im gesamten Deutschen Reich errichtet. Zu den größten, die bis 1939 gebaut wurden, gehörten Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und, nach dem „Anschluss“ Österreichs, Mauthausen. Am Ende des Krieges sollte es im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten, inklusive aller Außenlager, über 1.000 Konzentrationslager geben.
Schriftsteller, Künstler, Politiker, Intellektuelle – sofern sie nicht zu den Inhaftierten gehörten – verließen fluchtartig das Land, unter ihnen, um nur einige zu nennen, Leute wie Thomas Mann, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Arnold Schönberg, Kurt Weill, Herbert Marcuse, Albert Einstein, Erich Ollenhauer und Willy Brandt.
Am 24. März verabschiedete der Reichstag das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das die Regierung ermächtigte, eigenständig und ohne Zustimmung des Parlamentes Gesetze zu erlassen, die – so hieß es ausdrücklich – auch von der Verfassung abweichen durften. Es war das wohl bekannteste Ermächtigungsgesetz in der deutschen Geschichte, das die Grundlage für die nationalsozialistische Diktatur schuf. Die KPD war bereits zerschlagen, im Mai wurden die Gewerkschaften aufgelöst, im Juni wurde die SPD verboten, im Juli wurden auch die restlichen Parteien zur Auflösung gezwungen. Es gab nun nur noch eine einzige politische Partei: die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, kurz: NSDAP.
In den ersten Monaten der Nazi-Herrschaft waren also nicht die halbe Million in Deutschland lebenden Juden das Ziel von Übergriffen. Das änderte sich jedoch rasch: Am 1. April organisierte die NSDAP einen landesweiten Boykott gegen jüdische Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltskanzleien, der mit Plünderungen und wüsten Ausschreitungen einherging. Dies war der Auftakt für die nun folgende systematische Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten. Am 7. April wurde das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen, das die Gleichschaltung des öffentlichen Dienstes zum Ziel hatte. Oppositionelle Beamte wurden entlassen, Beamte nicht arischer Abstammung in den Ruhestand versetzt. Eine zusätzliche Verordnung erläuterte: „Als nicht arisch gilt, wer von nichtarischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist.“
Mit diesem sogenannten „Arierparagraph“ wurde die erste formaljuristische Grundlage für die Entrechtung der Juden geschaffen. Schlag auf Schlag folgten nun Gesetze, die jüdischen Rechtsanwälten und Ärzten die Zulassungen entzog, die die Anzahl jüdischer Schüler und Studenten an deutschen Schulen und Universitäten auf ein Minimum begrenzten, die jüdische Bürger aus allen kulturellen Berufen ausschlossen und Zeitungsherausgeber mit Berufsverbot belegten, die Juden verboten, einen Bauernhof zu besitzen oder Landwirtschaft zu betreiben, und sie von allen Turn- und Sportvereinen ausschlossen. In einer Kampagne „Wider den undeutschen Geist“ verbrannten am 10. Mai 1933 Studenten in zweiundzwanzig deutschen Universitätsstädten in einer öffentlichen, ritualistischen Inszenierung Bücher von missliebigen linken, pazifistischen und jüdischen Schriftstellern.
Auf dem Nürnberger Reichsparteitag am 15. September 1935 verkündete Adolf Hitler die Nürnberger Rassengesetze, die den Rassenwahn der Nationalsozialisten juristisch untermauerten. Es handelte sich um das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (auch „Blutschutzgesetz“ genannt) sowie das „Reichsbürgergesetz“.
Das „Blutschutzgesetz“ stellte die Ehe sowie außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Ariern und Nichtariern unter Strafe. Verstöße gegen das Gesetz wurden als „Rassenschande“ geahndet und mit schweren Gefängnis- oder Zuchthausstrafen bestraft. In weiteren Gesetzeskommentaren wurde genauestens ausgeführt, wer Volljude (mindestens drei jüdische Großeltern) und wer „Mischling“ war und welche Rechte Volljuden, Halb-, Viertel- und Achteljuden im Einzelnen hatten. Halbjuden wurde es beispielsweise verboten, Nichtjuden oder „Vierteljuden“ zu heiraten. Der Personenkreis, der zwecks „Reinerhaltung der deutschen Rasse“ nicht geheiratet werden durfte, wurde von Juden auf „Zigeuner, Neger und ihre Bastarde“ ausgeweitet.
Das Gesetz bot fruchtbaren Boden für Denunziationen, häufig handelte es sich um falsche Anschuldigungen, auf die sich die Gestapo stützte. Die Definition für Geschlechtsverkehr wurde sehr breit ausgelegt, und in der Folge wurden mehr als 2.000 Bürger zu Zuchthausstrafen verurteilt. Obwohl Frauen per Gesetz straffrei blieben, da sie zwangsläufig für die Überführung gebraucht wurden, handelte die Gestapo oft eigenmächtig und überstellte weibliche „Rasseschänder“, jedenfalls wenn es sich um Jüdinnen handelte, an Konzentrationslager.
Das Reichsbürgergesetz schuf den Status des „Reichsbürgers“ für Arier, verbunden mit allen bürgerlichen Rechten. Juden dagegen wurden zu „Staatsbürgern“ erklärt und verloren als solche die vollen Rechte als gleichberechtigte Bürger. Damit war die Grundlage für die weitere Ausgrenzung und Entrechtung der Juden geschaffen. Diverse Zusatzverordnungen hoben die Zulassungen für jüdische Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Rechtsanwälte und Notare auf. Jüdische Gewerbebetriebe und jüdisches Vermögen wurden meldepflichtig, jüdische Kinder wurden ab November 1938 vom Besuch staatlicher Schulen ausgeschlossen, Kulturstätten, öffentliche Plätze, Badeanstalten konnten gesperrt werden, der Zugang zu Bibliotheken wurde verboten, der Führerschein von Staatsbürgern eingezogen. Die antijüdische Wirtschaftskampagne gipfelte in den von der NSDAP organisierten Pogromen am 9. und 10. November 1938, in deren Verlauf Tausende von jüdischen Geschäften, Wohnungen und Friedhöfen verwüstet, Hunderte von Synagogen in Brand gesteckt, etwa einhundert Menschen getötet und 30.000 jüdische Männer in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verbracht wurden. Am 12. November wurde die Einstellung sämtlicher jüdischer Geschäftstätigkeit verordnet, die „Arisierung“ der noch verbliebenen jüdischen Betriebe begann: Alle im Reich lebenden Juden wurden gezwungen, ihre Unternehmen zu verkaufen. Jüdischer Grundbesitz, Aktien, Juwelen und Kunstwerke mussten veräußert werden. Arbeitslose Juden wurden zu Zwangsarbeit verpflichtet, Juden durften „entmietet“ und in sogenannten „Judenhäusern“ untergebracht werden.
Ab 1. September 1941 wurde im Großdeutschen Reich – also dem „Altreich“, der „Ostmark“, dem Sudetenland, Böhmen, dem Memelgebiet, Danzig und Westpreußen, Schlesien, Elsass-Lothringen und Deutsch-Belgien – die Pflicht für alle Juden ab dem sechsten Lebensjahr eingeführt, einen gelben Judenstern sichtbar an der Kleidung zu tragen. Ab Oktober war Juden die Auswanderung aus dem Deutschen Reich verboten. Das war genau der Zeitpunkt, an dem die Deportationen von deutschen, österreichischen und tschechischen Juden begannen. Die Transporte gingen zunächst von Wien, Prag, Berlin und Frankfurt, später von Breslau, Hamburg, Köln, Düsseldorf, Dortmund, München, Stuttgart, Nürnberg, Hannover und Dresden ab. Sie führten in die Ghettos von Łódź, Minsk, Kaunas und Riga in den von den Deutschen besetzten Gebieten in Polen und in der Sowjetunion. Massenermordungen von Juden in den Ostgebieten waren zu dieser Zeit bereits in vollem Gange. Bis zum Januar 1942 wurden knapp 50.000 Juden aus dem Deutschen Reich deportiert, Tausende wurden sofort nach der Ankunft erschossen. Bis zum Ende des Krieges wurden weitere 123.000 deutsche Juden deportiert. Etwa 315.000 deutschen Juden gelang die Ausreise oder die Flucht, zwischen 10.000 und 15.000 gingen in die Illegalität. Schätzungen zufolge überlebten 6.000 Juden in den Lagern, und 5.000 im Untergrund.
Im November 1941 ließ Reinhard Heydrich in seiner Eigenschaft als Stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren die etwa 70 Kilometer nordöstlich von Prag gelegene Festung Theresienstadt – auf Tschechisch: Terezin – zu einem Konzentrationslager umfunktionieren. Die festungsartige Anlage mit Gefängnisanlagen, Baracken und hohen Schutzwällen schien ideal für die Zwecke der Nazis: Sie siedelten die dort wohnenden tschechischen Einwohner um und richteten – zunächst für die 88.000 tschechischen Juden aus Böhmen und Mähren – ein Sammel- und Durchgangslager ein. Die Deportationen der tschechischen Frauen, Männer und Kinder nach Theresienstadt begannen noch im November. Bereits zwei Monate später erfolgte der erste Weitertransport der Häftlinge in den Osten.
Im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“ auf der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 erklärte der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes Reinhard Heydrich, dass unter der Federführung der SS nunmehr die Deportationen aller europäischen Juden nach Osteuropa stattfinden würden: Man rechnete mit elf Millionen. Um „die vielen Interventionen“ auszuschalten, so laut Protokoll, sollten alle Juden über 65, schwerkriegsbeschädigte Juden und Juden mit Kriegsauszeichnungen aus dem ersten Weltkrieg nicht „evakuiert“, sondern in das „Altersghetto“ Theresienstadt „überstellt“ werden.
Im Sommer 1942 begannen die Transporte der deutschen Juden nach Theresienstadt – unter ihnen auch viele einstige Prominente aus Wirtschaft, Politik und Kultur. Noch vor der Deportation wurden die Juden bedrängt, sogenannte „Heimeinkaufsverträge“ abzuschließen, in denen ihnen eine lebenslange kostenfreie Unterbringung, Verpflegung und Krankenversorgung in einem Altersheim zugesichert wurde: ein letzter infamer Betrug an den Juden, durch den sich die Nazis auch noch deren restliches Vermögen einverleibten.
Weil das Lager Theresienstadt unter jüdische Selbstverwaltung gestellt wurde und sich die Inhaftierten relativ frei bewegen konnten, wurde Theresienstadt oft auch als Ghetto bezeichnet. Die Lebensbedingungen unterschieden sich jedoch nicht wesentlich von denen in einem Konzentrationslager. Statt eines altersgerechten Domizils fanden die Ankömmlinge überfüllte, verlauste und verwanzte Unterkünfte mit katastrophalen sanitären Anlagen vor. Die Essensrationen waren völlig unzureichend. Diejenigen, die noch arbeitsfähig waren, wurden zu schwerer Zwangsarbeit eingeteilt. Der von der SS installierte Ältestenrat beschloss, Kindern und Arbeitenden größere Essensrationen als Alten und Kranken zu geben. In der Folge verhungerten die alten und nicht arbeitsfähigen Häftlinge – das waren im Wesentlichen die deutschen und österreichischen Juden. Krankheiten und Seuchen taten ihr Übriges. Allein im Jahr 1942 starben knapp 16.000 Menschen – die Hälfte der dort lebenden Juden. Aufgrund der hohen Sterbeziffer war die SS gezwungen, ein Krematorium zu bauen.
Während ein steter Strom von neuen Häftlingen nach Theresienstadt kam, gingen permanent Transporte mit Juden in den Osten ab: in die Ghettos von Warschau, Łódź, Riga und Bialystok oder direkt in die Vernichtungslager von Auschwitz, Majdanek und Treblinka.
Trotz der miserablen Lebensbedingungen und der ständigen Angst vor dem nächsten Transport, trotz – oder vielleicht auch wegen – aller Hoffnungslosigkeit entfaltete sich ein reges kulturelles Leben im Ghetto: Lehrer unterrichteten Kinder; Wissenschaftler, Philosophen und Soziologen hielten Vorträge; Schriftsteller gaben Lesungen; Schauspieler organisierten Theater- und Kabarettabende; Musiker gaben Konzerte. Opern wurden inszeniert, eine Kinderoper wurde komponiert und mehr als 50-mal aufgeführt. Die Aufführungen wurden trotz widrigster Umstände geprobt und gespielt: Immer wieder wurden mitspielende Künstler deportiert und mussten durch neue ersetzt werden.
Nachdem im Oktober 1943 ein Transport mit dänischen Juden nach Theresienstadt gekommen war und die dänische Regierung daraufhin Druck auf die deutsche Regierung machte, beschlossen die Nazis, einer Besichtigung des Lagers durch eine Kommission des Internationalen Roten Kreuzes zuzustimmen. Natürlich beabsichtigten sie, die Kommission gründlich zu täuschen und putzten Theresienstadt zu einem Musterghetto heraus: Fassaden wurden gestrichen, Läden hergerichtet mit gefüllten Schaufenstern, ein Café und ein Kindergarten wurden eröffnet, ein Musikpavillon wurde errichtet, Bänke wurden aufgestellt und Blumen gepflanzt, und sogar Geld wurde gedruckt. Um die Häftlingsdichte im überfüllten Lager zudezimieren, gingen im Vorfeld des Besuchs weitere Transporte nach Auschwitz ab.
Die Vertreter des Roten Kreuzes kamen am 23. Juni 1944. Sie waren beeindruckt, sahen sich die Kinderoper „Brundibár“ von dem tschechisch-deutschen Komponisten Hans Krása an und schrieben einen ausgesprochen positiven Abschlussbericht. Um nun auch die gesamte Weltöffentlichkeit zu täuschen, ließen die Nazis nach dem Besuch des Roten Kreuzes einen Propagandafilm in Theresienstadt drehen – von dem Häftling Kurt Gerron, einem namhaften deutsch-jüdischen Schauspieler, bekannt aus Filmen wie „Der blaue Engel“ oder „Die Drei von der Tankstelle“. Nach Beendigung des Films wurde Gerron nach Auschwitz deportiert – ebenso wie Hans Krása und andere namhafte Künstler und Prominente.
Im letzten Kriegsmonat wurden noch etwa 15.000 Häftlinge aus aufgelösten Konzentrationslagern nach Theresienstadt transportiert – aus Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald. Sie kamen völlig entkräftet und ausgemergelt an, viele lagen bereits tot in den Viehwaggons. Die Neuzugänge schleppten Typhus ein. Daran starben – kurz vor der Befreiung – noch viele Menschen im Lager.
Bis zum Ende des Krieges wurden etwa 140.000 Menschen nach Theresienstadt deportiert – 75.000 Tschechen, 42.000 Deutsche, 15.000 Österreicher, 5.000 Niederländer, 1.000 Polen, 1.150 Ungarn und 500 Dänen. 35.000 von ihnen starben in Theresienstadt, 88.000 wurden deportiert, 19.000 waren bei der Befreiung des Lagers am Leben. Nur wenige der 15.000 Kinder überlebten – über 90 Prozent von ihnen endeten in den Vernichtungslagern. Von den deportierten Häftlingen überlebten etwa 3.000.
Am 5. Mai übergaben die Nazis Theresienstadt an das Rote Kreuz, am 8. Mai befreite die Rote Armee das Lager. Der letzte Häftling verließ Theresienstadt am 17. August 1945.
Irma (Irmgard) Hanner
Die Stimme am Telefon hatte eine vertraute Diktion. Die Dame sprach Englisch, aber irgendwie klang es doch sehr deutsch – nicht unfreundlich, sondern härter und energischer als die englische Sprache. Irma war am Telefon – ich hatte sie angerufen, um einen Termin mit ihr auszumachen. Irma war, nach über 60 Jahren in der Emigration in Australien, unverkennbar eine Deutsche. Sie lud mich sofort zu einem Gespräch zu sich nach Hause ein, und als ich kam, standen frisch gebackene Plätzchen auf dem Tisch. „Die wollen meine Enkel immer essen“, erklärte sie und forderte mich auf, sie zu probieren. Später gab sie mir dann das Rezept.
Irma im Holocaust Museum Melbourne, 2010
Irma antwortete offen auf alle meine Fragen, oft wechselten wir vom Englischen ins Deutsche und wieder zurück.
Es ist eine schwierige Biografie. Mit neun Jahren verlor Irmgard ihre Mutter, mit zwölf Jahren wurde sie aus dem Schlaf heraus verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Das Mädchen war zu jung, um zu begreifen, was vor sich ging, fand sie sich doch, unvorbereitet und unbeschützt von Erwachsenen, in einer Welt voller Angst, Entsetzen und Grausamkeit wieder. Als eines von wenigen Kindern hat Irma den Holocaust überlebt. Rein äußerlich hat sie ihr Leben gut gemeistert. Ihr Mann ist leider viel zu früh gestorben, aber sie lebt in einem schönen Haus, und die Söhne und Enkelkinder sind oft bei ihr. Wie es in Irmas Inneren aussieht, ist schwer zu sagen. Noch heute hat sie Schwierigkeiten, über ihre Mutter zu sprechen. „Wenn ich das einmal in der Woche vor Besuchern im Museum mache, dann reicht das“, sagt sie.
Dann und wann backe ich die Plätzchen – ich habe sie Irma-Plätzchen genannt. Sie sind lecker und sehr schnell zu machen. Man nimmt 125 g Butter, 150 g Zucker, ein Päckchen Vanillezucker, ein Ei und ein Eigelb, 285 g Mehl, ein halbes Päckchen Backpulver und eine halbe Tasse gemahlene Nüsse, macht von allen Zutaten einen Teig, rollt ihn aus, formt Plätzchen und bäckt sie in 10 Minuten goldgelb – fertig.
Irmas Geschichte
Irmgard wird 1930 in Dresden in die alteingesessene deutsch-jüdische Familie Conradi hineingeboren. Der Vater stirbt früh, Irmgard ist das einzige Kind, und die Mutter Rosa arbeitet als Hausmädchen, um sich und die kleine Tochter durchzubringen. Die beiden wohnen in der Bautzner Straße – in einem Haus, das der Jüdischen Gemeinde gehört.
Irma mit ihrer Mutter und Großmutter
„Meinen Vater habe ich leider nie gekannt, und mein Großvater ist auch schon gestorben, bevor ich überhaupt geboren war. Er ist 1925 bei einem Autounfall verunglückt – stellen Sie sich das mal vor: ein Autounfall in dieser Zeit. Da gab’s ja noch gar nicht viele Autos! Er ist abends spät von der Arbeit nach Hause gekommen und wurde von einem betrunkenen Fahrer überfahren. Meine arme Großmutter musste dann ihre drei Kinder alleine großziehen. An meine Großmutter erinnere ich mich gut, obwohl ich erst fünf Jahre alt war, als sie starb. Ich habe immer noch ihre Kinderreime im Kopf, die sie mir erzählte oder vorsang, oder andere Weisheiten, die sie mir mit auf den Weg gab, zum Beispiel: ‚Geben ist seliger als nehmen.‘
Meine Mutter und ich haben viel Zeit mit meiner Tante Lotti und meinem Onkel Max verbracht – das waren ihre beiden jüngeren Geschwister. Ich habe sie beide sehr gemocht.“
Hochzeitsfoto von Lotte Conradi und Walter Hempel, Dresden 1933
1933, im gleichen Jahr, in dem Hitler an die Macht kommt, heiratet Irmgards Tante Lotte den Nichtjuden Walter Hempel – ein Umstand, der für Irmgard bald lebenswichtig werden soll. Hempels Mutter ist nicht sonderlich glücklich über die Verbindung ihres Sohnes mit einer Jüdin. Ihr zweiter Sohn macht es besser: Er tritt in die SS ein.
„Walter Hempel wurde später zu meiner Rettungsleine, weil er eben nicht jüdisch war und zu meiner Tante und zu mir hielt. Onkel Walter war Musiker – er spielte die Posaune in einem Tanzorchester. Er reiste viel mit dem Orchester, und meine Tante reiste mit ihm. Tante Lotti war ein Modemodell, sie war sehr hübsch und auch intelligent, und beide lebten in einem tollen Apartment. Für mich waren sie immer richtige Leute von Welt.“
Die Jüdische Gemeinde Dresden hat zu dieser Zeit etwa 4.700 Mitglieder. Die Conradis gehen zuweilen in die Synagoge und feiern die jüdischen Feiertage, aber sie sind assimilierte deutsche Juden.
„Ich erinnere mich, dass ich in den deutschen Kindergarten ging und auch mit den Nachbarskindern spielte, die nicht jüdisch waren. Später dann ging ich in die jüdische Schule. An meinem ersten Schultag bekam ich eine Zuckertüte: eine große bunte Tüte aus Pappe, gefüllt mit Süßigkeiten und Schokolade. Ist das heute immer noch ein Brauch in Deutschland – eine Zuckertüte am ersten Schultag? Na ja, das war schön, aber leider hat mir die Tüte kein Glück gebracht, denn alles in allem habe ich nur vier Jahre Schule in meinem ganzen Leben gehabt, mehr nicht.“
Irmgard geht deshalb in die jüdische Schule, weil es 1937 schon extrem schwierig war, als jüdisches Kind in einer staatlichen deutschen Schule eingeschult zu werden. Im November 1938 werden alle jüdischen Schüler, die zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch staatliche Schulen besuchen, von den Schulen gewiesen. Die Reichsvereinigung der Juden ist von nun an für die Schulbildung aller jüdischen Kinder und Jugendlichen zuständig. Irmgards Schule befindet sich direkt neben der Dresdner Synagoge – ein Bauwerk, das nach den Plänen des berühmten Architekten Gottfried Semper gebaut und 1840 eröffnet worden war.
Während Irmgard eingeschult wird, läuft die Judenverfolgung im Deutschen Reich auf Hochtouren. Nach und nach wird den Juden die Lebensgrundlage entzogen. Die Nationalsozialisten versuchen alles, um sie zum Auswandern zu bewegen. Zwischen 1933 und 1937 emigrieren etwa 130.000 deutsche Juden. Im Oktober 1938 nimmt die Polizei 17.000 im Deutschen Reich lebende polnische Juden fest, transportiert sie an die polnische Grenze und treibt sie mit Hilfe von SS und Gestapo über die Grenze.
„Ich hatte eine ganze Menge Mitschüler in meiner Klasse, die polnischer Abstammung waren. Die waren plötzlich alle weg. Aber auch die anderen in meiner Klasse – fast jeden Tag fehlten Schüler, wir wurden immer weniger, das war gespenstisch. Mich hat das sehr beschäftigt und auch verängstigt, ich konnte mich gar nicht mehr konzentrieren in der Schule. Ich erinnere mich, dass ich das Wort ‚Gestapo‘ aufschnappte und meinen Lehrer fragte, was das heißt.“
Am 9. November orchestrieren die Nazis ein gewalttätiges Pogrom gegen die Juden im gesamten Deutschen Reich und in Österreich. Auch in Dresden klirren Fensterscheiben, Geschäfte werden verwüstet, jüdische Bürger tätlich angegriffen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November werden unter anderem die Synagoge und zwei Kaufhäuser in Brand gesteckt.
„Die wunderschöne Synagoge ist komplett abgebrannt – die Feuerwehr hatte ausdrücklichen Befehl, das Feuer nicht zu löschen. Meine Schule, die ja gleich neben der Synagoge war, ist bei der Gelegenheit natürlich auch schwer beschädigt worden. Es hat fünf oder sechs Monate gedauert, bis sie repariert war und wir wieder in die Schule gehen konnten – bis dahin war die Schule geschlossen.“
Am 12. November werden die rauchenden Ruinen der Synagoge gesprengt. Der Oberbürgermeister von Dresden verkündet, dass damit „das Symbol des Erzfeindes endgültig vernichtet“ worden sei. „Da war dann nur noch ein Berg von Schutt und Geröll neben der Schule, der uns an die Synagoge erinnerte.“
Während der Novemberpogrome werden 151 jüdische Bürger Dresdens verhaftet, darunter der gesamte jüdische Gemeindevorstand. Die meisten Opfer werden in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar verbracht, einige in das KZ Sachsenhausen bei Berlin.
„Meinen Onkel Max haben sie auch festgenommen – sie haben die Wohnung nach angeblichen Waffen durchsucht und völlig verwüstet und ihn dann mitgenommen. Unter der Bedingung, Deutschland zu verlassen, wurde er dann nach einiger Zeit freigelassen.“
Der Auflage, das Deutsche Reich zu verlassen, ist unterdessen nicht mehr leicht nachzukommen, die deutschen Behörden machen es zunehmend schwerer: Die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ ist extrem hoch, Wertpapiere und Bankvermögen können nur gegen hohe Abschläge ins Ausland transferiert, Devisen müssen zu einem irrwitzigen Umtauschkurs gekauft werden. Die auswanderungswilligen Juden werden vor der Ausreise praktisch ihres gesamten Besitzes beraubt. Mittellose Juden aber sind in Zuwanderungsstaaten nicht willkommen und haben es schwer, ein Visum zu erhalten – ein Teufelskreis.
„Ich weiß nicht wie, aber Onkel Max ist von einer jüdischen Organisation nach England geschmuggelt worden. Dort hat er dann sechs Jahre in der britischen Armee gedient. Nach dem Krieg ist er nach Australien ausgewandert.“
Irmgard verliert nun auch eine ihrer besten Freundinnen.
„Irgendwann in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre verließ meine Freundin Lydia Dresden. Die Familie emigrierte nach Argentinien. Niemand verstand das damals – ein Land, das so weit weg war. Ich war sehr traurig. Aber irgendwann haben wir dann natürlich begriffen, dass Lydias Familie die richtige Entscheidung getroffen hatte.“
Während die Freundin im fernen Argentinien in Sicherheit ist, sieht Irmgards Zukunft düster aus. Ab Juli 1938 werden alle jüdischen Läden in Dresden kenntlich gemacht – sie müssen von nun an ein Schild „Jüdisches Geschäft“ im Schaufenster haben. Das Königsufer, die Elbuferzone in der Mitte der Stadt, darf von den jüdischen Bürgern Dresdens nicht mehr betreten werden, ebenso wenig wie andere Parks der Stadt. Der Oberbürgermeister von Dresden kündigt allen Juden, die in städtischen Wohnungen wohnen, den Mietvertrag. Private Hausbesitzer folgen dem Beispiel des Oberbürgermeisters. Dresdens Juden werden obdachlos, und erst nachdem die Reichsvertretung der Juden protestiert, werden sogenannte „Judenhäuser“ eingerichtet. Im November 1939 existieren 37 Judenhäuser in Dresden – die lokalen Nazi-Größen in Sachsen beginnen viel eher mit der „Entmietung“ ihrer jüdischen Mitbürger als die Nazis in anderen Städten des Deutschen Reiches.