Kitabı oku: «Der eiserne Gustav», sayfa 4

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13

Der alte Hackendahl hatte es sich mit seinen sechsundfünfzig Jahren nie nehmen lassen, Tag für Tag, Sommer und Winter, bei Schnee und Sonnenschein, noch selbst auf den Bock seiner Droschke zu steigen. Freilich, jeden Beliebigen fuhr er nicht, das hatte er nicht nötig. Aber die Stammkundschaft fuhr er, die Herren, die sich Tag für Tag nur vom alten Hackendahl auf ihr Büro, in ihre Bank, zum Ordinationszimmer fahren lassen wollten.

»Denn so wie Sie, fährt eben doch keiner, Hackendahl! Immer pünktlich auf die Minute, und dann im schlanken Trabe durch, und dabei kein Gejachter mit Peitschengeknall und Gejohle, und vor allem nie Streit mit diesen neumodischen Automobilen!«

»I wo denn, Herr Kammergerichtsrat! Zu was denn Streit? Mit solchen Benzinstinkern mache ich mich nicht gemein, Herr Kammergerichtsrat! Das sind doch alles bloß Todeskandidaten, und in zehn Jahren weiß kein Mensch mehr was von ihren Töfftöffs. Da ist die Mode vorbei. Die jagen, Herr Kammergerichtsrat, aber bloß, daß sie schneller in die Grube jagen ...«

So sprach Hackendahl mit seiner Stammkundschaft, und wie er sprach, so dachte er auch. Wenn er die Autos nicht ausstehen konnte, so nur, weil sie ihm seine guten Pferde nervös machten mit ihrer Huperei und Stinkerei und Raserei ... Sein braver Schimmel konnte ganz von Sinnen werden über die klapprigen Blechdinger, das Gebiß zwischen die Zähne nehmen und ab – in voller Karriere und Bauch auf die Erde. Und das liebte nun wieder Hackendahls Alte-Herren-Fahrkundschaft nicht.

Als Hackendahl an diesem Vormittag in die Bendlerstraße kam und bei der Villa des Geheimen Sanitätsrats Buchbinder vorfuhr, war er darum auch gar nicht erfreut, daß da solch Automobil vor der Türe stand. Der Schimmel stutzte. Und bockte und wollte gar nicht heran an den Kantstein: Hackendahl mußte wahrhaftig runter vom Bock und den Zossen beim Kopf nehmen.

Der neben seinem Wagen wartende Chauffeur grinste natürlich höhnisch. »Na, wat is'n mit deinem Hafermotor, Jenosse?« fragte er. »Hat wohl Fehlzündung? Soll ick ihm ein bißken mit'm Schraubenschlüssel den Auspuff regulieren?«

Natürlich antwortete Hackendahl auf solche Anpflaumerei kein Wort. Er stieg wieder auf den Bock, nahm die Zügel schulgerecht in die eine, die Peitsche in die andere Hand, wobei er den Peitschenknauf aufs Knie stützte, und sah nun ganz so vornehm hochherrschaftlich aus wie sein Kollege aus dem Kaiserlichen Marstall.

Der Chauffeur beäugte ihn kritisch. »Fein«, sagte er dann. »Fein mit Ei. Noch zehn Jahre, Jenosse, und se holen dir mit Bürjermeister und weißer Ehrenjungfrau als letzte Pferdedroschke erster Jüte durchs Brandenburger Tor ein. Und denn stopfen se dir aus und stellen dir ins Märkische Museum, nee, in de Naturjeschichte in der Invalidenstraße – da stellen se dir gleich neben den jroßen Menschenaffen aus'm Urwald ...«

Der langsam über dieser echt berlinischen Pöbelei blaurot anlaufende Hackendahl hätte nun doch wohl sehr kräftig seine Meinung über Menschenaffen gesagt, aber aus der Villa kam der Geheime Sanitätsrat Buchbinder, mit einem jungen Mann. Vorschriftsmäßig, die Augen stramm geradeaus gerichtet, tippte Hackendahl mit der Peitsche zum Gruß gegen seinen Lackzylinder. Der Chauffeur natürlich lümmelte sich nur langsam an seine Wagentür und sagte bloß: »Mojen!«

»Guten Morgen, Hackendahl!« rief der Geheimrat vergnügt. »Hören Sie, Hackendahl, das hier ist mein Sohn, auch schon Mediziner, und der will nun ...«

»Weiß ich doch, Herr Geheimrat!« sagte Hackendahl vorwurfsvoll. »Habe ich doch gleich gesehen. Ich habe doch den Herrn Sohn Ostern sieben zum Anhalter gefahren, zum Münchener Schnellzug, sechs Uhr elf, wissen Sie nicht noch, junger Herr ...?«

»Richtig!« rief der Sanitätsrat. »Ja, mein Hackendahl, der hat noch ein Gedächtnis! – Aber, Hackendahl, nun ist mein Sohn ein Mann geworden, nun will er nicht mehr mit Ihnen fahren. Ein Auto hat er sich gekauft (von meinem Gelde, Hackendahl!) ... und nun will er nur noch Auto fahren ...«

»Er wird's schon bleibenlassen, Herr Geheimrat«, sagte Hackendahl und sah mißgünstig Auto und frech grinsenden Chauffeur an. »Wenn er erst mal gegen einen Baum gefahren ist oder ein paar Menschen unglücklich gemacht hat, dann wird er's schon bleibenlassen!«

»Also, Papa«, sagte der junge Mann ungeduldig und ignorierte das subalterne Kutschergeschwätz vollkommen, »steig ein, und in vier Minuten hältst du vor deiner Charité.«

»Ja, mein Junge, das sagst du so. Aber ich muß in einer halben Stunde operieren, und wenn ich dann Herzklopfen von eurer Raserei habe, oder meine Hand zittert ...«

»Papa! Mein Ehrenwort! Du fährst wie in einer Wiege, du merkst überhaupt nichts von Schnelligkeit. Wenn chirurgisch etwas Neues aufkommt, versuchst du es doch auch ...«

»Ich weiß nicht«, sagte der alte Herr bedenklich. »Was meinen Sie, Hackendahl?«

»Wie der Herr Geheimrat befehlen«, sagte Hackendahl förmlich. »Aber wenn ich etwas sagen darf, in acht Minuten sind Sie auch mit mir in der Charité – und bei mir passiert nichts, bei mir ist noch nie was passiert!«

»Ja, Papa, wenn du dich freilich über Autos von deinem Droschkenkutscher beraten lassen willst ...«

Viel Kummer und Ärger hatte der alte Hackendahl an diesem Morgen schlucken müssen, aber Droschkenkutscher, das war ihm doch fast zuviel. Gottlob sagte auch gleich der Geheimrat: »Du weißt gut, mein lieber Junge, daß Hackendahl kein Droschkenkutscher ist. Und nun will ich dir etwas sagen: Ich werde mit Hackendahl fahren, und du wirst mit deinem Automobil fahren, ganz ruhig nebenher, und ich werde mir vom sicheren Port dein Schifflein anschauen, und ist es mir nicht zu stürmisch, dann darfst du mich von der Charité nach Haus fahren.«

Geheimer Sanitätsrat Buchbinder hatte milde, aber entschlossen gesprochen. Der Sohn antwortete etwas ärgerlich: »Wie du meinst, Papa«, und wandte sich zu seinem Auto.

Der alte Herr aber stieg in Hackendahls Droschke, legte die leichte Staubdecke über die Knie, rückte behaglich zurecht und sagte: »Also, dann fahren Sie langsam los, Hackendahl. Er wird uns ja mit seinen zwanzig oder vierzig Pferdekräften doch gleich einholen!«

Es war gut, daß Hackendahl solche Weisung bekam; der Schimmel war schon längst empört gewesen über das Schreckgespenst, das direkt vor ihm hielt. Gerade hatte der Chauffeur angefangen, an der Kurbel zu drehen, aus dem Auspuffrohr unter des Schimmels Nase kamen kleine, dicke, stinkende, blaue Wölkchen ...

»Sachte, Hackendahl, sachte!« schrie der Geheimrat, den es fast vom Sitz geschleudert hatte. »Fahren Sie langsam! – Sie sollen langsam fahren, Hackendahl, ich will keine Wettfahrt ...!«

Hackendahl wollte auch keine, es war nur schade, daß man dies dem Schimmel nicht begreiflich machen konnte. Das aufgeregte Tier raste die Bendlerstraße im Galopp hinunter, bog so scharf in die Tiergartenstraße ein, daß die Räder gegen die Bordkante schrammten, und ging nun, ein wenig ruhiger, aber immer noch ins Gebiß schäumend, an den grünen Rasenflächen entlang.

»Ich glaube, Sie sind des Teufels, Hackendahl!« stöhnte der Geheimrat von hinten.

»Das ist der Schimmel«, rief Hackendahl. »Der haßt Automobile.«

»Ich dachte, Sie führen nur sanfte Tiere?«

»Tu ich auch, Herr Geheimrat! Aber wenn solch ein Ding ihm direkt in die Nase stinkt und knallt!«

»Also immer langsam, keinesfalls eine Wettfahrt«, befahl der Geheimrat.

Gottlob war keine Aussicht auf Wettfahrten. Hackendahl fuhr schon um den Rolandsbrunnen, er sah sich vorsichtig um: Von dem Automobil war keine Spur zu sehen.

Kriegt den Kasten natürlich nicht in Gang! frohlockte Hackendahl bei sich. Der Geheimrat soll schon sehen, was zuverlässiger ist, ein anständiges Pferd oder solche Maschine, die immer gerade dann streikt, wenn sie am nötigsten gebraucht wird! Und er grinste, da er an den kurbelnden Chauffeur dachte.

In gutem Trab fuhren sie die Siegesallee entlang, freundlich standen die weißen Puppen im Grünen, viele sommerlich gekleidete Menschen waren unterwegs.

»Menge Leute unterwegs!« rief der Geheimrat.

»Das macht das gute Wetter«, antwortete Hackendahl.

»Und die Aufregung! Haben Sie auch schon von dem Mord in Serajevo gelesen, Hackendahl?«

»Jawohl, Herr Geheimrat. Glauben Sie, daß es Krieg gibt?«

»Krieg – wegen der Serben? Nie, Hackendahl! Sie sollen mal sehen, wie die kuschen! Wegen so was gibt es doch keinen Krieg!«

Noch in weiter Ferne tönte die Autohupe. Hackendahl hörte es, der Schimmel hatte es auch gehört, er spitzte kriegerisch die Ohren.

Hackendahl nahm die Zügel fester. »Ich glaube, da kommt Ihr Herr Sohn, Herr Geheimrat!« rief er nach hinten.

»Hat er also doch noch seinen Kasten in Gang gekriegt. Aber keine Wettfahrerei, wenn ich bitten darf, Hackendahl!«

Näher und näher tönte die Hupe, fast ununterbrochen klang ihr Schrei, Warnung und Alarm für alle Pferdeherzen. Für den Schimmel war es nur Alarm, er trabte straffer, warf den Kopf ungeduldig von rechts nach links, von unten nach oben ...

Direkt hinter ihm ging der Gummiball: tut, tut, langsam schob sich der grüne Kasten neben die Droschke, erreichte den Kutschersitz, die Hinterhand des Pferdes, den Kopf ...

Der Schimmel machte einen Satz in der Schere, dann schien die Droschke einen Augenblick stillzustehen, und nun raste der Gaul los ...

»Sie sollen nicht ...«, klang von hinten die Stimme des Geheimrates.

Das Automobil hielt sich genau neben dem Pferde, knatternd, hupend und stinkend. Obwohl Hackendahl immer nur starr geradeaus sah, immer über die Ohren des Pferdes weg, die Zügel fest in der Hand, nach allen Hindernissen ausspähend – trotzdem meinte Hackendahl das höhnische Gesicht des Chauffeurs zu sehen, dieses Verbrechers, der ihn »Genosse« angeredet hatte und der ihn ausstopfen lassen wollte! Kein Zeichen von Schwäche sollte dieser Bursche sehen – weiter, und dem Schimmel würde es schon leid werden!

Schon war die Siegessäule glücklich umrundet, da zeigte sich eine neue Gefahr in der Gestalt eines pickelhelmigen Schutzmannes. Die wilde Jagd, das galoppierende Pferd hatten seinen Unwillen erregt, in der einen Hand ein dickes Notizbuch, die andere hoch erhoben, trat er auf die Fahrbahn, Einhalt gebietend solch verkehrswidrigem Tun.

Er hatte gut gebieten, Hackendahl gehorchte jeder Obrigkeit, der Schimmel gehorchte nur dem Instinkt der Pferde, er raste weiter.

Der Schutzmann machte einen ganz unmilitärischen Schrecksatz zurück – und alles war vorüber. Weiterrasend wußte Hackendahl, er wurde aufgeschrieben, er bekam eine Strafe – er war vorbestraft!

Mit einem verzweifelten Ruck riß er den Kopf des Pferdes nach rechts in die stille Hindersinstraße, das überlistete Automobil schoß geradeaus weiter, der Schimmel machte noch zehn, fünfzehn Galoppsprünge, fiel in Trab, in Schritt ...

Hackendahl merkte, daß ihn der Geheimrat von hinten am Arm riß. »Sie sollen anhalten, Kerl! Verstehen Sie nicht?!« schrie der Alte, kirschrot vor Wut.

Hackendahl hielt an.

»Verzeihen Sie, Herr Geheimrat«, rief er aus. »Der Schimmel ist mir durchgegangen. Das Automobil hat ihn wild gemacht, der Chauffeur hat das mit Absicht getan!«

»Wettraserei!« sagte der alte Herr noch immer zitternd. »Alte Leute, und Wettfahrten!« Er stieg aus, mit zitternden Knien. »Wir sind das letzte Mal zusammen gefahren, Hackendahl. Schicken Sie mir Ihre Rechnung. Schämen sollten Sie sich!«

»Aber ich kann nicht dafür! Nicht das frömmste Pferd hielte das aus!«

Ein Hupenschrei erscholl. Von vorn kam das Automobil, das triumphierende Scheusal aus Lack und Eisen, das den Häuserblock umrundet hatte. Der abgekämpfte Schimmel stand mit hängendem Kopf, er rührte sich nicht, selbst als das Auto neben ihm hielt.

»Sie sagen, das Pferd!« rief der Geheimrat. »Aber das Pferd steht doch! Nein, Sie haben um die Wette rasen wollen, Hackendahl, nur Sie ...«

Hackendahl sagte nichts mehr, mit trübem Blick, mit gesenktem Kopf sah er den Geheimrat zu dem lächelnden Sohn in das Auto steigen. Schwer war zu tragen, was alles Gott einem rechtlichen Manne auferlegte!

14

Eine halbe Stunde lang hatte Frau Hackendahl mit Stemmeisen, Hammer und Zange an dem Vorlegeschloß zur Kellertür gearbeitet, sie hatte die Krampe krumm geschlagen, den Bügel verbogen, sich die Finger verletzt – aber das Schloß hatte sie nicht aufbekommen.

Nun saß sie erschöpft und verzweifelt auf einer Treppenstufe; in der Ferne, durch zwei Türen hindurch, meinte sie, den gefangenen Sohn rufen zu hören. Aber er rief umsonst, sie konnte nicht zu ihm. Wenn sie sich vorstellte, daß sie um ein nutzlos verdorbenes Schloß den schwersten Sturm bei ihrem Manne heraufbeschworen hatte, so erfaßte sie eine immer stärkere Verzweiflung.

So wie hier war es ihr in ihrem ganzen Leben ergangen: keine schlechten Vorsätze, nicht einmal weniger Mut als jeder andere, aber es gelang ihr nichts. Ihre Ehe war ihr nicht gelungen, ihre Kinder waren nicht so geworden, wie sie erhofft hatte, sie hatte das Schloß nicht aufbekommen.

Sie warf einen Blick auf dieses ekelhafte Eisenschloß. Jawohl, man hätte einen Schlosser holen können, aber man zeigte einem Fremden nicht die Schmach im eigenen Hause. Sie hätte auf den Hof gehen und an der Kellerluke horchen können – aber an allen Fenstern konnten Nachbarn sitzen und lachen, es ging wiederum nicht. Das Leben war so zugebaut, man konnte dem eigenen Mann nicht sagen, was einem zum Überdruß an ihm mißfiel. Und wenn man es ihm sagte, so hörte er nicht, und wenn er hörte, so änderte er sich nicht. Das Leben war so ausweglos, immer dasselbe, es war nicht zu ertragen, keinesfalls, und man ertrug es doch!

Man wurde dick und alt dabei, das Essen schmeckte meistens – und dann war da das Blödeste von allem, diese kleine unsinnige Hoffnung im Herzen, es könnte doch noch einmal anders werden. In diesem alten, verbrauchten, überquellenden Körper saß noch genau dieselbe Hoffnung wie in dem jungen Mädchen. Nie, nicht ein einziges, klimperkleines Mal hatte sie sich erfüllt, aber sie war da, hartnäckiger als je, sie flüsterte: Wenn du das Schloß aufbekommst und Erich frei ist, wird vielleicht doch noch alles anders!

Idiotisch – aber es war so. Es war nur dies alberne Schloß zwischen ihr und einem anderen, besseren Leben, wie es immer nur eine ganze Kleinigkeit gewesen war, die sie nicht zum Genuß ihres Daseins hatte kommen lassen. Das war das Allerschlimmste: Es waren stets nur Kleinigkeiten gewesen, niemals eine große Tragödie.

Auch ihrem Erich war kein anderes Los gefallen, über ein paar Mark sollte er zu einem halben Verbrecher und heimatlos werden, um eine Kleinigkeit. Das Leben war so erschreckend eng, es geschah rein gar nichts, wenn ein Mädel in der Nachbarschaft ein Kind kriegte, so sprach man viele Jahre davon. Kleine Leute, kleine Schicksale – sie hatte einen ungeheuer aufgeschwemmten Leib, aber der Kern in ihr, das, was sie selbst war, das war noch genau so groß wie damals, als sie eine ganz junge Auguste gewesen war, der war nicht mit gewachsen.

Sie sitzt da auf ihrer Kellertreppe, sie sieht das Schloß an, und dann schaut sie in ihren Schoß. Sie weiß, sie bekommt das Schloß nicht auf, und sie weiß, der Erich wird vielleicht darum unglücklich, vielleicht hängt er sich sogar darum auf, aber sie wird doch nicht den Otto rufen oder den Schlosser. Sie kann nicht aus sich heraus.

Sie sitzt da und grübelt. Sie hat die primitive Phantasie einer Siebzehnjährigen. Sie versucht, sich den Keller vorzustellen, ob da Haken sind und Stricke, ob er auch hoch genug ist dafür ... Aber dann fällt ihr ein, sie hat mal in der »Mottenpost« gelesen, einer hat sich an der Türklinke aufgehängt. Und nun fällt ihr ein, daß Erhängte eine blaurote, geschwollene Zunge aus dem Munde strecken und daß sie in die Hosen machen sollen ...

Da überwältigt sie der Schrecken, sie springt auf und fängt an zu schreien und schlägt mit dem Hammer gegen die Kellertür, sie trommelt und brüllt: »Tu es nicht, Erich! Tu es nicht, deiner Mutter zuliebe!«

Es ist nichts Bewußtes, was sie tut, sie hört nicht einmal, was sie schreit. Aber das gemarterte Herz in ihr quält sich, und sie tanzt herum, tanzt ihren grotesken Schmerzenstanz ... Und als Otto und Rabause erschrocken die Kellertreppe hinabstürzen und angstvoll fragen: »Was ist denn los?«, da schreit sie nur und deutet: »Er hängt sich auf! Jetzt hängt er sich auf!«

Oh, dieses Leben ist eine komplizierte Sache: Wäre Frau Auguste Hackendahl ein wenig bewußter, wacher, klüger, so würde man sagen, sie hat dieses ganze Theater bloß darum aufgeführt, damit die Männer für sie die Kellertür aufbrechen, damit sie doch ihr Ziel erreicht, nicht an der Kleinigkeit eines Schlosses scheitert. Denn ihr Geschrei, ihr Weinen, ihre Aufregung, ihre panische Angst verhindern alle Fragen, wortlos arbeiten die Männer an Schloß und Tür, und sie steht stöhnend daneben und bettelt: »Macht bloß schnell! Jetzt tut er es!«

Aber Frau Auguste Hackendahl ist nicht so raffiniert, sich so etwas auszudenken und durchzuführen. Sie fühlt wirklichen Schmerz, sie hat wirkliche Angst – und sie selbst ist die Überraschteste, als sie, nach dem Aufbrechen der zweiten Tür, den Sohn Erich ruhig auf seiner Kiste sitzen und an seinem Brotkanten kauen sieht.

»Ich dachte ...«, stammelt sie und verstummt.

Nein, nichts von Erhängen, aber da sie nun, wenn auch ohne es zu wollen, ihr Ziel erreicht hat, überläuft sie ein Glücksgefühl. Sie lehnt in der Tür; mit halb geschlossenen Augen sieht sie den Sohn an und murmelt: »Es ist schon gut, Erich.«

Die drei Befreier sehen auf den Befreiten. Fast schämen sie sich ihrer Aufregung, da sie ihn so ruhig sehen, und sie haben wie vom Tode gehetzt an den Türen gearbeitet!

»Ihr seid ja mächtig mutig, ihr drei!« sagt Erich, steht auf und streckt sich. »Siehe da, Otto, das Mustersöhnchen – das wird dir Vater gewaltig krummnehmen. Und der olle ehrliche Rabause – na, dich setzt Vater gleich auf die Straße! Und Mutter auch ...? Ja, du, Mutter ...«

Jetzt schämt sich sogar dieser kalte Mensch ein wenig und schweigt.

Alle schweigen, bis es wieder Erich ist, der zu reden anfängt. (Es ist seltsam, dieser siebzehnjährige Bengel tut so, als sei er ihnen allen an Lebenserfahrung weit überlegen, als sei er der Älteste und nicht der Jüngste, und sie akzeptieren das.) Erich also fragt: »Und was nun? Was für Pläne habt ihr mit dem verlorenen Sohn? Oder holt Vater schon das Mastkalb zum Versöhnungsschmaus?«

Jetzt wird es zuerst dem Rabause zu dumm. »Es fehlt nicht viel an der Zeit, Erich«, sagt er, »und der Chef kommt zurück. Und wem dann sein großes Maul ins Wasser fällt, den kenn ich auch!«

Spricht's und geht.

Erich lacht spöttisch, aber es klingt gezwungen, denn der nahende Vater jagt auch ihm Furcht ein. »Also, Mutter, was soll werden? Ihr werdet doch nicht so dumm gewesen sein, mich hier nur rauszuholen, und habt nichts für mich bereit? Geld? Sachen?«

Die beiden schweigen. Ja, nun stellt es sich heraus, daß sie wirklich so dumm waren. Dem Kaltsinn des Bruders gegenüber haben sie sich recht unüberlegt benommen.

»Mutter hat geglaubt, du tust dir was an ...«, sagt schließlich Otto halblaut.

Erich ist aus allen Wolken gefallen. »Ich mir was antun ...? Aber wieso denn? Wegen dem Dreck? Wegen ein bißchen Keller und achtzig Mark?! Ihr seid ja komisch!«

»Nicht wegen achtzig Mark«, sagt Otto wieder.

»Wegen was denn? Du meinst wegen Ehre und Schande und so? Was geht mich denn Vaters Ehre und Schande an? Gar nichts! Ich habe meine eigene Ehre und Schande, das heißt, ich will sagen, Schande kenne ich nicht, wenn man ein fortgeschrittener Mensch ist, existiert so etwas nicht für einen ...«

Nun hat er sich doch ein wenig verwirrt trotz seiner jungen, unreifen Selbstsicherheit. Um so zorniger sieht er die beiden an. »Also nichts habt ihr für mich vorbereitet?« fragt er noch einmal. »Dann muß ich selbst für mich sorgen – wie immer.«

Und er geht an den beiden vorbei, er geht ohne ein weiteres Wort an ihnen vorbei, den Kellergang entlang, steigt die Treppe nach oben hinauf.

Mutter und Sohn sehen einander an.

Dann sehen sie fort voneinander, sie gleichen zwei Verschwörern, die sich ihrer Schuld schämen. Die Mutter setzt sich auf die Kiste, sie nimmt das angebissene Stück Brot in die Hand, wie um sich in ihrer Niederlage zu trösten, sagt sie: »Nun braucht er kein trockenes Brot mehr zu essen!«

Aber da sie dieses sagt, kommt schon ein anderer, böser Gedanke, er löscht das bißchen Trost aus, es wird alles noch dunkler. Unsicher fragt sie zu Otto hinüber: »Und was wird er nun tun?«

Otto zuckt verlegen mit der Schulter, vielleicht hat er denselben Gedanken gehabt wie die Mutter. Er sieht gegen die Decke, als könne er durch sie hindurchsehen, hinauf in die Wohnung.

»Wenn er nun wieder stiehlt?« flüstert die Mutter.

Otto antwortet nicht.

Sie seufzt schwer; seit der Sohn wieder frei ist, ging eine Veränderung mit ihr vor. Jetzt muß er für sich selber sorgen, nun kann sie wieder an den Vater denken. »Das darf er nicht tun«, sagt sie wiederum. »Vater hat es auch schwer, Otto ...«

Otto nickt langsam.

»Bitte, geh rauf, Otto«, sagt sie. »Stell dich vor die Türe, laß ihn nicht rein. Sag, ich will ihm zehn Mark geben, nein, neun Mark, eine Mark hat die Eva bekommen für Matjes ... Mit neun Mark kann er drei Tage leben, sag ihm das, Otto, und bis dahin habe ich wieder Geld vom Vater in der Wirtschaftskasse ...«

»Ich habe auch sieben Mark.«

»Gut, gib die ihm auch. Sag ihm, er soll Nachricht schicken, wo er abbleibt. Ich sende ihm dann immer wieder was mit Bubi. Sag ihm das, Ottchen.«

»Ja, Mutter«, sagt Otto und wendet sich zum Gehen.

»Und, Otto«, ruft sie ihm nach, »er möchte doch noch mal runterkommen, mir adieu sagen. Ich kann jetzt nicht rauf. Ich habe es von der Aufregung in den Beinen. Vergiß nicht, es ihm zu sagen. Er muß mir adieu sagen. Ich bin seine Mutter, ich habe ihn hier rausgeholt.«

Otto nickt wieder und geht gehorsam. Otto ist der stumme Lastesel der Familie, er wird kommandiert und ausgeschimpft, beladen – aber nach dem, was er denkt und fühlt, fragt niemand. Auch jetzt denkt die Mutter nicht mit einem Gedanken an ihren Ältesten, sie hat das Brot in der Hand, sie sieht es an, sie beriecht es, sie befühlt es. Es ist ein gutes Brot, und es ist Brot, von dem Erich gegessen hat. Langsam, mit Genuß beißt sie davon ab. Das Kauen, der nahrhafte Geschmack, das Schlucken, das Eindringen von Nahrung in sie tun ihr gut. Der letzte Rest von Erregung verflüchtigt sich, sie ißt, also lebt sie. Sie denkt nicht mehr an den Streit, den es oben vielleicht zwischen den Brüdern geben wird, sie denkt auch nicht an die kommende Auseinandersetzung mit dem Mann – sie ißt, sie lebt.

Aber sie hat das Stück Brot noch nicht aufgegessen, da kommt Otto schon wieder. Seinem blassen, ausdruckslosen Gesicht ist nicht anzusehen, welche Botschaft er bringt.

»Nun?« fragt die Mutter kauend. »Kommt Erich?«

»Erich ist schon weg.«

»Hast du ihm denn nicht gesagt, er soll mir noch adieu sagen? Ich habe dich doch so gebeten, Otto!«

»Erich war schon weg, als ich nach oben kam.«

»Und ...?« Ungeduldig: »Nun rede doch, Ottchen – was ist in Vaters Zimmer?«

»Alles in Ordnung, Mutter.«

»Gottlob!« sagt sie aufatmend. »Ich sage es immer, Erich kann mal leichtsinnig sein, aber schlecht ist er nicht. Nein, schlecht ist unser Erich nicht.«

Sie wartet auf eine Bestätigung durch Otto, aber das ist zuviel von diesem Sohn erwartet.

Schließlich sagt der: »Aber die Hängelampe im Zimmer von den Schwestern hat er zerbrochen ...«

Sie wundert sich. »Warum soll Erich die denn zerbrochen haben?! Sei bloß nicht dumm. Ottchen! Das hat natürlich Doris beim Reinmachen getan, aber warte, das ziehe ich ihr am Ersten vom Lohn ab!«

»Bubi hat uns mal erzählt, die Eva bewahrt ihr Erspartes im Gewicht von der Hängelampe auf.«

»Die Eva? Bubi? Woher weiß Bubi denn das? Und wieso denn im Gewicht? In einem Gewicht kann man doch nichts aufbewahren.«

»Das Gewicht ist hohl, man kann es aufschrauben.«

»Aber ...« Sie versteht es noch immer nicht. »Aber warum zerbricht er dann die Lampe?«

»Ich muß mit den Pferden noch in die Schmiede«, sagt Otto. »Es ist sicher, Erich hat Evas Geld genommen, und dabei ist ihm die Lampe runtergesaust und zerbrochen.«

»Ich gebe es Eva wieder!« ruft die Mutter. »Was kann Eva viel gehabt haben? Ein paar Schmugroschen vom Haushaltsgeld! Sie soll bloß kein Geschrei machen, sag ihr das gleich, Ottchen.«

»Ich muß jetzt mit den Pferden in die Schmiede, Mutter«, antwortet Otto. »Und Eva hat über zweihundert Mark gehabt, hat Bubi erzählt ...«

Damit geht Otto und läßt die Mutter in neuer Sorge zurück.