Kitabı oku: «Der eiserne Gustav», sayfa 8
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Zum erstenmal seit langen Wochen hatte die Familie Hackendahl wieder einmal vollzählig um den Abendbrottisch gesessen, und der alte Vater hatte so wenig eisern in die Runde geschaut, wie es ihm nur möglich war. Alles war wirklich vergeben und vergessen, keinerlei unangenehme Fragen waren gestellt worden. Was der Friede veruneinigt hatte, der nahende Krieg hatte es zusammengeführt.
Sophie war auch heimgekommen, vom Krankenhaus war sie auf einen Sprung herübergelaufen, zu erfahren, welche Veränderungen der Krieg der Familie Hackendahl bringen würde.
»Also Otto rückt schon morgen früh ein«, berichtete Vater Hackendahl zufrieden, »und Erich werden sie wohl auch gleich dabehalten, wenn er sich freiwillig stellt. Und Sophie, du denkst also auch bald an die Front zu kommen, wenn du auch erst Lehrschwester bist?«
»Und ich«, rief Bubi. »Du sagst nein, Vater, aber ich sage, sie nehmen mich doch. Jetzt wird jeder Mann gebraucht.«
Alle lachten, und Hackendahl meinte: »Es wäre schlimm um uns bestellt, wenn wir schon Kinder wie dich brauchten! Das haben wir Gott sei Dank noch nicht nötig. – Aber, hört mal, denkt ihr denn gar nicht an mich?!«
»An dich, Vater? Wieso?«
»Na, ich werde mich doch natürlich auch freiwillig melden.«
»Aber, Vater, du bist doch ein alter Mann!«
»Ich alt? Ich bin erst sechsundfünfzig! Was ihr könnt, kann ich noch allemal!«
»Aber dein Geschäft, Vater – die Droschken!«
»Was geht mich das Geschäft an? Jetzt geht das Vaterland vor. Nein, Kinder, das ist ausgemacht, ich gehe mit.«
»Immer hat Vater gesagt«, jammerte die Mutter, »er kann sich nicht einen Tag freinehmen, das Geschäft geht nicht ohne ihn. Und jetzt plötzlich kann er ganz einfach in den Krieg!«
»Wirst du dich eben um das Geschäft kümmern, Mutter!«
Wieder lachten sie.
»Ich meine das im Ernst. Wer, denkt ihr denn, soll jetzt all die Arbeit von den Männern machen, die ins Feld ziehen? Doch nur ihr Frauen! Das wird schon gehen, Mutter. Eva hilft dir. – Was ist mit dir, Eva, du sitzt so blaß da und redest keinen Ton ...?«
»Ach, nichts, Vater. Es ist wohl nur die Hitze und das Gedränge beim Schloß gewesen ...«
»Vater«, fing Heinz wieder an. »Ob ich wohl noch mitkomme? Wie lange, denkst du denn, kann der Krieg dauern ...?«
Wieder lachte der Vater. »Du Grünschnabel! Sechs Wochen, höchstens bis Weihnachten – dann bist du immer noch dreizehn! Nein, Weihnachten feiern wir schon wieder zu Hause. Bei den modernen Kampfmitteln ...«
So ging die Unterhaltung. Aber Vater Hackendahl merkte gar nicht, daß es eigentlich nur er war, der sprach, daß die anderen alle recht seltsam schwiegen.
Mit gesenktem Kopf saß Erich am Tisch, jawohl, nun war er wieder zu Hause, es war alles vergeben und vergessen. Das Geld war zurückgezahlt worden, morgen würde er zum Direktor gehen und sich wegen Zeugnis und Abschlußprüfung erkundigen – und dann zu den Soldaten! Wie eh und je saß er in der Familie, sie trugen ihm nichts nach – aber schon jetzt, nach einer kurzen Stunde, lag es wie ein Druck auf ihm, es würgte ihn im Halse. Diese altgewohnten, diese bis zum Überdruß gesehenen Gesichter, das ewige Jammern der Mutter, die Art, wie der Vater das Messer benutzte, der ständige Pferdestallgeruch um Otto – ach, es war eine Kette, die sich an sein Bein legte!
Als er beim Anwalt gewesen war, hatte er einfach nicht verstehen können, daß er, Erich, ein gemeiner Hausdieb gewesen war, feige Geld gestohlen hatte, um damit zu Alkohol und Weibern zu laufen ... Nun saß er wieder hier, und schon verstand er es. Man tat hier ja alles, nur um aus dieser Umgebung herauszukommen, aus diesem Mief und Muff jämmerlichster Kleinbürgerlichkeit! War das derselbe Krieg, von dem Vater jetzt so platt und dumm daherredete (»Wir werden sie schon dreschen, die Rothosen!«), und der Krieg, von dem er zum Anwalt gesprochen hatte? Nein, es war ein ganz anderer Krieg! Dies hier, dies Heim, diese Menschen waren nicht zu verteidigen, so etwas mußte man einreißen, das war nicht Deutschland!
Eva, die Stumme, die Blasse, Eva aber, die sonst immer mit dem Munde vorweg war, saß vor ihrem Teller, sie stocherte mit der Gabel, das Essen quoll ihr im Munde. Von ferne hörte sie die anderen reden. Das war so weit weg, aber sie mußte um neun Uhr an der Ecke von der Großen und der Kleinen Frankfurter Straße sein – und der Vater erlaubte nie, daß sie nach dem Abendessen noch fortging.
Aber, wenn sie an eine Ausrede denken wollte, verwischte sich gleich alles. Sie konnte ihre Gedanken nicht festhalten. Das bräunliche Gesicht mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart und den bösen schwarzen Augen schob sich dazwischen. – »Du Nutte!« hatte er gesagt. Keiner hatte je so zu ihr gesprochen, aber wenn es einer getan hätte, sie hätte ihn bloß ausgelacht. Wenn sie es auch mit den Männern nicht so genau nahm, das hatte sie noch nie getan, und so war sie auch keine Nutte. Er aber nahm sie von Anfang an so, und in seinen Händen würde sie immer so sein, er würde sie dazu machen ...
Unausweichlich, unentrinnbar stieg ihr Schicksal vor ihr auf. Flüchtig muß sie daran denken, daß ihr Erich kurz vor dem Abendessen »ihr Geld« wiedergegeben hat, mit einer verlegen gemurmelten Entschuldigung – sie muß daran denken, wie groß sie jetzt dastände, fast fünfhundert Mark und so viel kostbaren Schmuck ... Aber an der Ecke der Kleinen und Großen Frankfurter Straße flackert die Gaslaterne im Sommerabend, Eugen – Eugen! – pfeift, und sie kommt. Eugen sagt: Lad ab!, und sie lädt ab. Eugen befiehlt: Leg dich hin!, und sie legt sich hin!
Aber das dritte Kind? Aber der Otto? Er ist der einzige von den sieben Personen, die um den Abendbrottisch sitzen, der sein Schicksal für die nächsten Tage genau kennt, in diesen Tagen, da alles allen so ungewiß ist. Er stellt sich morgen, er wird eingekleidet, verladen ...
Er steigt die Treppe hinauf, er drückt zweimal auf den Klingelknopf – und dann? Und dann?!
Der Gustäving, der Junge, der wird dann schon schlafen, aber nur um so schlimmer! Allein, ohne Ablenkung, werden sie einander gegenüberstehen, und sie wird fragen: Und dein Versprechen? Die Papiere? Die Trauung? Gustäving ...?
Sein Hirn arbeitet langsam, es überlegt, daß die Papiere wohlgeordnet in des Vaters Schreibtisch liegen, für jedes Kind gibt es eine Mappe. Morgen früh, direkt, ehe er in die Kaserne geht, wird Vater den Schreibtisch aufschließen und ihm geben, was er haben muß: den Militärpaß also, den Geburtsschein, den Taufschein ... Ja, braucht er die denn ...?
Und sein Kopf verliert den Weg über dieser Frage: Was braucht er für Papiere? Was braucht er für Papiere für das Militär, und was für Papiere für den Pastor? Aber er hat ja gar keine Zeit für den Pastor, direkt, wenn er die Papiere hat, muß er in die Kaserne. Ein Pastor aber braucht viel Zeit, Traukutsche und Orgel, Rede und Hochzeitszeugen – und sie haben ja noch nicht einmal Ringe!
Hilflos sieht er hoch. Er schaut in die Gesichter von Geschwistern und Eltern, er bewegt die Lippen, fast erlöst denkt er bei sich: Das werde ich ihr sagen: Wir haben ja noch keine Ringe! Und wer keine Ringe hat, den kann man doch auch nicht trauen, das verstehst du doch, Tutti?
»Was redest du denn, Otto?!« ruft Bubi übermütig. »Ich glaube, der redt mit dem Mann im Mond!«
Alle lachen, und der Vater sagt: »Der Otto ist schon gar nicht mehr bei uns. Der sagt sich schon die Felddienstordnung her. Oder die Kriegsartikel. Nicht wahr, Otto?«
Otto murmelt etwas, und die anderen vergessen ihn gleich wieder, wie sie ihn immer gleich vergessen. Nein, denkt er, es ist unmöglich, den Vater schon heute abend um die Papiere zu bitten, und wenn es möglich wäre, so hätte es keinen Zweck, denn nachts wird man nicht getraut, und morgen früh ist keine Zeit mehr ...
Der alte Vater Hackendahl, der eiserne Gustav, sitzt so recht behaglich am Abendbrottisch der wiedervereinten Familie und fühlt: Es ist alles noch wieder gut geworden, alle sind wieder heimgekehrt, wie es sich gehört.
Aber er irrt sich, er fühlt sich nur darum so behaglich, weil er nichts weiß von seinen Kindern. Alle denken sie fort, alle empfinden den Familienzwang lästig, allen brennt der Boden unter den Füßen. Aber Hackendahl merkt nichts von alledem, und er ist darum baß erstaunt, als sich seine Familie sofort nach dem Mahlzeit-Sagen zerstreuen will.
»Aber, Kinder!« ruft er vorwurfsvoll. »Ich denke, wir sitzen alle noch ein bißchen gemütlich zusammen. Bubi holt eine Kanne Bier und ein paar Zigarren, und wir quatschen noch ein bißchen! So jung kommen wir doch nicht wieder zusammen!«
Sophie aber muß sofort ins Krankenhaus und Otto zum Rappen mit der Nasenblesse, der ein heißes Bein hat und gekühlt werden muß. Erich aber will unbedingt noch zum Schloß, ob es Neues gibt, und Eva möchte ihn ein Stück begleiten – sie denkt, ihre Kopfschmerzen gehen in der Abendluft fort.
So bleibt nur Bubi – und der muß natürlich ins Bett. Da er aber heftig protestiert, so gibt dies willkommenen Anlaß zu einem gewaltigen militärischen Befehlsaufwand. Bubi wird nach allen Regeln der Kunst »gestaucht«, und als das vorüber ist, als Bubi heulend im Bette liegt, entdeckt Hackendahl, daß seine anderen Kinder indessen verschwunden sind.
Nur die Mutter sitzt behaglich im Korbsessel am Fenster, sieht in den sinkenden Abend und jammert zufrieden: »Das war mal wieder ein schönes Abendessen, Vater. Aber der gekochte Schinken hatte einen kleinen Stich von der Hitze – hast du das gemerkt, Vater? Und zu fett war er auch. Ich sage Eva immer, sie soll gekochten Schinken bei Hoffmann holen, aber sie hört ja nicht.«
Vater Hackendahl geht in den Stall, wird er wenigstens mit Otto noch ein bißchen schwatzen können!
6
Aber Otto ist nicht im Stall. Er ist über die beiden Höfe gegangen, und nun steigt er wirklich die Treppen empor, die vielen Treppen bis hinauf in den fünften Stock, die wie eine Aufgabe vor ihm gelegen haben. Er ist wohl schwach und ohne Eigenwillen, aber darum ist er noch kein Drückeberger. Er steigt die Treppen hinauf, er ist nicht zu Haus geblieben, er hat dem Rappen mit der Nasenblesse nicht das entzündete Bein gekühlt, das hat er dem Rabause aufgetragen.
Als Otto oben im fünften Stock ist, seufzt er nur einmal schwer auf. Aber er zögert nicht, er drückt zweimal auf den Klingelknopf der Gertrud Gudde, Schneiderin. Er muß eine ganze Weile warten, ehe Tutti an die Tür kommt, Tutti, die schon geschlafen hat, mit aufgelöstem Haar, in einem wolligen Morgenrock.
»Du, Otto?!« ruft sie ganz erstaunt. »Jetzt noch?«
Es stellt sich heraus, daß sie noch nichts weiß. Sie ist den ganzen Tag nicht aus dem Haus gekommen. Eine Zeitung liest sie nicht – und ihre Anproben sind ohne Absage ausgeblieben.
»Mobil«, sagt Otto nur. Er sieht sie scheu an. Dann sagt er: »Ich muß gleich wieder weg. Vater weiß nicht, daß ich fort bin.«
»Was ist das: mobil?« fragt sie ängstlich. »Heißt das Krieg?«
»Nein, nicht. Es heißt, daß ich morgen in die Kaserne muß.«
»Mußt du wieder dienen? Soldat sein? Aber warum, wenn es keinen Krieg gibt? – Es ist doch nicht Krieg?!«
»Nein, Tutti.«
»Aber warum mußt du dann in die Kaserne?«
»Vielleicht«, versucht er zu erklären, was er selber nicht genau versteht, »vielleicht bekommen die anderen Angst, wenn sie sehen, wieviel Soldaten wir haben.«
»Darum mußt du in die Kaserne?«
»Vielleicht – ich weiß doch nicht. Mobil heißt: Ich muß wieder dienen.«
»Wie lange denn?«
»Das weiß ich auch nicht ...«
Stille, lange Stille. Er sitzt mit gesenkten Augen da, er schämt sich, daß er sie angelogen hat, alle haben davon geredet, daß es Krieg wird. Er aber sagt ihr immer bloß, daß mobil nicht Krieg ist. Vielleicht ist es die letzte Stunde, die sie so zusammensitzen ...
Sie hat nachgegrübelt. Nun fragt sie: »Was sagt der Vater?«
»Ach, der ...«
»Was sagt er, Otto?«
»Der ist doch immer noch wie beim Militär ...«
»Er sagt, daß Krieg wird ...?«
Otto nickt langsam.
Lange Stille.
Dann kommt ihre Hand zu der seinen über den Tisch. Seine Hand will ausweichen, aber sie wird gefangen. Erst widerstrebt sie, dann fügt sie sich in die kleine Hand mit den zerstochenen, harten Fingerkuppen der Näherin.
»Otto«, bittet sie, »sieh mich doch an ...«
Wieder will die Hand entweichen, und wieder läßt sie sich halten.
»Otto!« bittet Tutti.
»Ich schäme mich so ...«, flüstert er.
»Warum denn, Otto? Hast du Angst vor dem Militär?«
Er schüttelt hastig den Kopf.
»Vor dem Krieg ...?«
Wieder Kopfschütteln.
»Aber warum schämst du dich denn, Otto?«
Er spricht nicht, er macht wieder einen Versuch, seine Hand zu befreien, er sagt: »Ich glaube, ich muß gehen.«
Sie kommt rasch um den Tisch, sie setzt sich auf seinen Schoß. Sie flüstert: »Komm, sag es mir ganz leise, warum du dich schämst ...«
Er hat nur einen einzigen, idiotischen Gedanken im Kopf. »Ich glaube, ich muß nach Haus«, sagt er und will sich von ihr frei machen. »Vater schilt sonst ...«
Sie hat ihre Arme um seinen Hals gelegt. Nur schwach glimmt der Lebensfunke in ihr, aber rein. »Mir kannst du doch sagen, warum du dich schämst, Ottchen«, flüstert sie. »Ich schäme mich ja auch nicht vor dir ...«
»Tutti«, sagt er. »Ach, Tutti ... Ich taug ja nichts. Vater ...«
»Ja, sag ... sag, Otto!«
»Ich habe die Papiere nicht ...«
»Welche Papiere?«
»Die Papiere! Ich habe solche Angst – Vater erlaubt es nie!«
Lange, lange Stille. Sie liegt so ruhig an seiner Brust, klein, schwach, zerbrechlich ... Als schliefe sie. Aber sie schläft nicht, sie hat die Augen weit geöffnet, diese Augen mit dem sanften und doch glühenden Taubenblick ... Sie versucht, seinen Augen zu begegnen, seinen scheuen, blassen Augen ...
Plötzlich steht er auf. Er hält sie im Arm, er trägt sie wie ein Kind. Mit ihr auf dem Arm geht er im Zimmer herum, sie vergessend, sich vergessend, alles ...
Er murmelt mit sich, er spricht leise. »Ja, du«, sagt er etwa, »du denkst, du bist was. Aber daß der Rappe lahmt, das habe ich gesehen und nicht du ... Und daß der Piepgras dich beschummelt, das weiß nur ich, nicht du ... Aber das ist es nicht. Du willst überall sein, nicht nur in Haus und Stall, auch in Erich willst du sein und in Heinz und in Mutter. Was jeder Kutscher denkt, das willst du wissen, und es darf nur das sein, was du denkst. Als Junge habe ich mir mal eine kleine Wassermühle gebaut und sie unter der Leitung laufen lassen, und du hast mir die Wassermühle zertreten und gesagt, das ist Dreck, das braucht zuviel teures Wasser – das habe ich nie vergessen ...
Du und deine Kinder ... Aber deine Kinder wollen dich alle nicht, und ich will dich am wenigsten! Mich, denkst du, hast du am festesten, aber mich hast du gar nicht, nichts von mir. Bloß, daß ich tue, was du willst, damit ich dein Geschrei nicht mehr hören muß ...«
»Otto! Otto! Was redest du?« ruft sie in seinem Arm.
»Ja, du bist auch da. Ich weiß, du bist da, meine Gute, meine Einzige, mein ganzes Glück. Die Einzige, die mich nie getreten hat! Aber ich habe dich nie allein gehabt, auch hier ist er immer gewesen, noch drinnen, wenn wir beieinanderlagen, noch drinnen ...«
»Otto! Otto!!«
»Aber wenn es jetzt wirklich Krieg gibt, und ich mit muß, so will ich beten, daß mir ein Arm oder ein Bein abgeschossen wird, daß ich nicht mehr in seinem verfluchten Stall arbeiten muß, unter seinen Augen, daß ich irgendwoanders hingehen kann, wo ich ihn nicht sehe, ihn vergesse ...«
»Otto, er ist doch dein Vater!«
»Mein Vater ...? Er ist bloß der eiserne Gustav, wie die Leute sagen, und er ist noch stolz darauf! Aber man soll nicht stolz darauf sein, daß man eisern ist, denn dann ist man kein Mensch und kein Vater! Ich will nicht mehr nur sein Sohn sein, ich will ein eigener Mensch sein! Ganz wie die anderen alle!«
Einen Augenblick stand er aufgerichtet, schon verfiel er. »Aber es wird nichts, es wird nie etwas ... Ich habe gedacht, wenn Krieg wird, werde ich den Mut haben, zu Vater zu gehen. Aber auch jetzt wird es nicht.«
»Otto, mach dir doch um die Trauung keine Gedanken! Ich habe es doch nicht meinetwegen gesagt! Wir sind immer glücklich gewesen, das weißt du doch!«
»Glücklich, glücklich ...«
»Ach, Otto, es hat doch Zeit, wir lassen uns trauen, wenn du wiederkommst ...«
» Wenn ich wiederkomme ...!«
7
Es ist Morgen, sieben Uhr morgens. Morgen eines Wochentages, Arbeitstages.
Aber auf dem Hackendahlschen Fuhrhof stehen alle Droschken unbespannt nebeneinander, Gepäckdroschken und offene Droschken, Droschken erster und zweiter Klasse. Sie stehen nebeneinander, als ruhten sie aus, als gebe es keine Arbeit mehr für sie ...
Die Kutscher laufen umher in Sonntagsanzügen, sie ziehen die Pferde aus dem Stall. Vater Hackendahl steht an der Hofpumpe, er mustert jeden Gaul, sieht nach, ob er gut genug geputzt ist, läßt die Hufe schmieren, einen Trensenzügel verschnallen ... Die Pferde sind aufgeregt wie die Menschen, es macht sie unruhig, daß sie ihr gewohntes Geschirr nicht tragen. Sie werfen den Kopf, sie sehen nach den leeren Droschken hinüber, sie wiehern ...
»Hoffmann!« ruft Hackendahl dröhnend. »Kämm deiner Liese die Mähne noch mal durch! Zieh ihr'n Scheitel, mein Junge, dann sieht sie gleich schmucker aus!«
»Jawoll, Herr Hackendahl, det sich ein Franzose in sie verliebt!«
»Oder bei de Russen kricht se Läuse! Die jehen dann immer den Scheitel ruff un runter un singen: ›Ach, Niki, ach, Niki, wie biste doch so süß!‹«
»Ruhe!« befiehlt Hackendahl mit Donnerstimme in das brausende Gelächter hinein. Aber auch er ist aufgeregt und vergnügt, es ist ein großer Tag für ihn. »Maul halten! – Rabause, sind jetzt alle draußen?«
»Jawoll, Herr Hackendahl, zweiunddreißig Pferde. Elf Stuten, zwanzig Wallache und dann der Klopphengst ...«
»Den Klopphengst werden sie jedenfalls nicht nehmen ...«, sagt Hackendahl nachdenklich.
»Sie werden die mehrsten nich nehmen, Herr Chef«, meint Rabause tröstend. »Unsere Pferde sind zu leicht fürs Militär.«
»Ein Stücker zwanzig möchte ich auch behalten. Was denkt ihr, mit was ihr hier Droschke fahren wollt? Droschke muß auch im Kriege sein.«
»Und wo werden Sie die Kutscher hernehmen, Herr Chef? Elf Mann sind bloß noch da, die anderen sind schon alle bei den Preußen.«
»Als Kutscher nehmen wir junge Leute!«
»Junge Leute wird's bald auch nich mehr geben, Herr Chef, die Jungen stellen sich doch alle freiwillig ...«
»Na, dann muß Muttern eben auf den Bock«, ruft Hackendahl lachend. »Dann müssen die Frauen fahren, wenn die Männer weg sind ...«
»Herr Chef, Herr Chef, Sie machen ja Witze!« ruft Rabause auflachend. »Wenn ick mir das so vorstelle, Ihre Frau mit Ihrem Lackpott auf dem Bock – und dann die Leine in der Hand – nee, das möchte ich wirklich noch erleben ...«
»Dann los!« befiehlt Hackendahl mit Stentorstimme. »Abmarsch! – Komm, Bubi!« ruft er zum Fenster hinauf. »Wenn du noch mit willst, wird's Zeit!«
Heinz verschwindet aus dem Fenster, die Mutter winkt von oben, halb weinend, halb stolz. Es ist ein nie gesehener Anblick: Alle Pferde der Tag- und Nachtschicht verlassen gemeinsam den Fuhrhof, einhundertachtundzwanzig Hufeisen klappern auf dem Steinpflaster, die Schwänze wehen, die Köpfe werden geworfen ... Jawohl, es ist ein stolzer Anblick, es ist das letztemal, daß der Fuhrhof Hackendahl nach Wohlhabenheit und Fülle aussieht ...
»Warum hat denn die Eva nicht aus dem Fenster gesehen?« fragt Vater Hackendahl, etwas unzufrieden. »So was sieht das Mädchen doch nicht alle Tage!«
»Ach, die! Die sitzt wieder in ihrem Zimmer, die ist ja komisch, Vater.«
»Weißt du denn nicht, was mit ihr los ist, Bubi? Sie ist doch ganz verändert!«
»Ich weiß, daß ich nichts weiß!« zitiert der Gymnasiast seinen Klassiker. »Aber mir schwant, Vater, daß sie sich einen angelacht hat – und vielleicht muß der auch in den Krieg!«
»Die Eva? Unsinn! Das müßte ich doch wissen!«
»Du, Vater?«
»Wieso nicht? Was meinst du denn?«
»Ach, gar nichts, Vater!«
Eine Weile gehen die beiden schweigend nebeneinander. Auf der Fahrbahn der Frankfurter Allee klappern die Pferdehufe. Die Menschen auf der Straße bleiben stehen, sie schmunzeln bei dem Anblick, das ist doch noch etwas: Pferde, die in den Krieg ziehen.
Hackendahl trägt eine Mappe mit Papieren unter dem Arm, die Gestellungsbefehle der Musterungskommission für seine Pferde. Er schreitet langsam und würdig neben seiner Truppe, bei den Straßenkreuzungen eilt er voran, um zu sehen, ob die Nebenstraßen auch frei sind. Er winkt und mahnt: »Franz, verlier den Schimmel nicht!« – »Immer Schritt halten. Hoffmann!«
Bubi ist noch beschäftigter. An jeder Litfaßsäule bleibt er stehen, er liest die Aufrufe, stürzt hinter dem Vater her und berichtet: »Du, Vater, der Kriegszustand ist jetzt erklärt!« – »Vater, der Kaiser hat gesagt, er kennt keine Parteien mehr, nur noch Deutsche. Sind die Roten denn nun nicht mehr rot?«
»Das wollen wir erst mal abwarten, wie die im Reichstag abstimmen. Der Kaiser hat ein viel zu gutes Herz, der denkt immer, alle sind so anständig wie er.«
»Du, Vater, die Bevölkerung wird gewarnt, sie soll auf Spione aufpassen. Vater, woran erkennt man denn Spione?«
»Das werden wir schon sehen! Halt nur immer die Augen offen, Bubi! So ein Verräter verrät sich gleich durch sein schlechtes Gewissen, der kann keinen grade ansehen.«
»Komm, Vater, wir wollen mal aufpassen, wer uns entgegenkommt. Wenn die nun ausspionieren, wieviel Pferde eingezogen werden, das ist doch möglich, Vater!«
Aber er vergißt es gleich wieder. »Vater! Vater!!«
»Ja doch – was ist denn schon wieder, Bubi! Ich muß auf die Pferde aufpassen!«
»Hast du das von den Goldautos gelesen, Vater? Die Russen sollen ja drei Autos mit Gold im Lande haben, und wir sollen sie anhalten. Vater, drei ganze Autos voll Gold!«
»Die kommen nicht mehr über die Grenze!« sagt der Vater befriedigt. »Den Russen ist der Krieg erklärt! Da sind die Grenzen zu.«
»Aber wenn die nun zu den Franzosen rüberfahren? Den Franzosen haben wir doch noch nicht den Krieg erklärt. Warum denn noch nicht, Vater? Die Franzosen sind doch der Erbfeind!«
»Das wird schon alles der Reihe nach kommen«, erklärt Hackendahl. »Nur nicht drängeln! Die Franzosen kommen auch noch ran – und vor allem die Engländer! Die wollen uns bloß unsere Flotte und die Kolonien nehmen, die sind ja so neidisch, die Brüder ...«
Immer dichter ist das Gedränge geworden. Wenn man zu Anfang nur da und dort einen einsamen Fleischer- oder Gemüsegaul sah, den sein Herr zur Musterung führte, jetzt sieht man Pferde über Pferde. Die Brauereien bringen ihre schweren belgischen, die Tattersalls ihre leichten ostpreußischen Pferde. Herrschaftskutscher mit Backenbärten führen Hannoveraner Kutschpferde – denn 1914 glauben noch lange nicht alle feinen Leute, daß ein Automobil wirklich fein ist, sondern schwören auf ihre Equipage.
Und in all dem Lärm und Gedränge begrüßen sich Bekannte, die Droschkenkutscher rufen ihre Kollegen an, Schultheiß-Fahrer sprechen mit den Riebeck-Leuten und machen ihnen die Gäule schlecht, die Fleischer, deren Pferde immer am aufgeregtesten sind – sie sollen einer Sage nach alle Tage Ochsenblut zu saufen bekommen und davon so feurig sein –, die Fleischer treffen schon Verabredungen untereinander: »Wenn se deinen nehmen, fahr ick dir dein Fleisch. Un wenn se meinen nehmen, fährst du mir meins!« (Sie ahnen noch nicht, wie wenig Fleisch sie in gar nicht langer Zeit zu fahren haben werden.)
Auch Hackendahl sieht Bekannte genug: die kleinen Krauter, die mit ein oder zwei Droschken fahren, den Inhaber des Begräbnisinstitutes, dem er bei Hochkonjunktur mit Rappen aushilft, den Möbelfritzen von schräg gegenüber, dem seine Gäule immer so schnell pflasterlahm werden.
»Tach, Orje, det is heute ein Betrieb ...«
»Ne Masse Schinder mang ...«
»Na, die schicken uns alle mit unsern Zossen wieder heeme. Wat sollen se denn mit uns? Sie haben erst mal ihre Anspannung.«
»Haste schon gehört? Die Franzosen sollen Fliegerbomben auf Stuttgart geworfen haben.«
»Ick muß mir morgen ooch stellen – mein Jeschäft ist hops.«
»Wat denkste, wat zahlen die einem so for de Kröpels? Die müssen einem doch jewissermaßen ein Aufjeld jeben, weil man doch den Verdienstausfall hat.«
»Du willst wohl am Kriege noch verdienen? Schäm dir wat, oller Kriegsgewinnler! Det jibt es in dissem Kriege aber nich!«
»Und wovon soll Muttern leben?«
Ja, Hackendahl hat zu tun, er muß auf seine Pferde aufpassen, und er muß seine Bekannten begrüßen. Er ist ein angesehener Mann in seinem Viertel und in seinem Beruf, die Leute hören ihm zu, wenn er was sagt. Sie nicken mit dem Kopf: »Jawohl, das ist richtig, was der eiserne Gustav gesagt hat, das ist ein Aufwaschen, den Engländer kloppen wir ooch noch auf de Finger. Wozu haben wir denn Tirpitzen seine Flotte ...?«
Aber nun biegen sie von der Straße ab. Hier ist, zwischen letzten Mietskasernen, ein großer, freier Platz. Sonst wurde hier ein kleiner Wochenmarkt abgehalten, aber jetzt sind Pfähle eingerammt, Balken mit Ringen darübergelegt, zum Anketten der Pferde. Militär ist da, Militär in Drillich und Offiziere in voller Uniform und das – ja, was ist das? »Was stellt denn der vor? Kennst du die Uniform?«
»Ja, wie sehen die denn aus?«
»Wat is denn det für 'ne Uniform?!«
Hackendahl nickt verständnisvoll mit dem Kopf. Er als altgedienter Mann kann die richtige Auskunft geben: »Feldgrau!«
Feldgrau! Das Wort fliegt von Mund zu Munde, es ist etwas Neues: feldgrau. Nein, sie werden in diesem Kriege nicht die gewohnten bunten Uniformen tragen, sie werden feldgrau sein ...
»Aber warum denn bloß?! Det is doch schade! Det sieht doch nach jar nischt aus!«
»Mensch, quassel noch – det se'ne Schießscheibe abjeben!«
»Det wird sich Willem schon richtig mit Moltken überlegt haben!«
»Nu haben die Franzosen wohl auch keine roten Hosen mehr an? Det is aber schade! Ick habe mir so jedacht: Aus deinem ersten Jefangenen machste dir 'ne rote Weste ...«
Unterdes hat die Musterung längst angefangen, ununterbrochen werden Namen aufgerufen.
»Nu mal ein bißchen Trab! – Galopp! Schön! Beine sind gesund. Heh, nehmen Sie ihm mal das Bein hoch – ist der Huf nicht geborsten?«
Der Tierarzt schaut dem Gaul ins Maul, sieht die Zähne nach. »Acht Jahre«, sagt er.
»Den hab ick aber vor sechse jekooft, Herr Oberveterinärrat!«
»Acht!«
»Train! Stangenpferd. Zweite Gruppe ...«, schnarrt ein Offizier abschließend.
Ein Schreiber schreibt, ein Soldat nimmt dem Besitzer die Zügel aus den Händen. »Nee, Mensch, die Trense behalten wir. Haste nich gelesen, auf dem Gestellungsbefehl: mit Stallhalfter?«
Der Besitzer hält eine Anweisung in den Händen. »Dreihundertfünfzig Mark – kucke mal, Gustav, dreihundertfünfzig Mark für meine Braune. Das is nicht schlecht bezahlt, das is anständig!«
»Ganz reell«, sagt Gustav. »Nicht zuviel und nicht zuwenig, ganz reell – wie alles beim Militär.«
Nun kommt auch sein Stall dran. Pferd auf Pferd wird vorgeführt ... Hackendahl führt nicht selbst vor, das hat er nicht nötig, dafür hat er seine Leute, er ist ein großer Mann. Und so fühlt er sich auch – er gibt dem Vaterland, er gibt ihm nicht nur Söhne, er gibt ihm auch Pferde, Besitz. Er kann in dieser Stunde etwas opfern, das macht ihn zufrieden.
Er steht bei der Gruppe der Offiziere, hinter ihm steht Heinz. Bubi kann die Offiziere nicht glücklicher ansehen, als es der Vater tut. Das ist der alte stramme Ton, geschnarrt oder genäselt, aber sachlich kurz, Entschließungen im Bruchteil einer Minute. Kein endloses Weibergetratsch, kein: Kommste heute nich, dann kommste morgen!
Ein Offizier funkelt Hackendahl durch sein Einglas an. »Was stehen Sie hier rum. Mann? Was horchen Sie hier? Machen Sie sich nicht verdächtig!«
»Das sind meine Pferde«, sagt Hackendahl erklärend.
»Ihre Pferde? Na schön! Meinethalben! Was haben die Gäule gemacht?«
»Droschke gefahren, Herr Oberleutnant!«
»Droschke? Werden was anderes zu fahren kriegen, hähä! Aber gut im Stand – Pferdeverstand, was?«
»Wachtmeister bei den Pasewalker Kürassieren gewesen, Herr Oberleutnant!«
»Altgedienter Mann, Pferdeverstand, merkt man! Bißchen leicht, bißchen klein – aber in Ordnung!«
Ja, daß die Hackendahlschen Pferde in Ordnung waren, das merkte man wirklich. Stück für Stück ging weg, es machte Hackendahl ganz stolz.
»Au, Vater, die nehmen ja alle!« flüsterte Heinz aufgeregt. »Womit sollen wir denn Droschke fahren?«
»Danach wird jetzt nicht gefragt. Hauptsache, das Militär bekommt, was es braucht.«
»Was ist denn mit dem Schimmel, Wachtmeister?« fragte der Offizier wieder. »Junges Tier, aber ohne Mumm. Hat nichts in den Knochen?«
»Zu Befehl, Herr Oberleutnant! Vor fünf Wochen mit 'nem Auto überjagt, Schreck gehabt – ist seitdem nicht wieder zurechtgekommen. War mein Bester!«
»Auto? Böse Sache! Das heißt – na ja, Gäule jedenfalls vornehmer. – Untauglich, der Schimmel!«
Ja, der Schimmel wurde untauglich. Auch den Klopphengst wiesen sie zurück. Und dann nach und nach noch drei Pferde. »Ganz nett – aber zu alt! Halten einen Vormarsch nicht mehr aus.«
»Zu Befehl, Herr Oberleutnant!«
Hackendahl bekam seine Anweisung, es war eine Anweisung auf eine sehr hohe Summe. Viel Geld, die Pferde, die für Hackendahls gearbeitet, von denen sie gelebt hatten, in Geld umgesetzt. Es war viel und wenig, eine hohe, fünfstellige Zahl – aber es war auch Hackendahls Lebensarbeit, das, was er aufgebaut, für das er geschuftet hatte, als Zahl auf ein Blatt Papier niedergeschrieben.