Kitabı oku: «Der eiserne Gustav», sayfa 7

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Über die Linden rasen die Automobile. Offiziere stehen in ihnen – sie schwenken Fahnen. Sie legen die Hände hohl an den Mund, sie rufen: »Mobil! Mobil!«

Die Menschen lachen glücklich, sie jubeln den Offizieren zu. Blumen fliegen durch die Luft, die jungen Mädchen reißen ihre großen Strohhüte vom Kopf, sie schwingen sie an den Bändern, sie rufen begeistert zurück: »Mobil! Mobil! Krieg!!«

Dies ist die Stunde der Offiziere, vierzig Jahre lang haben sie öden Gamaschendienst kloppen müssen, sie waren dessen so überdrüssig! Die Leute drehten sich kaum noch um nach ihnen, sie waren so überflüssig! Jetzt jubelt ihnen alles zu, die Augen leuchten – sie werden ja für Freiheit und Frieden eines jeden kämpfen und vielleicht sterben!

»Daß ich das noch erleben darf!« ruft der alte Hackendahl im Strudel der Begeisterten. »Nun wird alles wieder gut!«

An seinem einen Arm hängt Heinz, am anderen Eva, sie treiben in der Menge, sie lachen. Übermütig wirft Eva den Offizieren Kußhände ins Auto.

»Oh, Vater!« ruft Heinz und drückt den Arm des Vaters fester gegen seine Brust.

»Was denn, Bubi?« Hackendahl muß sich tief hinabbeugen, um in dem Trubel den Sohn zu verstehen.

»Vater ...« Er ist ganz atemlos. »Vater ...« Er stößt es hervor: »Ob ich nicht auch mit darf?«

»Was – mit?« Der Vater versteht ihn nicht.

»Mit heraus ... in den Krieg ... an den Feind! Ach, bitte, Vater!«

»Aber, Bubi«, sagt der Vater. Er spottet und ist doch glücklich über seinen Sohn: »Du bist doch erst dreizehn! Du bist doch noch ein Kind ...«

»Ach, Vater, es geht sicher, wenn du es erlaubst! Bring mich bei deinem alten Regiment an, bei den Pasewalkern ... Es gibt doch Trommlerjungen, ich weiß das!«

»Trommlerjungen! Und so was will der Sohn von einem altgedienten Wachtmeister sein! Trommlerjungen gibt es bei uns Deutschen nicht ... vielleicht bei den Rothosen ...«

»Ach, Vater!«

»Faß mich an, Evchen, faß mich fest unter! Wir wollen machen, daß wir nach Haus kommen! Wir müssen Otto Bescheid sagen – Otto weiß doch noch von nichts! Wenn heute Mobilmachung ist, muß er sich spätestens morgen stellen! Oder heute noch ... Ich weiß es nicht! Rasch, wir wollen nach Haus – ich muß das sofort in seinen Papieren nachsehen!«

Sie gehen gegen den Strudel an, oft kommen sie nicht von der Stelle. Sie müssen sich aneinander festhalten, um nicht getrennt zu werden.

Heinz sieht den Vater von der Seite an. »Du, Vater ...«

»Ja?«

»Vater, sei nicht böse, aber muß nicht auch Erich zu den Soldaten?«

»Muß ...?« Der Vater antwortet ganz bereitwillig, als sei Heinz ein Großer. Er hat eben auch darüber gegrübelt. »Muß – nein. Er ist doch erst siebzehn! Aber er würde sich freiwillig stellen können ...«

»Der Erich, Vater, freiwillig ...?«

»Wieso nicht? Redest du jetzt auch schlecht von deinem Bruder, Heinz? Jetzt gibt es das nicht, jetzt müssen wir alle zusammenhalten. Jetzt weiß einer wieder, daß er zum andern gehört – der Erich auch.«

»Ja, Vater, ich glaube es ja auch, es ist alles jetzt ganz anders!«

»Ja, ganz anders! Paß auf, jetzt kommt der Erich auch zurück. Jetzt kommt er ganz von selbst. Er muß ja, ich habe ja seine Papiere. Die braucht er jetzt. Aber auch so ... er würde auch so kommen, Bubi, er weiß ja jetzt, daß man nicht allein leben kann. Einer gehört zum anderen, alle gehören zusammen – wir Deutsche!«

»Ja, Vater.«

»Es hat wohl so sein sollen, daß wir ihn all diese Wochen vergeblich gesucht haben. Er hat erst lernen müssen, was das ist, wenn man ganz allein ist, niemanden hat. Jetzt gehören wir alle zusammen. Siehst du, wie die Eva mit dem Herrn lacht und spricht?! Eben haben sie sich noch nicht gekannt, und gleich kennen sie sich nicht mehr. Aber jetzt fühlen sie, daß sie zusammengehören, daß sie eine Sache haben – Deutsche! Paß auf, wenn wir nach Haus kommen, sitzt der Erich vielleicht schon bei Muttern und wartet auf uns. Dann aber soll kein Wort mehr von vergangenen Dingen gesprochen werden, Bubi, verstehst du? Alles ist vergeben und vergessen! Jetzt gibt's so was nicht mehr. Und ihr vertragt euch gefälligst auch, verstanden, als Brüder! Jetzt sind wir alle ... Halt, Eva, wo ist Eva? Dort ... Eva, hier sind wir doch! Guck einer das Mädchen! Sieht gar nicht, wo wir stehen! Eva!« Er legt die Hände an den Mund. »Eva – Hackendahl! Hak-ken-dahl! Hierher!«

Eine ganze Schar junger Männer kommt die Linden entlang, sie haben sich ineinander eingehakt, sie versuchen, so gut es eben im Gedränge geht, nach dem Takt zu marschieren. Dazu singen sie: »Siegreich wollen wir Frankreich schlagen ...«

Einer der Marschierenden faßt lachend nach der gegen den Strom ankämpfenden Eva. Sie lacht auch, sie weicht ihm aus.

Hackendahl schüttelt den Kopf. »Weg ist sie! Ich sehe sie nicht mehr. Siehst du sie, Bubi? Nein, du bist natürlich viel zu klein ... Komm, Heinz, Eva wird schon allein nach Haus finden, wir wollen uns beeilen. Otto muß Bescheid haben, und vielleicht wartet Erich ...«

3

Es war Eva eigentlich ganz recht, daß sie von Vater und Bruder getrennt worden war. Sie hatte nichts dazu getan, aber als es geschah, hatte sie sich auch nicht übermäßig angestrengt, die Ihren wiederzufinden. Sie schob sich lachend mit der Menge fort, jetzt in der anderen Richtung, die Linden abwärts, dem Brandenburger Tor zu ...

Das Geschwätz der beiden hatte sie bloß gelangweilt, immer nur Erich und Otto, ewig bloß Krieg und Zusammenhalt. Pustekuchen! Jetzt sollten sie wohl noch näher aufeinanderhocken, eine einzige Verwandtschaft und Liebe – sie hatte von den letzten eingezogenen Wochen die Nase wahrhaftig voll! Und überhaupt Krieg – wieso denn Krieg? Dies war erst einmal Mobilmachung – und so viel hatte sie in letzter Zeit auch schon begriffen, daß Mobilmachung kein Krieg war.

Aber wenn Krieg so wurde, wie heute Mobilmachung aussah, dann war er eine großartige Sache! Noch nie hatte sie die Männer so aufgekratzt gesehen, mit so leuchtenden Augen! Ein kleiner Dicker, ein Uralter, sicher schon vierzig, mit Knebelbart, faßte sie plötzlich um die Taille. »Na, Kleene?! Freuste dir ooch? Ick freu mir!«

Und war schon weiter, ehe sie noch protestieren konnte. »Kriegsbraut gesucht, die mir noch schnell die Socken stopft!« rief ein junger Mann, krähend. Und alle lachten.

Es war herrlich, sich von diesem Gewoge treiben und wiegen zu lassen, es war Feststimmung!

Eine Hand legte sich von hinten auf ihre Schulter, eine etwas heisere Stimme fragte: »Na, Frollein, immer noch jut zuweje?«

Sie fuhr herum, und erschrocken sah sie in ein Gesicht, das sie einmal kurze Minuten gesehen und nicht vergessen hatte, in ein bräunliches, freches Gesicht mit schwarzem Schnurrbart.

»Was wollen Sie?« rief sie. »Ich kenn Sie gar nicht – lassen Sie mich gefälligst los!«

Der junge Mann lächelte. Er sah sie an und sagte: »Det macht ja nischt, wenn Se mir nich kennen – denn werden Se mir eben kennenlernen!«

»Lassen Sie mich zufrieden! Oder ich rufe einen Schutzmann!«

»Na, rufen Se doch, Frollein, rufen Se! Ick helf Ihnen jerne rufen. Oder wollen wa zusammen zu einem jehn, wie, wat? Det macht mir jar nischt, so ein Blauer – blau is immer meine Lieblingsfarbe jewesen. Sie haben auch ein hübschet blauet Kleid an, Frollein.«

Eva war immer eine richtige Berliner Göre gewesen, frech und vorlaut. So leicht konnte ihr niemand Angst einjagen. Aber jetzt hatte sie Angst, ihre Frechheit verging vor der Selbstsicherheit dieses Kerls, seiner kalten Großschnäuzigkeit, der unverschämten Art, mit der er ihr Kleid antippte, gerade auf der Brust. Und zwischen den Brüsten hing ...

»Bitte, lassen Sie mich gehen«, bat sie schwach. »Es muß eine Verwechslung sein ...«

»Natürlich laß ick Ihnen jehn«, antwortete er lachend. »Jehn is bei die Hitze jesund. Kommen Se man, Frollein, ick jeh ooch'n Stückchen.« Und er faßte sie ungeniert unter den Arm. »Wat die Affen sich haben«, fuhr er überlegen fort, »bringen sich um, vor Bejeisterung, bloß weil se in'n Krieg dürfen. Als wenn se det nich einfacher hätten, det Abschlachten, vorm Spiegel mit'm Rasiermesser. – Nee«, sagte er abschließend, »so was is nischt for uns – wir sind mehr für Lebeschön, wat, wie?«

»Bitte ...«, flehte sie eindringlich. »Lassen Sie mich gehen, ich kenn Sie doch gar nicht!«

»Mächen!« flüsterte er. Plötzlich hatte sich sein lächelndes Gesicht verändert, er sah sie mit einem bösen, kalten Zorn an. »Mach mir keene Zicken! Seit vier Wochen loof ick Berlin ab nach dir, nu find ick dir endlich – denkste, ick laß dir nu wieder loofen?«

Er sieht sie drohend an, und unter dieser Drohung erzittert sie und schweigt.

»Denkste, ick hab dir die Sachen in deine dußlije Marchttasche gesteckt, von der det Bild an alle Litfaßsäulen klebt, damit du se behältst? Nee, Frollein, so doof sind wir nich ... Det mußte mir allet fein wieder abliefern ...«

Er sah sie an, und sie, gegen ihren Willen, sie nickte ...

»Und wenn de abjeliefert hast, denn sind wir noch lange nich fertig miteinander! So eine wie dich ha'ick schon lange jesucht, frisch aus Mutters Mottenkiste, det erleichtert mir mein Jeschäft ... Wat denkste, wie fein ick dir anlernen tu! Du wirst noch 'ne janz jroße Nummer – aufm Alex werden se sich dein Bild einrahmen: Det is nämlich die, die mit 'nem Juwelendiebstahl bei Wertheim anjefangen hat!«

»Bitte nicht!« flehte sie. »Die Leute ...«

In ihrem Kopf arbeitete es fieberhaft. Es mußte möglich sein, sich von ihm loszureißen und im Gedränge zu verschwinden ... Sie wartete nur auf den Augenblick, wo der Druck seines Armes einmal nachließ ...

»Also, wie heißte denn?«

»Eva ...«, sagte sie schwach.

»Na, und wie denn weiter, meine süße, kleene Eva?«

»Schmidt!«

»Na natürlich doch, Schmidt! Ha'ick doch jleich jedacht – Meier wäre mir auch zu jewöhnlich jewesen! – Und wo wohnste denn, Frollein Schmidt?«

»In der Lützowstraße.«

»Also in de Lützowstraße, feine Jejend, wie? Und wo haste denn die Dingerchen, die feinen, blanken, glitzrigen, du weeßt schon. Zu Hause, wat?«

»Habe ich auch!« sagte sie kühn. Sie war jetzt fest entschlossen, ihm, sobald es paßte, mit der freien Hand in die Augen zu fahren, sie würde ihn kratzen, loskommen ...

»Also zu Hause«, wiederholte er höhnisch. »Auch ne jute Jejend, bei euch zu Hause, wat, wie? Und wo haste sie denn da? Wohl unterm Kopfkissen, wat?«

»Nein«, sagte sie. »Im Gewicht von der Hängelampe.«

»Im Jewicht von der Hängelampe«, wiederholte er nachdenklich. »Det is jar nich so schlecht, du hast ja Talente für deinen Beruf! Det Vasteck haste dir nich eben erst ausjedacht. Du hast also schon früher jeklaut, wat?«

Sie antwortete nicht, wütend über ihren Fehler.

Und wieder kommt bei ihm dieser plötzliche Übergang von lachendem, grinsendem Hohn zu brutaler, nackter Drohung. Sein dunkles Gesicht nahe ihrem weißen, flüstert er mit heiserer Stimme: »Un nu will ick dir ma erzählen, wat jespielt wird, mein Frollein Schmidt aus de Lützowstraße mit de Hängelampe! Kuschen wird jespielt, Parieren wird jespielt – wenn ick pfeife, kommste, vastanden?! Vastanden – du? Sieh mir an, du – Nutte!« Sie sieht ihn an, zitternd.

»Du Nutte von einem Dieb, du!« sagt er zwischen den Zähnen. »Du feinet Frollein – Eva – Hackendahl!«

Er sieht sie triumphierend an, er kostet mit Wonne ihr Entsetzen, als sie merkt, es gibt kein Entrinnen, er kennt ihren Namen. Es gibt keine Flucht ...

Er genießt seinen Triumph. Aber da er sie so vollständig unterworfen sieht, nur noch schneeweiß und zitternd, verliert sich sein Zorn. Der Sieger wird großmütig.

»Ja, da staunste«, sagt er lachend. »Mußte dir eben keinen alten Herrn anschaffen, der deinen Namen über de halben Linden tutet! Siehste, ick bin ja nich so, ick tu nich, als könnt ick hexen. Det war doch dein Vater, der so rief ...?«

Sie nickt.

»Wenn ick dir wat frage, haste zu antworten! Sag ja!«

»Ja ...«

»Sag: ›Ja, Eugen!‹«

»Ja – Eugen.«

»Jut – und nu, wo wohnste wirklich? Aber mach mir nich noch mal Schwindel, ick versprech dir, für jedesmal, wo de mir anschwindelst, schlag ick dir alle Knochen kaputt! Und ick tu's ...«

Sie ist überzeugt, daß er es tun wird, ihr Kopf sucht nach einem Ausweg und findet doch keinen ...

»Wo wohnt ihr?«

»Frankfurter Allee.«

»Wo da?«

»Der Fuhrhof ...«

Er pfeift durch die Zähne. »Ach, der is det, der mit de Droschken? Den kenn ick doch, die janze Zeit grüble ick: Die Wachtmeisterfresse kennste doch! Aber da krieg ick ja ein feinet Frollein Braut, da krieg ick ja ein prima Vahältnis, det is ja jroßartig ...« Er ist plötzlich sehr aufgeräumt. »Und nu paß uff, Kleene ... Evchen ...«

Sie zittert wieder.

»Kuck bloß nich so ängstlich. Vor mir brauchste doch keene Angst haben, ick bin der jutmütigste Kerl von janz Berlin, ein wahrer Trottel bin ick – wenn de tust, wat ick dir sage. Also heute abend um neune biste an der Ecke von der Großen und Kleenen Frankfurter Straße. Vastehste?«

Sie nickt, aber als sie eine Bewegung bei ihm sieht, sagt sie rasch: »Ja – Eugen.«

»Die blanken Dingerchen, du weeßt schon, die brauchste nich extra mitzunehmen, weil de se nämlich schon mit hast ... So doof mußte nich noch mal sind, 'nem ausjekochten Jungen zu erzählen, se sind im Jewicht von der Hängelampe, wo ick die janze Zeit det Band in deinem Ausschnitt sehe ...«

Wieder erblaßt sie.

»Aber ick bin nich so, die Sore nehm ick dir ab, wat willste ooch damit? Tragen kannste die Dinger doch nich, und du fällst bloß rein damit. Aber ick jeb dir mal wat anderes, wat de tragen kannst, ooch schöne Sachen – ick hab es ja dazu ...

Und überhaupt, Mächen«, und jetzt drückt er ihren Arm, aber zärtlich, »det wird 'ne janz prima Sache mit uns beiden, da mußte dir nich vor ängsten, wir werden noch manche jute Stunde miteinander haben.«

Er lacht kurz, ihr Arm liegt jetzt still in seiner umspannenden Hand. »Nur eins: Parieren mußte, da hilft dir nischt – un wenn ick oben uff de Siejessäule sage: Spring!, denn springste, sonst kenn ick mir nich vor Wut.«

Er läßt sie plötzlich los, sieht sie prüfend an. »Haste Angst, wie, wat?«

Sie nickt langsam, Tränen in den Augen.

»Det jibt sich, Evchen«, sagt er, oberflächlich tröstend. »Zuerst hat jede Angst jehabt, aber det jibt sich. Un mach mir keene Dummheiten mit Rennen uff de Polizei – da schlag ick dir langsam tot, heute oder in zehn Jahren.«

Er lacht kurz, nickt noch einmal und befiehlt dann: »Marsch, nach Haus!«

Ehe sie sich noch besinnen kann, ist er fort.

4

In einem Zimmer im ersten Stock eines Hauses an der Jägerstraße geht ein schwerer, schwärzlicher Mann in Hemd und Hose auf und ab. Er geht auf und ab, er pfeift dabei die Marseillaise, seine Füße in ledernen Hausschuhen gehen sachte über den mit Linoleum belegten Boden.

Ab und zu tritt der Mann ans Fenster und sieht auf die Jägerstraße hinunter, die auch etwas von dem Trubel abbekommen hat, der an diesem ersten Mobilmachungsnachmittag Unter den Linden herrscht. Dann schüttelt der Mann den Kopf, er pfeift leiser, aber er marschiert weiter.

Nun fliegt draußen die Etagentür auf. Rumm! Rumm! schlägt sie zu, eilige Schritte kommen, die Tür wird mit einem Ruck geöffnet, und in ihrem Rahmen steht rasch atmend, mit geröteten Wangen Erich Hackendahl.

Der schwere dunkle Mann sieht den jungen Menschen ernst an. »Nun ...?« fragt er.

Erich ruft nur: »Mobil!«

Der Mann sieht ihn weiter unverwandt an, er nimmt dabei die Weste vom Stuhl und fängt an, sie überzuziehen. »Das war zu erwarten«, sagt er schließlich langsam. »Aber mobil heißt noch nicht Krieg!«

»Ach, Herr Doktor!« ruft Erich noch immer ganz atemlos. »Die Menschen sind ja so begeistert! Sie haben gesungen: ›Nun danket alle Gott‹. Ich habe auch mitgesungen, Herr Doktor.«

»Warum sollen sie nicht begeistert sein?« fragt der Doktor und fährt in die Jacke. »Es ist doch etwas Neues! – Und dann hat wahrscheinlich ihr strahlender Kaiser wieder einmal geredet, von schimmernder Wehr, von Feinden in aller Welt ...«

»Nichts! Nichts! Nichts von alledem!« ruft der Junge. »Ganz falsch, Herr Doktor! Ein Schutzmann ist aus dem Portal gekommen, ein ganz einfacher Blauer, und hat die Mobilmachung bekanntgemacht. Es war herrlich!«

»Er ist ein großer Theatermann, euer Heldenkaiser«, sagt der schwere Mann ungerührt. »Jetzt macht er es also mit der altpreußischen Schlichtheit – er hat Friedrich den Einzigen kopiert. Aber, Junge, Erich, merkst du denn nicht, daß du ihm auf den Leim gehst – du kennst doch seine leidenschaftliche Liebe für Prunk und Trara! Und plötzlich ein einfacher Schutzmann – das ist doch alles Mache!«

»Es war aber keine Mache, als wir den Choral sangen«, antwortete der Junge, fast trotzig.

»Und hast du dir denn nicht die Leute angesehen, die da sangen? Das war doch nicht das Volk, mein Sohn, nicht der Arbeiter, der die Werte schafft. Das waren dicke Bürger, und wenn die ihrem Gott für die Mobilmachung danken, so danken sie ihm für das große Geschäft, das sie wittern. Das ganz große Geschäft, Kriegsgewinne aus der Leiche des Bruders ...« »Oh, pfui, pfui, Herr Doktor!« rief Erich leidenschaftlich. »Sie sind ja nicht dabeigewesen! Die haben nicht an Geschäft gedacht, die haben an Deutschland gedacht, das bedroht ist, von Rußland, von Frankreich, vielleicht sogar von England ...«

»Überlege doch ruhig, Erich«, sagte der dunkle Mann, ungerührt von dem Ausbruch des Jungen. »Du hast doch einen guten Verstand, denke doch einmal nach! Wenn wir jetzt mobil machen, bedrohen wir doch wieder die anderen, und vielleicht steht zur gleichen Stunde der Arbeiter an der Newa und an der Seine und fühlt sein Vaterland bedroht, nun aber von uns!«

Erich stand betroffen, nachdenklich. »Die anderen ...«, fing er an.

Der Mann lächelte. »Jetzt willst du sagen, Erich, daß die anderen angefangen haben – wie die Kinder einander bei der Mutter verklagen. Wir sind aber keine Kinder mehr, Erich. Der Arbeiter, Erich, hat kein anderes Vaterland als die Arbeiterschaft der ganzen Welt ...«

»Aber Deutschland ...!«

»Deutschland, Erich, ist heute noch ein Land, in dem der Arbeiter rechtlos ist. ›Arbeite und kusche‹ ist hier die Losung. Der deutsche Arbeiter hat nur einen Freund auf der Welt, das ist der Arbeiter in Frankreich, der Arbeiter in Rußland – und auf den soll er schießen?« Plötzlich jäh: »Wir sind hundertzehn sozialdemokratische Abgeordnete im Reichstag – wir bewilligen die Kriegskredite nicht, wir sagen nein. Mit uns sagt nein fast ein Drittel des deutschen Volkes.«

»Ich habe am Schloß gestanden«, fing Erich nach einer Pause wieder hartnäckig an. »Ich habe sie singen hören, ich habe mitgesungen, Arbeiter haben mitgesungen. Es kann keine schlechte Sache sein, die uns so begeistert hat ...«

»Es ist eine schlechte Sache. Du bist jetzt berauscht, Erich, aber es ist ein schlimmer Rausch. – Du weißt noch nicht, was das ist, ein Krieg, wenn Menschen Menschen erschießen, wenn es einer Mutter Sohn erlaubt ist, einer anderen Mutter Sohn zu töten, zu verstümmeln ...«

»Und wissen Sie denn, was das ist: Krieg?« rief Erich.

»Ich weiß es. Seit meiner Jugend habe ich für den Arbeiter gekämpft, auch das war ein Krieg, es gab alle Tage Tote, Verstümmelte ... Aber ich habe gewußt, wofür ich kämpfte, dafür, daß der deutsche Arbeiter, und mit ihm der Arbeiter der Welt, ein wenig glücklicher, ein wenig leichter lebte. Wofür kämpft ihr? Sag es doch!«

»Für die Verteidigung Deutschlands!«

»Aber was ist denn dein Deutschland?! Hat es ein Haus für seinen Sohn, tägliches Brot für ihn, auch nur das Recht auf Arbeit?! Soll er sein verwanztes Bett verteidigen, den Schutzmann, der ihm seine Versammlungen auflöst? Das hat er in der ganzen Welt, dafür braucht er kein Deutschland!«

»Es muß falsch sein, was Sie sagen«, antwortete Erich. »Ich kann es nicht mit Worten sagen, aber ich fühle das: Deutschland ist noch etwas anderes ... Und wenn der Arbeiter wirklich nur ein verwanztes Bett hat, wie Sie sagen, so wird er mit ihm in Deutschland unter Deutschen glücklicher sein als in der ganzen anderen Welt ...«

Sie standen eine Weile schweigend, auf der Straße schwoll der Jubel und Trubel und sank wieder, schwoll und sank, es war wie Brandung des Meeres ...

Der große Mann bewegte sich, wie aus einem Traum. »Du mußt jetzt gehen, Erich«, sagte er ganz ruhig. »Ich kann dich nicht länger bei mir behalten.«

Erich machte eine Bewegung.

»Nein, Erich, ich schicke dich nicht im Ärger fort. Aber ich bin Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei, ich kann keinen Kriegsbegeisterten als Sekretär um mich haben. Das geht nicht. Als du vor vier, fünf Wochen zu mir kamst, ratlos, hilflos, da dachte ich, ich könnte dir helfen. Du würdest einer der Unseren werden, ein Mitarbeiter am großen Werk der Befreiung der Arbeiterschaft ...«

»Sie waren sehr gut zu mir, Herr Doktor«, sagte Erich stockend.

»Du hattest Schlimmes getan, Erich, und du wolltest noch Schlimmeres tun, das Schlimmste, was ein Mensch tun kann: dich wissentlich, willentlich in den Dreck legen und verkommen. Ich kannte dich aus den Debattierversammlungen, ich kannte deinen schnellen, scharfen Geist, etwas Kritisches, das dich mit deinem behaglichen Daheim unzufrieden sein ließ. Du schienst mir ein Umstürzler, ein Rebell – und wir brauchen Rebellen.«

Erich machte eine hastige Bewegung, besann sich und schwieg.

»Du willst sagen«, sprach der Abgeordnete, »daß du noch immer ein Rebell bist. Aber du bist es nicht, denn du willst in einen Krieg ziehen, der die bestehende schlechte Ordnung verteidigt. Denn du willst doch mit, nicht wahr? Kriegsfreiwilliger – ja?«

Erich nickte trotzig. »Ich muß«, sagte er. »Ich fühle, das Volk will diesen Krieg, nicht ich allein!«

»So?« fragte der Abgeordnete spöttisch. »Wollen wir jetzt schon einen Krieg? Ich dachte, wir verteidigen uns. Nun, wir Sozialdemokraten jedenfalls wollen ihn nicht, wir werden gegen Regierung und Kriegskredite stimmen. So werden die Arbeiter in aller Welt tun – und es wird aus sein mit euerm Krieg!«

Er schnippte mit den Fingern.

»Es wird nicht aus sein mit dem Krieg – und ihr werdet auch für den Krieg stimmen!« rief Erich. »Sie haben ja das Volk noch gar nicht gesehen, Sie sitzen auf den Büros, auf Fraktionsversammlungen, aber das Volk, das Volk ...«

»Natürlich«, sagte der Mann, »nun erzähle mir noch, daß ich das Volk nicht kenne. – Aber, Erich, wir wollen uns doch nicht im Streit trennen. Du wirst jetzt nach Haus gehen, Erich. Hier«, er schloß den Schreibtisch auf, »sind die vierhundertachtzig Mark, die du mitgebracht hattest – gib sie deiner Schwester zurück. – Es ist gleichgültig«, rief er ungeduldig, »ob das Geld deiner Schwester rechtmäßig gehört oder nicht, du sollst unbelastet von uns heimkehren – dorthin. Und hier hast du achtzig Mark für deinen Vater – du kannst sie unbesorgt nehmen, es ist ungefähr das, was ich als dein Gehalt gedacht hatte, du hast sie redlich verdient.« Leiser: »Ich habe mich immer gefreut, wenn ich dich hier sah ...«

»Sie sind sehr gut zu mir, Herr Doktor«, sagte Erich wieder.

»Nein, ich bin nicht gut zu dir. Ich dürfte dich nicht gehen lassen – in dieses Abenteuer. Aber ich habe keine Zeit, um dich zu kämpfen. Jetzt muß dieser Krieg verhindert werden, das ist mein Kampf.«

Sie standen einen Augenblick schweigend.

»Vielleicht auf Wiedersehen, Erich!« sagte der Doktor dann freundlich.

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor«, antwortete Erich leise.