Kitabı oku: «Wege zur Rechtsgeschichte: Das BGB», sayfa 8
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts geriet diese Regelungstechnik immer stärker in Verruf. Der Ersten BGB-Kommission war die kasuistische Regelungstechnik ausdrücklich vom Justizausschuss des Bundesrates untersagt worden. Lediglich abgeschwächt fanden sich noch Reste dieser Technik, indem versucht wurde, die abstrakte Regel durch Beispiele zu verdeutlichen. Im Vorentwurf Johows betraf dies erneut die Frage des Zubehörs:
§ 16. Das eine Sache oder eine selbstständige Berechtigung […] betreffende Rechtsgeschäft erstreckt sich im Zweifel auch auf diejenigen beweglichen Sachen, welche, ohne Bestandtheile der Hauptsache zu sein, ihr bleibend zu dienen bestimmt, in ein dieser Bestimmung entsprechendes äußeres Verhältnis zu derselben gebracht sind und nach der Verkehrsauffassung als in der Hauptsache begriffen gelten (Zubehör).
§ 18. Unter den in den §§ 16 und 17 bestimmten Voraussetzungen gehören beispielsweise: Zu dem Zubehör eines einzelnen Grundstücks die demselben ohne Rücksicht auf dessen wirtschaftlichen Zusammenhang mit anderen Grundstücken gewidmeten Sachen, wie bewegliche Zäune (Rick- oder Heckenstangen), Rebpfähle, Gartenstecken u dgl.
Die anerkannten Hauptanwendungsfälle wurden aufgezählt, um dadurch die vorangestellte abstrakte Regel zu verdeutlichen. Das BGB nutzte diese Gesetzestechnik des erläuternden Beispiels an einigen Stellen,125 bekannt etwa § 935 Abs. 1 S. 1 BGB: „gestohlen worden, verloren gegangen oder sonst abhanden gekommen“.
2.2.2.3 Lückenfüllung durch Prinzipien
Lückenlosigkeit wurde damit aber gerade nicht erstrebt, sondern lediglich eine Verdeutlichung des gesetzgeberischen Willens. Die Verfasser des BGB glaubten insgesamt nicht daran, dass es möglich sei, ein Gesetzbuch so zu formulieren, dass alle denkbaren Fälle aus ihm entschieden werden könnten. Albert Gebhard, Verfasser des Vorentwurfes für den Allgemeinen Teil, formulierte 1881:
Kein Gesetz kann in dem Sinne vollständig sein, daß es für jedes denkbare, in den Rahmen des von ihm behandelten Rechtsstoffes fallende Verhältniß eine unmittelbar anwendbare Norm an die Hand giebt. Der Versuch, eine Vollständigkeit dieser Art zu erstreben, wäre verkehrtes Beginnen. Das Bürgerliche Gesetzbuch muss im Bedürfnißfalle aus sich selbst, aus dem in ihm enthaltene Rechtsysteme ergänzt werden […]. Das kodifizierte Recht ist nicht eine todte Masse nebeneinander gestellter Rechtssätze, sondern ein organisches Gefüge innerlich zusammenhängender Normen. Die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien tragen den Keim des weiteren Ausbaus in sich. Dieser Ausbau vollzieht sich im Wege der Analogie.126
Kodifikationen haben demnach zwangsweise Gesetzeslücken. Gleichwohl glaubte Gebhard, dass dies nicht zu freier richterlicher Lückenfüllung führen müsse. Das Gesetzbuch könne „aus sich selbst“ heraus ergänzt werden, da es auf Prinzipien fuße, die „den Keim des weiteren Ausbaus in sich“ trügen. Er nannte dieses Verfahren „Analogie“. Das ist heute schon deshalb kaum verständlich, weil dies nach modernen Definitionen eine „planwidrige Regelungslücke“ voraussetzt, während Gebhard genau diesen Plan, das zugrunde liegende System, zur Lückenfüllung verwenden wollte. Um diese Konzeption zu verstehen, muss man erneut ins 19. Jahrhundert blicken. Gebhard machte an dieser Stelle deutlich, wie stark er und auch die anderen Gesetzesverfasser von der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts geprägt waren. Savigny hatte, wie viele, 1814 die Vorstellung kritisiert, man könne mit Kasuistik Vollständigkeit erreichen, und ein anderes Gesetzgebungsideal formuliert.
Allein es giebt allerdings eine solche Vollständigkeit in anderer Art, wie sich durch einen Kunstausdruck der Geometrie klar machen läßt. In jedem Dreyeck nämlich gibt es gewisse Bestimmungen, aus deren Verbindung zugleich alle übrige mit Nothwendigkeit folgen: durch diese, z. B. durch zwey Seiten und den dazwischenliegenden Winkel, ist das Dreyeck gegeben. Auf ähnliche Weise hat jeder Theil unsres Rechts solche Stücke, wodurch die übrigen gegeben sind: wir können Sie die leitenden Grundsätze nennen. Diese heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den innern Zusammenhang und die Art der Verwandtschaft aller juristischen Begriffe und Sätze zu erkennen, gehört eben zu den schwersten Aufgaben unsrer Wissenschaft, ja es ist eigentlich dasjenige, was unserer Arbeit den wissenschaftlichen Charakter gibt. Entsteht nun das Gesetzbuch in einer Zeit, welche dieser Kunst nicht mächtig ist, so sind folgende Übel ganz unvermeidlich. Die Rechtspflege wird scheinbar durch das Gesetzbuch, in der Tat aber durch etwas anderes, was außer dem Gesetzbuch liegt, als der wahrhaft regierenden Rechtsquelle, beherrscht werden.127
Savigny sprach 1814 seiner Zeit damit die Fähigkeit zu einer Kodifikation ab, da es bisher keine hinreichende wissenschaftliche Durchdringung des Rechts gebe. Genau dies hatten Savignys Schüler, allen voran Puchta, versucht, indem sie das bestehende römische Recht auf seine Grundsätze und Prinzipien befragten und so an einem kohärenten Systemzusammenhang arbeiteten. Dahinter stand die Idee, dass es dann möglich sein musste, das Gesetzbuch aus seinen leitenden Grundsätzen heraus zu ergänzen, wenn ungeregelte Fälle auftraten. Die entscheidende Technik hierfür war die Analogie, bei der aus einem Rechtssatz auf das ihn bestimmende Prinzip zurückgegangen wurde, um dann aus diesem Prinzip eine Regel für den nicht geregelten Fall zu entwickeln.
Diese Idee prägte das Denken der Verfasser des BGB stark. Vollständigkeit sollte über einen Zusammenhang leitender Prinzipien erreicht werden, der es ermöglichen sollte, fehlende konkrete Regelungen aus diesen Prinzipien im Geiste der Kodifikation zu entscheiden. Damit so etwas funktionierte, kam es darauf an, das Gesetz als Sinnzusammenhang zu konstruieren. Gottlieb Planck, der als Mitglied der Ersten und der Zweiten Kommission und Vorsitzender der Redaktionskommission maßgeblichen Einfluss auf das endgültige BGB hatte, machte die Schwierigkeit deutlich. Es sei „für die sichere Handhabung des Gesetzes von größter Bedeutung, daß die juristische Construction der für die verschiedenen Zwecke angewandten Mittel eine einheitliche harmonisch ineinandergreifende ist. Wenn die verschiedenen Theile einer Maschine nicht zu einander passen, wenn sie nicht durch einen einheitlichen Gedanken zusammengehalten, durch denselben zu einer einheitlichen Construction zusammengeschlossen werden, so versagt die Maschine ihren Dienst oder arbeitet doch nur unsicher und mangelhaft. Ebenso steht es mit dem juristischen System eines Gesetzes. Fehlt es aber an der einheitlichen Construktion, so entstehen Lücken und Zweifel der manigfachsten ersten Art und die Anwendung in der Praxis wird nothwendig unsicher.“128
Es lag auf der Hand, dass ein solches Einheitskonzept durch die Verteilung der Materien auf Verfasser von Vorentwürfen und die späteren Zwänge zum Kompromiss in der Kommissionsarbeit nicht erleichtert wurde. Für die Rechtsanwender, also insbesondere die späteren Richter unter dem BGB, folgte aus diesem Konzept, dass man nicht einfach mit dem Wortlaut des BGB arbeiten konnte, sondern es bis in seine Grundstrukturen und leitenden Prinzipienentscheidungen verstanden haben musste. Das BGB war ein Buch für den juristischen Fachmann. Planck, der das BGB in seinem Kommentar nach 1900 bis zu seinem Tod im Jahr 1910 weiter begleitete, erläuterte wie das BGB versuchte, diese Prinzipien dem Rechtsanwender an die Hand zu geben.129 Einerseits dürfe sich ein Gesetz nicht darauf beschränken, „die leitenden Rechtsgedanken auszusprechen“, sondern es müsse „die Rechtssätze finden, welche am besten geeignet sind, den leitenden Rechtsgedanken zu verwirklichen“. Andererseits müssten die „großen, die einzelnen Rechtsinstitute beherrschenden Prinzipien natürlich aus dem Gesetzbuche klar hervortreten“.130 Planck benannte selbst § 125 S. 1 BGB als ein solches Prinzip, also die Nichtigkeit formwidriger Verträge. Als Beispiel für eine Norm, die nur Anwendung eines Prinzips, also bloße Folge ist, nannte er § 154 Abs. 2 BGB: „Ist eine Beurkundung des beabsichtigten Vertrags verabredet, so ist im Zweifel der Vertrag nicht geschlossen, bis die Beurkundung erfolgt ist“. Besonders die großen Leitprinzipien des BGB fanden ausdrückliche Erwähnung und wurden durch die Möglichkeit der Einschränkung gleich als Regel und Ausnahmeverhältnis formuliert: § 305 BGB 1900: „Zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ist ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich, soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt.“
§ 903 BGB 1900: „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und Andere von jeder Einwirkung ausschließen.“
Welche Bedeutung diesem Denken von Prinzipien her beigemessen wurde, zeigten die Auslegungsregeln, die Gebhard in seinem Vorentwurf zum Allgemeinen Teil formulierte:
§ 1. Gesetze sind so auszulegen, dass derjenige Sinn zur Geltung kommt, welcher nach den Sprachregeln mit der gewählten Ausdrucksweise verträglich und nach der Absicht des Gesetzgebers mit derselben verbunden ist.
§ 2. Erhellt, dass der einem Rechtssatze zu Grunde liegende eigentlich Gedanke des Gesetzgebers in demselben einen nicht völlig entsprechenden Ausdruck gefunden hat, so ist der eigentliche Gedanke des Gesetzgebers zu Geltung zu bringen.
§ 3. Auf Rechtsfälle, für welche die Gesetze keine Vorschriften halten, finden die für rechtsähnliche Verhältnisse gegebenen, eine Ausdehnung empfänglichen Vorschriften entsprechende Anwendung. In Ermangelung solcher Vorschriften ist nach den aus dem Geiste der Rechtsordnung sich ergebenden Grundsätzen zu entscheiden.
Gebhard bewegte sich hier ganz auf der Ebene der Auslegungslehre, wie sie in der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts herrschend war. Der Gesetzesanwender sollte Gesetze so verstehen, wie es dem Willen des Gesetzgebers entsprach (§ 1), also auch den Wortlaut anhand des Gesetzgeberwillens notfalls korrigieren (§ 2). Man konstituierte eine „grammatisch-logische“ Interpretation, wobei „logisch“ nicht „formallogisch“ die Regeln des Denkens meinte, sondern die Ermittlung des Sinnes des Gesetzes, mit anderen Mitteln als der Grammatik. Ergab sich daraus eine Lücke, dann sollte diese nach den Regeln der Gesetzesanalogie gefüllt werden, indem man gegebene Vorschriften mit ähnlichem Regelungsproblem analog anwandte, wenn der geregelte Fall Ausdruck eines gesetzgeberischen Prinzips war, das den ungeregelten Fall umfasste (§ 3 S. 1). War dem „Geist des BGB“ ein solches Prinzip nicht zu entnehmen, sollten die Grundsätze der Rechtsanalogie eingesetzt werden. Nun musste der Rechtsanwender, ohne sich auf Prinzipien des BGB berufen zu können, im Geiste der gesamten Rechtsordnung eine neue Norm bilden (§ 3 S. 2). Das Verfahren war als Reihenfolge formuliert: grammatisch – logisch – Gesetzesanalogie – Rechtsanalogie.
Mit dem Rückgriff auf den Geist der gesamten Rechtsordnung war die Außengrenze des Interpreten fixiert. Man übergab dem Anwender Normen und Prinzipien und verwies ihn bei Lücken und Widersprüchen notfalls an den „Geist der Rechtsordnung“. Wie Windscheid klarstellte, musste für die Feststellung desselben „von den in dem Rechtsganzen wirklich ausgesprochenen Rechtssätzen ausgegangen, und die in diesen sich darstellende spezifische Art und Weise der Rechtsauffassung auf das einer rechtlichen Normierung bedürftige Rechtsverhältnis übertragen werden“.131 Zu beachten waren also weitergeltende Landesgesetze und Sondergesetze, aber auch das Ius Commune sowie Gewohnheitsrecht und Gerichtsgebrauch. Hieraus galt es, „den eigentlichen Gedanken des Rechtsganzen zu erkennen“.132 Das war offenbar ein Verfahren, welches viel Spielraum bot, etwa wenn man bedenkt, dass schon die normale Auslegung für Windscheid erforderte, „hinter dem von dem Gesetzgeber wirklich gedachten Gedanken denjenigen hervorzuziehen, den er eigentlich hat denken wollen“.133 Planck betonte gleichermaßen, dass man von einer Ermittlung des Gesetzgeberwillens nicht zu viel erwarten durfte:
Entscheidend für die Auslegung des Gesetzbuches kann aber nur dieses selbst sein. Die Auffassung derjenigen, welche das Gesetzbuch verfaßt haben, ist unzweifelhaft ein wichtiges Auslegungsmittel; entscheidend ist sie nicht. Hat die Auffassung der Verfasser einen entsprechenden Ausdruck im Gesetzbuch selbst nicht gefunden, ergibt vielmehr der Wortlaut des Gesetzbuchs und der Zusammenhang seiner Vorschriften einen anderen Sinn, so ist dieser maßgebend.
Das BGB sah sich selbst also keineswegs als lückenlos an. Es überwies der Rechtswissenschaft und der Rechtspraxis die Füllung von Lücken und gab hierfür mit einer weiten Auslegungslehre, mit der Analogie und der juristischen Konstruktion entsprechende Hilfsmittel an die Hand. Grenze war der „Geist der Rechtsordnung“, also die Pflicht, dem Willen des Gesetzgebers möglichst zu folgen. Zwei Überschreitungen dieser Unterwerfung des Rechtsanwenders unter die Rechtsordnung hob Windscheid hervor:
1) Unzulässig war es, das bestehende Recht „aus dem sog. Naturrechte zu ergänzen, d. h. einem durch apriorische Konstruktion gefundenem Rechte, dessen Inhalt in jedem gegebenen Falle doch nur dasjenige, was der Konstruierende für wahr hält“.134
2) Unzulässig war zudem eine Rechtsfindung aus der „subjektiven Vernunft“ des Richters, also aus seinem Rechtsempfinden.135
Beide Grenzen sollten im 20. Jahrhundert noch oft thematisiert werden.
Literatur: Jan Schröder, Das Verhältnis von Rechtsdogmatik und Gesetzgebung in der neuzeitlichen Rechtsgeschichte (am Beispiel des Privatrechts), in: Okko Behrends u. Wolfram Henckel (Hgg.), Gesetzgebung und Dogmatik, Göttingen 1988, S. 54 f.; Hans Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, Frankfurt a. M. 1995, S. 287 ff., 337 ff.; HKK/Joachim Rückert, Vor § 1: Das BGB und seine Prinzipien, Tübingen 2003, Rn. 16 ff.; Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen. Theorie und Praxis der Gesetzgebungstechnik aus historisch-vergleichender Sicht, Tübingen 2004, S. 325 ff., 334 ff.; Stephan Meder, Gottlieb Planck und die Kunst der Gesetzgebung, Göttingen 2010; Jan Schröder, Art. Lücke im Gesetz, Lücke im Recht, in: HGR, Bd. 3, 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 1080 ff.
2.2.2.4 Vertiefung: Die Materialien zum BGB
„Können Sie mir den Unterschied zwischen Motiven und Protokollen erklären?“ Diese mir als damaligem Assistenten von einem Zivilrechtsprofessor gestellte Frage mag als Hinweis dafür genügen, dass auch in berufenem Munde oft nicht bekannt ist, wie man das BGB mittels seiner Materialien korrekt historisch auslegt. Dies ist zunächst einmal zwanglose Folge des weitgehenden Konsenses in der deutschen Methodenlehre, dass historische, „subjektive“ Auslegung des Gesetzes anhand der Materialien zu seiner Entstehungsgeschichte keine den Anwender bindenden Einsichten produziert. Das ist auf der einen Seite deswegen richtig, weil nur der Gesetzeswortlaut, nicht die Materialien vom Gesetzgeber verabschiedet wurden. Auf der anderen Seite ist völlig klar, dass es ohne einen Blick in den Kontext der Gesetzesfindung und damit auch in die Materialien oft nicht möglich ist zu verstehen, was der Gesetzgeber mit dem Erlass der Norm beabsichtigte. Die heutige Ausblendung der historischen Auslegung führt daher in jedem Fall zu einem Rationalitätsdefizit: Nur indem man einen Gesetzgeberwillen möglichst genau rekonstruiert, ist es möglich, von diesem abweichende und möglicherweise – gerade bei einem so alten Gesetz wie dem BGB – auch überaus einleuchtende neue Lösungen als solche zu kennzeichnen und zur Diskussion zu stellen. Dies gilt besonders auch deswegen, weil heute niemand mehr daran glaubt, dass es einen Gesetzeswortlaut geben kann, der sicher Aufschluss über den Willen des Gesetzgebers geben kann. Kein Begriff entzieht sich der Auslegung. Der alte Grundsatz „in claris non fit interpretatio“ hat heute nahezu keine Anhänger mehr. Ohne umfassende Rekonstruktion eines Gesetzgeberwillens gibt es also keine fassbare Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung, da im Prinzip jeder in den Gesetzeswortlaut das hineinlesen kann, was er als Lösung eines Problems vertritt. Insofern muss man kein Vertreter einer bei einem Gesetz aus dem Jahr 1900 heute abwegigen Bindung an den damaligen Gesetzgeberwillen sein, um dennoch historische Gesetzesauslegung für notwendig zu halten; daher nachfolgend ein Überblick über die Tücken der historischen Gesetzesauslegung des BGB von 1900.
Die Schwierigkeit dabei resultiert nicht nur daraus, dass die vor 1900 veröffentlichten Materialien nirgendwo gebündelt vorliegen. Auch die von Benno Mugdan 1899 herausgegebenen „gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich“ sind nicht vollständig. Es fehlen etwa die gedruckt existierenden Vorentwürfe und die „Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen“. Hinzu kommt, dass seit Mitte der 1970er Jahre eine zweite, weitgehend in den Archiven lagernde Quellengruppe sukzessiv veröffentlicht wurde. Da dabei auf einen nochmaligen Abdruck der bereits veröffentlichten Materialien verzichtet wurde, ergibt sich ein schwieriges Zusammenspiel zweier Quellengruppen, das man verstehen muss, wenn man damit arbeitet.
In vielen Fällen wurde das Problem inzwischen dadurch entschärft, dass mit dem Historisch-kritischen Kommentar zum BGB, momentan sechs Bände, ein Hilfsmittel vorliegt, in dem ausgebildete Rechtshistoriker auch eine historische Auslegung des BGB betreiben. Für viele Fragen kommt man gleichwohl nicht um eine historische Auslegung herum; hierfür also ein Überblick über die wichtigsten vorhandenen Auslegungshilfen zum BGB von 1900.
Es lohnt dabei, die Materialien nach ihrer Entstehungszeit zu ordnen, da historische Auslegung auch die Ermittlung der Genese eines gesetzgeberischen Gedankens bedeutet.
1) Es beginnt mit dem Gutachten der Vorkommission zu „Plan und Methode“ vom 15. April 1874, abgedruckt in: Horst Heinrich Jakobs u. Werner Schubert (Hgg.), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen. Einführung, Biographien und Materialien, Berlin 1978, S. 170 ff.
2) Am 17. September 1875 nahm die Erste Kommission ihre Tätigkeit auf und beauftragte zunächst fünf Kommissionsmitglieder mit der Erstellung von Teilentwürfen. Diese Teilentwürfe sind nicht nur wichtig, weil sie die Grundlage der Kommissionsberatungen wurden. Sie sind darüber hinaus eine unschätzbare Quelle für den Einblick in das bis 1879 auf dem Gebiet des Deutschen Reiches geltende Privatrecht. Gemäß dem Arbeitsauftrag erstellten die Autoren der Teilentwürfe nicht nur ausformulierte Gesetzesvorschläge, sondern begründeten diese mit umfangreichen Erwägungen zum aktuellen Rechtszustand und zu den Vor- und Nachteilen der zeitgenössisch geltenden Regelungen. Da die Autoren Spezialisten ihres Gebietes waren, findet man bis heute kaum vergleichbar konzise Überblicke über das gesamte Privatrecht des 19. Jahrhunderts. Die Vorentwürfe von Albert Gebhard (Allgemeiner Teil), Reinhold Johow (Sachenrecht), Gottlieb Planck (Familienrecht), Gottfried von Schmitt (Erbrecht) und die Arbeitsmaterialien sowie die Vorlagen zu einzelnen Fragen von Franz von Kübel, der vor Fertigstellung seines Teilentwurfs zum Schuldrecht starb, wurden, obwohl für den internen Gerbrauch der Kommission bereits damals gedruckt, erst in den 1980er Jahren veröffentlicht in: Werner Schubert (Hg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches, 14 Bände, Berlin 1980 ff.
3) Am 4. Oktober 1881 begann die Erste Kommission mit den Plenarbehandlungen der einzelnen Vorentwürfe. Um diese Debatten nachzuvollziehen, konkurrieren zwei Quellen: Als der Kommissionsvorsitzende Eduard von Pape den Ersten Entwurf am 27. Dezember 1887 dem Reichskanzler und dieser ihn wenig später dem Bundesrat zuleitete, war eine Veröffentlichung von Materialen zum Gang der Kommissionsdebatten nicht vorgesehen. Es existierten Protokolle (der Ersten Kommission, nicht zu verwechseln mit dem amtlich herausgegeben Protokollen, die nur die Zweite Kommission betreffen), die u. a. Auskunft gaben über die Anwesenden, die gestellten Anträge und das Abstimmungsergebnis. Was fehlte, waren jedoch Aufzeichnungen des Verlaufs der Debatten und die Namen der Antragsteller, die gesondert vermerkt waren. Da dies als unzureichend empfunden wurde, entschied der Bundesratsausschuss für Justizwesen auf Vorschlag Papes, 1888 parallel die „Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich“ zu veröffentlichen. Dabei handelte es sich um Texte, die von den Hilfsarbeitern eigenständig nach den Sitzungen verfasst worden waren. Sie enthalten eine nicht im Einzelnen gekennzeichnete Mischung von Auszügen aus den Vorentwürfen, den Protokollen und eigenen Ausführungen der Hilfsarbeiter. Dabei ist nicht nur problematisch, dass sich einige dieser Ausführungen der Hilfsarbeiter auch in den unveröffentlichten Materialien nicht nachweisen lassen. Aus Zeitdruck unterblieb auch eine Überprüfung durch die Kommissionsmitglieder selbst, sodass deswegen die Motive nie von der Kommission offiziell genehmigt wurden. Dies war ein Hauptgrund, warum Werner Schubert und Horst Heinrich Jakobs seit 1978 die unveröffentlichten Materialien sukzessiv herausgaben. Für die Beratungen der Ersten Kommission wurden nun vor allem die Protokolle und die Anträge ausgewertet, die Motive aber nicht nochmals veröffentlicht. Um den Verlauf der Kommissionsdebatten zu verstehen, muss man also neben den amtlichen Motiven immer auch auswerten: Horst Heinrich Jakobs u. Werner Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, 12 Bände und Ergänzungen, Berlin 1978 ff.
4) Nachdem der vom Bundesrat genehmigte Erste Entwurf 1888 veröffentlicht worden war, begann eine umfangreiche Diskussion in der Öffentlichkeit. Einen guten Zugang zu diesen Debatten bietet die vom Reichsjustizamt gefertigte „Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs“, 5 Bände. Berlin 1890. Hier werden die einzelnen Kritikpunkte nach der Ordnung des Ersten Entwurfs zusammengefasst und die Kritiker nachgewiesen. In dieser Phase ändert sich auch das Leitbild der Gesetzesdebatten. Hatte man die Erste Kommission noch als ein Kollegium von Fachleuten mit dem Ziel der Rechtsvereinheitlichung konzipiert, so entdeckte nun die Politik, die bisher weitgehend ausgeschlossen gewesen war, das Gesetzesprojekt als Hebel für Veränderungen. Die „soziale Frage“ bestimmte die Diskussion um eine zweite Zivilrechtskommission. Die Dimension dieser Frage erschließt sich am besten über Sekundärliteratur: Tilman Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Tübingen 2001, zeigt auf breiter Quellengrundlage die Einflüsse dieses Themas auf die BGB-Debatten. Ergänzend lohnt es sich, Abhandlungen über politische Gruppierungen und Lobbyverbände in den Blick zu nehmen, die versuchten, Einfluss auf das BGB zu bekommen. Beispielhaft seien genannt: Thomas Vormbaum, Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2. Aufl. Baden-Baden 1997; Michael Damnitz, Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürgerlichen Gesetzbuch, Baden-Baden 2001; Michael Wolters, Die Zentrumspartei und die Entstehung des BGB, Baden-Baden 2001; Rüdiger Hansel, Jurisprudenz und Nationalökonomie. Die Beratungen des BGB im Königlich Preußischen-Landes-Ökonomie-Kollegiums 1889, Köln 2006; Petra Zrenner, Die konservativen Parteien und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, Münster 2008; Dorothea Steffen, Bürgerliche Rechtseinheit und Politischer Katholizismus, Paderborn 2008.
5) Zwischen 1890 und 1893, also parallel zur Zweiten Kommission, war die Vorkommission des Reichsjustizamtes mit dem Ersten Entwurf beschäftigt. Der Einfluss des RJA ist lange unterschätzt worden. Zwischen dem an Macht verlierenden Bundesrat und dem an Einfluss gewinnenden Reichstag gelang es ihm, nach Bismarcks Ausscheiden eine entscheidende Mitspracheposition zu besetzen. Das RJA war maßgeblich an der Besetzung der Zweiten Kommission beteiligt. Die dortige Vorkommission bereitete die Kommissionsarbeit jeweils vor und legte 1890 einen revidierten Ersten Entwurf vor. Sie nahm damit ganz maßgeblich Einfluss auf die Beratungen. Bis in die Endfassung des BGB griff das RJA in den Gesetzestext ein. Dies betraf weitgehend sprachliche Fragen, aber auch einzelne wirtschafts- und sozialpolitische Änderungen und vor allem eine Ausweitung der Generalklauseln, die das RJA als Mittel zur Bewältigung des wirtschaftlich-sozialen Wandels ansah. Über diesen Prozess informiert Hans Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Frankfurt a. M. 1995. Einzelheiten lassen sich über Jakobs u. Schubert, Die Beratung etc. ermitteln.
6) Zwischen dem 1. April 1891 und dem 8. Februar 1896 beriet die Zweite Kommission in insgesamt 456 Sitzungen über das BGB. Auch hier wurden Protokolle erstellt, die im Wissen um die diesmal geplante Veröffentlichung ausführlicher gefasst wurden. Diese Protokolle wurden erneut nicht von der Gesamtkommission genehmigt. Sie wurden vom Reichsjustizamt 1897 veröffentlicht und sind auch in der Zusammenstellung von Mugdan enthalten. Darin fehlen jedoch die Namen der Redner, Antragsteller und Abstimmenden. Diese wurden dann von Jakobs u. Schubert, Die Beratung etc. durch Rückgriff auf die unveröffentlichte Zusammenstellung der Anträge erstmals offengelegt. Erneut bedarf es also einer Doppellektüre.
7) Zwischen dem 22. Oktober 1895 und dem 16. Januar 1896 wurde das BGB im Justizausschuss des Bundesrats debattiert. Die Quellen hierzu wurden weitestgehend nicht publiziert. Protokolle wurden nicht geführt. Die in verschiedenen Archiven verstreuten Hinweise auf die Debatten wurden von Jakobs u. Schubert, Die Beratung etc. ausgewertet.
8) Am 16. Januar 1896 erschien die Denkschrift des RJA, abgedruckt bei Mugdan sowie in Jakobs u. Schubert, Die Beratung etc.
9) Zwischen dem 3. Februar 1896 und dem 30. Juli 1896 wurde das BGB im Reichstag debattiert. Die Debatten lassen sich aus den stenografischen Berichten und den Reichstagsdrucksachen rekonstruieren. Eine genaue Zusammenstellung der verschiedenen Sitzungen findet sich bei Georg Maas, Bibliographie der amtlichen Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuche für das Deutsche Reich und zu seinen Einführungsgesetzen, Berlin 1897, S. 27 ff. Die Reichstagsdebatten sind auch in Mugdan ausgewertet worden.
10) Nach Verkündung des BGB durch den Kaiser am 18. August 1896 (RGBl. 1896, S. 195) begann eine kaum noch überschaubare Publikationsflut bis zum am 1. Januar 1900 in Kraft tretenden neuen Gesetz. Einen guten Überblick vermittelt Georg Maas, Bibliographie des Bürgerlichen Rechts: Verzeichnis von Einzelschriften und Aufsätzen über das im Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich vereinigte Recht, Berlin 1907, der diese Sammlung jährlich im Archiv für Bürgerliches Recht von Bd. 18 bis zu Bd. 26 ergänzte.
Literatur: Horst Heinrich Jakobs u. Werner Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen. Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB – Einführung, Biographien, Materialien – Berlin 1978, insb. S. 17 ff., 40 ff., 57 ff. und passim (dort S. 69 ff. Kurzbiografien der wichtigsten Mitarbeiter am BGB); Jan Thiessen, Die Wertlosigkeit der Gesetzesmaterialien für die Rechtsfindung – ein methodengeschichtlicher Streifzug, in: Holger Fleischer (Hg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, Tübingen 2013, S. 45 ff.
2.3 Ergebnis: Das BGB als Kodifikation des Privatrechts
Das BGB als Kodifikation bekommt damit Konturen: Sein Ziel war Rechtseinheit. Dies lag bereits im Anspruch begründet, Gesetze zu formulieren, die für alle Bürger des Deutschen Reiches verbindlich waren. Der Einheitsanspruch ging jedoch weiter. Zwar hatte das BGB niemals den Anspruch, das Zivilrecht vollständig zu kodifizieren. Sondergesetze und auch Landesrecht blieben unberührt. Auch Lückenlosigkeit wurde weder angestrebt noch behauptet. In vielen Fällen wurden sogar bewusst Lücken gelassen, die man der Rechtswissenschaft und der Justiz zur Auffüllung überwies. Mit den Generalklauseln wurden der bona fides und den boni mores wie im Gemeinen Recht Platz verschafft, um richterliche Einzelfallgerechtigkeit hinreichend zu gewährleisten. Den Steuerungsanspruch der Kodifikation gab man so gleichwohl keineswegs auf. Was man anstrebte, war, die im BGB geregelten Bereiche über eine Klarstellung der leitenden Prinzipien auch für solche Fälle weitgehend zu regeln, die das Gesetz nicht direkt ansprach. Notfalls sollte der „Geist der Rechtsordnung“ helfen. Dieser Geist der Rechtsordnung fußte auf den Rechtsquellen, also Gesetzen und Gewohnheitsrecht, was für das BGB besonders den Gerichtsgebrauch, der sich entsprechend verfestigt hatte, und allgemein anerkannte Rechtssätze der Dogmatik umfasste. Diese positiven Rechte sollten durch eine vom BGB stets ermutigte Dogmatik als System verdichtet und stabilisiert werden. Damit glaubte man dem Privatrecht hinreichend Halt zu geben und zugleich die notwendige Weiterentwicklung zu ermöglichen. Die Grenzen des Erlaubten wurden klar formuliert: Der Rechtsanwender dürfe keine eigenen Wertungen gegen das Gesetz ausspielen, sei es als behauptetes Naturrecht, sei es als subjektive Ansicht.
Daneben stand das BGB bereits während seiner Entstehung vor einem weiteren Problem. Die Idee der Rechtseinheit statt Reform konnte nur dann politisch im Reichstag durchgesetzt werden, wenn bezüglich der politischen Ausrichtung des geltenden, also nun zu vereinheitlichenden Privatrechts weitgehende Akzeptanz bestand. Dies war jedoch schon bald nach 1873 nicht mehr der Fall. Das BGB entstand in einer Zeit extremer politischer, ökonomischer und sozialer Dynamik, was die politische Dimension der Ausgangsentscheidung für den Status quo immer deutlicher zum Risiko werden ließ.
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