Kitabı oku: «Wege zur Rechtsgeschichte: Das BGB», sayfa 6

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2.2.1.2 Rechtsvereinheitlichung durch Rechtsprechung

Das Ziel einer gemeinsamen Juristenausbildung musste es sein, die so geprägten Studenten in Positionen zu bringen, die das Recht gestalten. Da dies in nationaler Perspektive vor 1871 nicht die Legislative, also die eben nur territorial organisierten Parlamente bzw. der Monarch und seine Ministerien, sein konnte, kamen primär die Gerichte als Träger eines nationalen Rechts in Frage. Genau diese Zielgruppe war es, die Savigny in den Blick nahm. Es blieb lebenslang Savignys Lieblingsüberzeugung „[…], daß aller Erfolg davon abhängt, den Richterstand in eine Lage zu bringen, in welcher er mit lebendigem Denken und nicht auf mechanische Weise sein Geschäft vollbringe, ihn also zu erziehen. Hätten wir das erreicht, so wäre alles gewonnen.“78

Savigny wollte den „Gelehrten auf dem Richterstuhl“.79 Das „lebendige Denken“ beschrieb die Fähigkeiten, die Savigny und seine Anhänger den Studenten beibringen wollten. Keineswegs wollte er Juristen, die einfach nur vorgegebene Gesetzeswortlaute anwenden. Das war „mechanisches Denken“. Er erzog die Studenten vor allem an römischen Rechtstexten, die hohe Anforderungen an die Interpretation stellten, weil sie aus einer fremden Zeit und einer uns fremden Rechtsordnung stammten. Zudem waren, wie gezeigt, die dogmatischen Strukturen dieses Rechts hinter Falldiskussionen verborgen, müssten also erst erarbeitet werden. Die Techniken wurden bereits gezeigt:

Exegese, also umfassende Interpretation,

Geschichte, also historische Herleitung des Satzes, und

System, also Verständnis des Satzes als Teil des Gesamtzusammenhanges des Rechts.

Auch moderne Gesetze sollten so umfassend analysiert und im Wissen um ihren Sinn und ihre Aufgabe angewendet werden, wie Savigny selbst dies in seinen Berliner Vorlesungen zum Preußischen Allgemeinen Landrecht vorgeführt hatte. Savigny bemühte sich früh, Anhänger seines Denkens in leitende Richterpositionen zu bringen. Im Jahr 1820 war er an der Gründung des Oberappellationsgerichts der vier freien Städte (Lübeck, Bremen, Hamburg und Frankfurt a. M.) beteiligt, das bis zur Eröffnung des Reichsgerichts im Jahr 1879 maßgeblich an einer Rechtsvereinheitlichung durch Rechtsprechung arbeitete. Es gelang Savigny, mit Georg Arnold Heise einen seiner engsten Freunde zu überreden, der erste Präsident dieses Gerichts zu werden. Heise zog mit Friedrich Bluhme und Ernst Adolf Theodor Laspeyres weitere engste Schüler Savignys als Richter an das Gericht. Ihm folgten mit Carl Georg von Wächter und Johann Friedrich Kierulff berühmte Rechtswissenschaftler auf dem Präsidentenstuhl nach. Wie von Savigny erhofft, entwickelte das Gericht eine auf den ganzen Deutschen Bund ausstrahlende Vorbildwirkung. Rechtsvereinheitlichend wirkte das nicht mittels einer Letztzuständigkeit im Sinne eines modernen Höchstgerichts. Das OAG der vier freien Städte blieb in seiner Zuständigkeit im Wesentlichen auf seine Gründungsstädte beschränkt. Prägend für andere Gerichte wirkte jedoch zunächst die Judikatur des OAG im Handelsrecht, das bis 1861 nicht kodifiziert und damit relativ frei der Rechtsprechung übergeben war. Das OAG schaffte Grundlagen, auf denen dann später das Bundesoberhandelsgericht aufbaute. Mindestens genauso wichtig in seiner Vorbildwirkung war jedoch die feine wissenschaftliche Begründungskultur im Zivilrecht überhaupt, die Heise zunächst zusammen mit Friedrich Cropp in den „Juristischen Abhandlungen mit Entscheidungen des Oberappellationsgerichts der vier freien Städte Deutschlands“ (Band 1 1827, Band 2 1830) den Richtern anderer Gerichte vorführte. Hier wurde das Ausbildungsziel Savignys in konkreten Urteilsbegründungen vorexerziert. Das war auch deshalb so wirksam, weil immer mehr Professoren, die Savignys Ausbildungskonzept durchlaufen hatten, nun haupt- oder nebenamtlich Richter wurden. Dass Professoren Urteile schrieben, war gemeinhin für die meisten Tagesgeschäft, weil die sog. Aktenversendung seit langem gepflegt wurde. Gerichte sandten die Urteilsakten an ein Spruchkollegium einer Fakultät, in der die meist bekannten Professoren den Fall berieten und einen Urteilsvorschlag formulierten, der unter Umständen bereits das endgültige Urteil war. Waren Professoren insoweit sowieso stärker mit der Gerichtspraxis unmittelbar in Kontakt, als dies heute der Fall ist, so teilten auch viele Savignys Ansicht, dass dies nicht genüge. Eine Vielzahl der bekanntesten Professoren des 19. Jahrhunderts war daher im Nebenamt, bisweilen zeitweise auch hauptamtlich als Richter an ordentlichen Gerichten tätig, allen voran Savigny selbst, der seit 1819 als Richter am Rheinischen Revisions- und Kassationsgerichtshof in Berlin, also dem Höchstgericht für die Preußischen Rheinprovinzen, tätig war – und dort nach französischen Recht judizierte. Aber auch Georg Friedrich Puchta, Friedrich Bluhme oder Johann Christian Hasse, die zu den berühmtesten Privatrechtsprofessoren ihrer Zeit gehörten, waren zeitweise im Nebenamt als Richter an einem ordentlichen Gericht tätig.

Damit fehlte zur erhofften Verwissenschaftlichung der Praxis noch ein letzter Schritt: ein wissenschaftliches Gespräch zwischen Universität und Gericht. Ein Problem war lange, dass Urteile mit bloßem Tenor und ohne Begründung ergingen, sodass es kaum möglich war, ein Urteil wissenschaftlich zu kritisieren. In den Landesgesetzen war erst seit dem späten 18. Jahrhundert die Pflicht eingeführt worden, die Urteilsgründe zu veröffentlichen. Zuvor war dies etwa beim Reichskammergericht wohl auch deshalb abgelehnt worden, weil man fürchtete, mit den Urteilsbegründungen der weiteren Prozessierlust der Parteien die notwendigen Argumente zu liefern. Die Folge war nicht primär eine Nichtbeachtung der Praxis durch die Literatur, sondern eine häufig nicht nachprüfbare Behauptung eines Gerichtsgebrauchs, also einer bestehenden Praxis. 1846 klagte Savigny über häufig widersprüchliche „Behauptungen über den Stand neuerer Praxis der Gerichte“.80 Savigny selbst war für Informationen über die Rechtspraxis häufig auf briefliche Nachfragen bei befreundeten Richtern angewiesen. Wie langsam dieser Missstand verschwand, zeigt die Tatsache, dass noch 1862 Bernhard Windscheid von „dieser so viel genannten, und doch, wie oft!, unauffindbaren Praxis“81 sprach. Seit den 1820er Jahren begann langsam die autorisierte Veröffentlichung von begründeten Urteilen einzelner Gerichte. Erst seit 1847 stand mit „Seufferts Archiv“82 eine systematische Sammlung territorialer Rechtsprechung bereit, die künftig Grundlage der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung der Universitäten mit der Gerichtspraxis wurde. Savigny selbst ging voran, indem er im achten Band seines Systems des heutigen Römischen Rechts 1849 die in „Seufferts Archiv“ nun vorgefundenen Entscheidungen diskutierte. In der Rechtswissenschaft zog man seit 1850 nach. Eine ganze Gruppe von jungen Rechtswissenschaftlern, zu denen Rudolf von Jhering, Bernhard Windscheid, Alois von Brinz, Johannes Emil Kuntze und Ernst Immanuel Bekker gehörten, war nun angetreten, um „durch das Römische Recht über das Römische Recht hinaus“83 ein praxistaugliches nationales Zivilrecht zu konstruieren. In praxisorientierten Pandektenlehrbüchern wie denen von Bernhard Windscheid, Julius Baron oder Ernst Immanuel Bekker und in einer Judikatur, die vice versa die Ergebnisse der Pandektenwissenschaft verarbeitete, wuchsen Literatur und Rechtsprechung zu einem gemeinsamen Gespräch zusammen.

Die Justiz nahm an diesem Gespräch durchaus selbstbewusst teil. Johann Adam Seuffert, Appellationsgerichtsrat in Ansbach, erhoffte sich durch die Veröffentlichung von Urteilen in seinem Archiv 1847 „Bereicherung, Erfrischung und Veranschaulichung der Theorie durch umfassende Beachtung der Ergebnisse der Rechtsanwendung“.84 Schärfer hatte der sächsische Oberappellationsrat Paul Ludolph Kritz Savignys Anspruch, die Justiz zu „erziehen“, 1843 entgegengehalten: „[N]icht bei der Theorie soll und muß die Praxis in die Schule gehen, sondern die Theorie bei der Praxis.“85 Insgesamt prägte aber nicht diese Sorge vor Bevormundung das Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Justiz vor 1871, sondern ein weitgehender Gleichklang der Interessen: Beide waren daran interessiert, das Zivilrecht fernab staatlicher Einflussnahme frei zu entwickeln. Praxis und Theorie waren Teil eines gesamtdeutschen Falldiskurses. Diese Konzepte der professoralen „Urteilsanmerkung“ und die daran anschließende intensive Auseinandersetzung, jedenfalls der Höchstgerichte mit der Rechtswissenschaft an den Universitäten, sind bis heute ein typisches Merkmal, welches die deutsche Rechtskultur von vielen anderen Ländern unterscheidet.

Den letzten Schritt zur Rechtseinheit durch Richterrecht ging man wenig später, indem nationale Höchstgerichte geschaffen wurden. 1870 wurde das Bundesoberhandelsgericht, das sich ab 1871 Reichsoberhandelsgericht nannte, in Leipzig eröffnet. Präsident des Oberhandelsgerichts war Heinrich Eduard Pape, der ab 1874 zugleich Vorsitzender der Ersten BGB-Kommission wurde. Pape machte in seiner Ansprache zur Eröffnung des Oberhandelsgerichts 1870 deutlich, dass er die im Vorfeld stets geäußerte Hoffnung – über eine Justizeinheit könne die Rechtseinheit betrieben werden – selbstbewusst als Ziel der kommenden Judikatur übernahm. Es gehe, so Pape, nicht nur darum, die oberste Revisionsinstanz in Handelssachen zu sein, sondern darum, „zugleich für die einheitliche Anwendung und Entwicklung der kraft bundesgesetzlicher Autorität innerhalb des Bundesgebietes geltenden Rechtsnormen zu sorgen, zu sorgen dafür, daß die Gemeinsamkeit dieser Rechtsform [!] nicht verkümmere, daß sie zur vollen Wahrheit werde“.86 Garant dafür, dass dieses Gericht selbstbewusst die deutsche Handelsrechtsentwicklung vorantreiben würde, war auch Levin Goldschmidt, der als wohl einflussreichster Handelsrechtler dieser Zeit und ehemaliger Professor im liberal-badischen Heidelberg ab 1870 am Oberhandelsgericht judizierte. 1879 ging das Reichsoberhandelsgericht mitsamt der meisten seiner Richter im nachfolgenden Reichsgericht auf. Zeitgleich wurde das Aktenversendungsverfahren endgültig abgeschafft und die juristischen Fakultäten damit entmachtet. Nun war das Reichsgericht alleiniger Entscheider im Privatrecht.

Nachdem jenseits pauschaler Vorurteile („Positivismus“) lange kaum genauere Untersuchungen über die Methoden existierten, die die Rechtsanwendung durch das Reichsoberhandelsgericht und das Reichsgericht prägten, sind in den letzten Jahren eine Reihe von Studien hierzu vorgelegt worden, die das Bild einer selbstbewusst und eigenverantwortlich agierenden Justiz stärken. Deutlich wurde dies zunächst in den multiplen Argumenten, mit denen das ROHG und das RG eine rechtliche Einheit konstruierten, die de lege eigentlich noch gar nicht existierte. Bemerkenswert eigenständig erwies sich bereits das ROHG. Art. 1 des ADHGB statuierte: „In Handelssachen kommen, insoweit dieses Gesetzbuch keine Bestimmungen enthält, die Handelsbräuche und in deren Ermangelung das bürgerliche Recht zur Anwendung“. Das Reichsoberhandelsgericht neigte in seiner Rechtsprechung dazu, die „Handelsbräuche“ zu betonen und die eigentlich vorrangige gesetzliche Regelung restriktiv zu interpretieren. Man stützte dies auf eine Auslegung von Art. 279 ADHGB, dem zufolge bei der Interpretation von Handlungen und Unterlassungen der Parteien „auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen“ sei. Der Handelsbrauch wurde dabei nicht nur zum Bändiger des Gesetzes, sondern auch zum Kontrollmaßstab, den man einem im Einzelfall nicht für akzeptabel gehaltenen Parteiwillen, also dem Vorrang der Privatautonomie, entgegenhielt. Flankiert wurde dies in der zeitgenössischen Rechtsquellenlehre durch die auch gegenüber dem Gesetz relativ starke Bedeutung, die dem Gewohnheitsrecht beigemessen wurde. Versagte auch diese richterliche Eingriffstechnik, indem sich „Unsitte“ über die Addition von Individualvereinbarungen zum Handelsbrauch aufschwang, wie dies etwa in der Judikatur zu Versicherungsbedingungen deutlich wurde, ging das Gericht einen Schritt weiter und unterwarf die Privatautonomie einem Vorrang der altrömischen bona fides, forderte also „Treue und Redlichkeit der Betheiligten“.87 Bereits vor 1900 entwickelte sich so die bona fides, besonders auch in der vom Richter frei nutzbaren exceptio doli generalis, der Arglisteinrede, zu einem Anknüpfungspunkt für die Herausbildung von eigenständigen Rechtsprechungstraditionen.

Für die nicht gemeinrechtlichen Bereiche hat Klaus Luig übergreifend gezeigt, dass das Reichsgericht dazu neigte, seine Zuständigkeit weit zu fassen und territoriale Besonderheiten hinwegzuinterpretieren. Das Reichsoberhandelsgericht, wie auch das Reichsgericht, stand immer dann vor besonderen Problemen, wenn territoriale Normen eine vereinheitlichende Wirkung der Judikatur eigentlich ausschlossen. Dies konnten im Handelsrecht, aber auch im allgemeinen Zivilrecht, insbesondere im Familien- und Erbrecht, territoriale Gewohnheiten sein. Im allgemeinen Zivilrecht kamen aber vor allem territoriale Gesetze als Hindernis in Betracht. Das Reichsoberhandelsgericht umging die Probleme bisweilen, indem es sich auf gesetzliche Normen nicht einließ und von einer „auf allgemeiner Erfahrung beruhenden Regel“ sprach.88 Für das Reichsgericht stellte sich die Frage besonders grundsätzlich. Nach § 511 CPO (Civilprozeßordnung) war es als Revisionsgericht nur zuständig, wenn das streitige Gesetz oder Gewohnheitsrecht in mindestens zwei Oberlandesgerichtsbezirken galt. Dies betraf territorial nur das Gemeine Recht, das preußische ALR und das Rheinische Recht mit Code civil sowie dem dieses leicht verändernden Badischen Landrecht. Um überhaupt auf die Fälle zugreifen zu können, musste das Reichsgericht daher vermeiden, eine nur territoriale Geltung eines Rechtssatzes anzunehmen. Um dies zu erreichen, neigte das Gericht dazu, eine Bestimmung des territorialen Rechts als Gemeines Recht zu behandeln, wenn sie inhaltlich mit dem Gemeinen Recht übereinstimmte. Ob dies der Fall war, ergab sich jedoch erst, wenn man die territoriale Bestimmung, aber auch das Gemeine Recht durch Auslegung bestimmt hatte. Da insbesondere das Gemeine Recht eine Fülle von Streitfragen bot, war hinreichend Spielraum, um eine inhaltliche Deckung zwischen territorialem und Gemeinem Recht zu konstruieren. Hilfreich war dabei auch das Argument, der Fall sei im territorialen Recht gar nicht geregelt, sodass für die Lückenfüllung die subsidiäre Geltung des Gemeinen Rechts eingreife. Gelang dies nicht, entwickelte das Reichsgericht eine zweite Argumentationstechnik, um den Satz in seinen Zuständigkeitsbereich einzubinden. In Bereichen, die nicht dem gemeinen Recht unterfielen, etwa dem Ehegüterrecht, Teilen des Erb- und Bodenrechts und bei nicht kodifizierten Handelsbräuchen, konstruierte das Gericht die Existenz eines Reichsgewohnheitsrechts. Hierzu baute es die Übereinstimmung mehrerer territorialer Regelungen zu einem Satz des sog. Deutschen Privatrechts aus, dem es abweichende territoriale Regelungen dann wiederum unterwarf.

Indem so die neuen Höchstgerichte ihre umfassende Zuständigkeit herbeiargumentierten, konnten sie auch inhaltlich das Privatrecht vereinheitlichen und durch neue Lösungen prägen. Auch hier zeigen neue Untersuchungen, dass die alten Bilder in der Rechtshistoriografie nicht stimmen. Lange war die rechtshistorische Forschung der Ansicht, die Tatsache, dass diese Richter von der Pandektenwissenschaft an den Universitäten ausgebildet wurden, habe den Pandektenlehrbüchern eine fast gesetzesgleiche Wirkung in der Praxis verschafft. Neuere Untersuchungen ziehen dieses Bild jedoch in Zweifel. Es wäre geradezu ein Widerspruch mit Savignys Ausbildungsideal des „lebendigen Denkens“ gewesen, wenn die so Erzogenen nun autoritätsgläubige Anwender professoraler Ansichten geworden wären. Genauere Untersuchungen dieser Judikatur bestätigen das alte Bild lediglich insofern, als Windscheid offenbar der meistzitierte Autor des Reichsgerichts war. Dies bedeutete jedoch nicht, dass Windscheid auch inhaltlich eine besondere Bindungskraft auf die Richter ausübte. So widersprach etwa der 1. Senat 1886 Windscheid ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit dem pauschalen Hinweis, dass die Meinung Windscheids „eben für richtig nicht gehalten werden“ könne.89 Und keineswegs wollte man sich in der Praxis Debatten aufzwingen lassen. Für die Judikatur des 3., des gemeinrechtlichen Senats des Reichsgerichts fand J. Michael Rainer „besondere Zurückhaltung, in die wissenschaftlichen Kontroversen einzusteigen“:90 „Das RG entscheidet sich ex auctoritate propria für die eine oder andere Lösung“.91 Dies entsprach durchaus innerjustiziellen Traditionen, die auch durch die Verwissenschaftlichung der richterlichen Argumentation, die von Savignys Ausbildungsmodell an den Universitäten forciert wurde, nie in Frage stand. Richter mussten praktische Fälle entscheiden. Ihre Ergebnisse mussten daher praktikabel und lebensnah bleiben. Rechtswissenschaftlichen Diskussionen um den Fortbestand antiker Regelungen verweigerte man sich, wenn die Ergebnisse nicht den Anforderungen der an die Gerichte herangetragenen Fälle genügten. Sie gewährten auch den Ersatz reiner Vermögensschäden, obwohl die Literatur intensiv darüber diskutierte, ob die Quellen zur antiken Lex Aquilia dies nicht zuließ.92 Auch die intensive akademische Debatte darum, ob die römischen Quellen die Anerkennung einer Stellvertretung zuließen, stellte die gerichtliche Wirksamkeit einer solchen nie in Frage. Was faktisch stattdessen stärker band als die rechtswissenschaftliche Literatur, waren Präjudizien. Dies war besonders für den zweiten, den „Rheinischen“ Senat des Reichsgerichts relevant, der für Altfälle auch nach 1900 nach dem französischen Recht in den Rheinlanden entschied. Im Ergebnis folgte das Reichsgericht hier stark der französischen Rechtsprechungstradition und nutzte Pandektenzitate überwiegend nicht zur Korrektur, sondern zur Absicherung der so gefundenen Ergebnisse. Der Cour de cassation in Paris kam damit für weite Teile Europas rechtsvereinheitlichende Wirkung zu. Schon für das ältere Rheinische Recht zeigte sich in einer ersten Untersuchung unveröffentlichter Urteilsreihen, dass sich schon hier die Vorstellung, dass das Ius Commune das französische Recht beherrscht habe, nicht bestätigen lässt.93 Auch für das Preußische Recht zeigen neuere Untersuchungen, dass von einer „Pandektisierung“ des ALR im 19. Jahrhundert kaum die Rede sein kann. Überwiegend suchten die Richter in Auseinandersetzung mit dem Gesetz und dem Fall überwiegend eigene Lösungen und bildeten dann eigene Rechtsprechungstraditionen.

Man muss daher die Judikatur als entscheidenden Modernisierungs- und Vereinheitlichungsfaktor schon im Deutschen Bund und sicher dann im Kaiserreich vor 1900 wahrnehmen. Das ROHG und das RG entwickelten sehr selbstbewusst und durchaus auch gegen die bestehenden Rechtsquellen neue Rechtsinstitute. Eine eigenständige Linie verfolgte die Rechtsprechung beispielsweise im Haftungsrecht. Die von der Pandektenwissenschaft als fortgeltend behandelten Privatstrafen lehnte sie ab. Obwohl die Pandektenwissenschaft forderte, die Haftung aus der römischen Lex Aquilia an der antiken Kasuistik auszurichten, ging die Rechtsprechung, wie gezeigt, darüber hinaus und gewährte bei reinen Vermögensschäden Schadensersatz. Unter dem Deckmantel der Lex Aquilia entwickelte die Rechtsprechung früh eine Judikatur zu Verkehrssicherungspflichten des Eigentümers. Anhand der in § 367 Nr. 12 Strafgesetzbuch (StGB) normierten Pflicht, an öffentlich zugänglichen Orten gegen bauliche Gefährdungen zu schützen, entwickelte das Reichsgericht eine Haftung der Hauseigentümer auch gegenüber nichtmietenden Nutzern ihrer Mietshäuser. Dabei wurde ein Verschulden des Vermieters bei mangelnder Kontrolle unterstellt.94 Das spätere Problem des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter wurde so umgangen. Besonderer Druck, das Verschuldensprinzip als ehernen Grundsatz des Deliktsrechts aufzuweichen, ging von der Diskussion um Arbeitsunfälle aus, die sich seit den 1860er Jahren vor allem an schweren Bergwerksunfällen entzündet hatte. Das Reichsgericht trat hier für eine Erweiterung der gesetzlichen Reaktion ein, indem es in einer weiten Interpretation des § 1 Reichshaftpflichtgesetzes95 auch eine im Bergbau genutzte Lore als Eisenbahn im Sinne dieses Gesetzes behandelte96 und damit die für Eisenbahnunternehmen gedachte verschuldensunabhängige Haftung auch auf den Bergbau ausdehnte. Zudem war das Gericht bestrebt, die Anwendung des Unfallversicherungsgesetzes von 1884 zu erleichtern.

Für die Regelung von Konflikten um zunehmende industrielle Emissionen umging das Reichsgericht das Verschuldensprinzip auf andere Weise, indem es den Ausbau der actio negatoria zu einem verschuldensunabhängigen Instrument zur Abwägung nachbarlicher Interessen fortsetzte.

Besondere Probleme ergaben sich im Wirtschaftsrecht. Anhand von Streiks und Kartellen beschäftigte sich das Reichsgericht mit den Auswirkungen der zunehmenden marktwirtschaftlichen Kämpfe. Seit den 1890er Jahren waren die Gerichte mit dem Phänomen der Kartelle konfrontiert, für das es unter der seit 1869 überall geltenden Gewerbefreiheit zunächst keine Antworten gab. Zunächst über § 1 Gewerbeordnung (GewO), dann über die guten Sitten (boni mores) begann die Rechtsprechung eine eigene wirtschaftspolitische Position zu erarbeiten, die dann nach 1900 prägend wurde.

Auch im Kreditrecht bezog das Reichsgericht eine eigenständige Position. Den Kreditbedarf kleinerer Unternehmer förderte das Reichsgericht, indem es gegen das in der Gesetzgebung dominierende Faustpfandprinzip und gegen Widerstände in der Literatur mit der Sicherungsübereignung die Möglichkeit eines besitzlosen Pfandrechts zuließ. Gegen übermäßige Zinsen hielt das Reichsgericht in der Sache an der laesio enormis fest und begrenzte deren Zulässigkeit auf das Doppelte des marktüblichen Zinses, ohne jedoch dieses von der zeitgenössischen Literatur scharf abgelehnte Rechtsinstitut ausdrücklich heranzuziehen. Stattdessen wurde mit Wucher und Sittenwidrigkeit argumentiert.

Durch die Massenverträge etwa im Miet- und Versicherungsrecht nahm die Schutzbedürftigkeit der den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Verwender unterworfenen Vertragspartner zu. Das Reichsgericht schuf anhand der bona fides eine frühe Inhaltskontrolle der Klauseln. Generell verschärfte es zudem die Kontrolle von Vertragsbedingungen und erklärte überzogene Konkurrenzklauseln oder existenzvernichtende Vertragsstrafen für unwirksam.

Einen bemerkenswerten Sonderweg des Rheinischen Rechts beschritt der hierfür zuständige zweite Senat des Reichsgerichts. In Fortsetzung der rheinischen Gerichtstradition folgerte er aus Art. 1384 Code civil eine zivilrechtliche Haftung des Staates für Schädigungen durch seine Beamten. Damit ging das Gericht gleichermaßen über die Anwendung des Code civil in Frankreich wie über das Recht im übrigen Preußen hinaus.

Literatur: Wolfgang Hromadka, Die Entwicklung des Faustpfandprinzips im 18. und 19. Jahrhundert, Köln 1971; Heinz Mohnhaupt, Richter und Rechtsprechung im Werk Savignys, in: Walter Wilhelm (Hg.), Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Frankfurt a. M. 1972, S. 242 ff., 252 ff.; Hans-Georg Mertens, Untersuchungen zur zivilrechtlichen Judikatur des Reichsgerichts vor dem Inkrafttreten des BGB, in: AcP 174 (1974), S. 338 ff.; ders., Heinrich Eduard Pape, in: Robert Stupperich (Hg.), Westfälische Lebensbilder, Bd. 11, Münster 1975, S. 153 ff.; Regina Ogorek, Actio negatoria und industrielle Beeinträchtigung des Grundeigentums, in: Helmut Coing u. Walter Wilhelm (Hgg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. IV, Frankfurt a. M. 1979; Klaus Luig, Vertragsfreiheit und Äquivalenzprinzip im gemeinen Recht und im BGB. Bemerkungen zur Vorgeschichte des § 138 Abs. 2 BGB, in: Aspekte europäischer Rechtsgeschichte. Festgabe für Helmut Coing zum 70. 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Filippo Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz in Europa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1994, S. 403 ff.; Reiner Schulze, Preußisches Allgemeines Landrecht und rheinisch-französisches Recht, in: Barbara Dölemeyer u. Heinz Mohnhaupt (Hgg.), 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Frankfurt a. M. 1995, S. 405; Klaus Luig, Rechtsvereinheitlichung durch Rechtsprechung in den Urteilen des Reichsgerichts von 1879 bis 1900 auf dem Gebiete des Deutschen Privatrechts, in: ZEuP 1997, S. 762 ff.; J. Michael Rainer, Zur Rechtsprechung des Reichsgerichts bis zum Inkrafttreten des BGB: Ein Modellfall für den Europäischen Gerichtshof?, in: ZEuP 1997, S. 715 ff.; Thomas Henne, Richterliche Rechtsharmonisierung – Startbedingungen, Methoden und Erfolge in Zeiten beginnender staatlicher Zentralisierung analysiert am Beispiel des Oberhandelsgerichts, in: Andreas Thier et al. (Hgg.), Kontinuitäten und Zäsuren in der Europäischen Rechtsgeschichte, Frankfurt a. M. 1999, S. 335 ff.; Hans-Peter Haferkamp, Die exceptio doli generalis in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, in: Ulrich Falk u. Heinz Mohnhaupt (Hgg.), Das bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, Frankfurt a. M. 2000, S. 1 ff.; Kristina Möller, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen, Paderborn 2001; Stephan Hocks, Gerichtsgeheimnis und Begründungszwang. Zur Publizität der Entscheidungsgründe im Ancien Régime und im frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002; Nils Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts: Geschichte, Theorie und Dogmatik außervertraglicher Ansprüche auf Schadensersatz, Tübingen 2003, § 6; Tilman J. Röder, Rechtsbildung im wirtschaftlichen „Weltverkehr“. Das Erdbeben von San Francisco und die internationale Standardisierung von Vertragsbedingungen (1871–1914), Frankfurt a. M. 2006; Jan Schröder, Zur Theorie des Gewohnheitsrechts zwischen 1850 und 1930, in: Hans-Peter Haferkamp u. Tilman Repgen (Hgg.), Usus modernus pandectarum, Köln 2007, S. 221 ff.; Hans-Peter Haferkamp, The Science of Private Law and the State in Nineteenth Century Germany, in: Nils Jansen u. Ralf Michaels (Hgg.), Beyond the State. Rethinking Private Law, Tübingen 2008, S. 245–267; Stefan Geyer, Den Code civil „richtiger“ auslegen. Der zweite Zivilsenat des Reichsgerichts und das französische Zivilrecht, Frankfurt a. M. 2009; Hans-Peter Haferkamp, Dogmatisierungsprozesse im „heutigen Römischen Recht“ des 19. Jahrhunderts, in: Georg Essen u. Nils Jansen (Hgg.), Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, Tübingen 2010, S. 259 ff.; Martin Löhnig, Rechtsvereinheitlichung trotz Rechtsbindung, Tübingen 2012; Michael Stolleis, „Innere Reichsgründung“ durch Reichsvereinheitlichung 1866–1880, in: Stefan Ruppert u. Miloš Vec (Hgg.), Michael Stolleis. Ausgewählte Aufsätze und Beiträge, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2011, S. 405 ff.; Sylvia Krings, Die Vorgeschichte des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter im Mietrecht, Tübingen 2012; Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren, Köln 2015, Kap. 2.8 und 2.9.

2.2.1.3 Rechtsvereinheitlichung durch Gesetzgebung

2.2.1.3.1 Rechtseinheit und Reform

Methodisch und inhaltlich war der Boden für eine Rechtsvereinheitlichung also durchaus bereitet. Gleichwohl blieb der Übergang zur nationalen Kodifikation ein radikaler Wandel. Die ganze Machttektonik im Zivilrecht verschob sich. Die Grundidee der Rechtsvereinigung durch Rechtswissenschaft, die Herrschaft der Rechtswissenschaft über das Zivilrecht, war zu Ende. Die politischen Entscheidungsträger nahmen das nationale Zivilrecht wieder in die Hand. Damit wurde die Rechtswissenschaft zurechtgestutzt. Sie blieb Träger der Juristenausbildung und konnte versuchen, die Legislative und die Judikative von ihren Konzepten zu überzeugen. Dies verblieb stärker als zuvor jedoch bloß dienende Zuarbeit. Aber auch die Justiz wurde vom Staat wieder stärker an die Hand genommen. Sie verlor die oft unklaren und dadurch besonders formbaren Texte des Ius Commune und die ebenfalls mit der Präzision der neuen Reichsgesetze meist nicht vergleichbaren territorialen Rechte als Rechtsquelle. Die Dogmatik, die etwa Windscheid in seinem Lehrbuch zusammentrug, hatte in der ihr typischen Uneinigkeit und Meinungsvielfalt oft mehr Deutungsangebote als Bindungen bereitgestellt und damit die richterliche Freiheit kaum gefährdet. Das BGB erzeugte für die Justiz damit eine ganz ungewohnt strenge Gesetzesbindung. Mit dem BGB übernahm der Nationalstaat die Herrschaft über das Zivilrecht.

Warum war nun gesetzliche Rechtseinheit dem Reich so wichtig? Der Schweizer Rechtshistoriker Pio Caroni formuliert die ökonomisch-sozialen Auswirkungen prägnant:

Die Zersplitterung passt eher zur vorindustriellen, naturalwirtschaftlichen Gesellschaft, die Einheit eher zur industrialisierten, geldwirtschaftlichen Gesellschaft.97

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