Kitabı oku: «Vernichten», sayfa 3
»Ist ja gut, fahr einfach weiter und halt die Klappe.«
»Achtung, wir sind nicht allein«, echote er grinsend.
Jelena kümmerte sich nicht um ihr Geplänkel. Sie war vollauf damit beschäftigt, das ihr unbekannte Treiben auf den Straßen an diesem Nachmittag zu beobachten. Nach dem Stau auf der Brücke schafften sie den Rest der Strecke bis zur Ulitsa Nalichnaya in zwanzig Minuten. Das alte Haus aus rotem Sandstein versteckte sich hier zwischen Blöcken aus rohem Beton. Deshalb war es ihm seinerzeit aufgefallen. Jelena hatte aufgehört, aufgeregt nach allen Seiten zu gucken und die Nase am Seitenfenster platt zu drücken. Sie saß merkwürdig still auf dem Sitz, mit eingezogenen Schultern, als erwartete sie Schläge. Weckte die Gegend unangenehme Erinnerungen? Er fuhr langsam am Kanal entlang, unsicher, in welcher Richtung sich das Haus befand.
»Suchen wir überhaupt auf der richtigen Insel?«, flüsterte Sofia so leise, dass er es kaum verstand.
»Zwei Uhr«, antwortete er, ohne den Kopf zu bewegen.
Er hatte das rote Haus vorne rechts jenseits der kleinen Brücke entdeckt. Es war auch Jelena nicht entgangen.
»Natascha!«, schrie sie und versuchte aufzuspringen. Mit beiden Händen zeigte sie auf das Haus am andern Ufer.
»Da wohnt ihr, du und Natascha – bist du sicher?«, fragte Sofia, immer noch skeptisch.
»Da, da, Natascha!«
Hätte der Gurt sie nicht zurückgehalten, sie wäre stracks aus dem Auto gesprungen.
»Wir müssen jetzt ganz vorsichtig sein«, versuchte er ihre Begeisterung zu dämpfen.
Jelena ließ sich nicht beeindrucken. Sie zerrte am Gurt, wollte ihn öffnen. Es gelang ihr nicht, also schlüpfte sie kurzerhand unter dem Gurt hindurch. Die Tür stand schon einen Spalt offen, bevor er anhielt. Sein Wagen, ein Lada Samara, der sein zehnjähriges Dienstjubiläum auch schon hinter sich hatte, war nicht für den sicheren Transport von Kindern ausgerüstet. Im letzten Moment gelang es Sofia, das Energiebündel aufzuhalten. Jelena kratzte und keifte. Plötzlich begann sie zu weinen und ließ sich auf den Rücksitz fallen. Sofia setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. Er rieb sich die Schweißperlen von der Stirn. Der Dienstwagen war nicht der Einzige, der sich nicht für Kinder eignete.
Langsam fuhr er weiter auf die Brücke zu, nach einer geeigneten Stelle Ausschau haltend, wo er parken konnte, ohne vom roten Haus aus gesehen zu werden. Der Lada war zwar nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichnet, aber Ganoven besaßen besondere Nasen, um Bullen zu riechen.
»Ihr beiden Damen müsst mir jetzt versprechen, ganz lieb zu sein und im Wagen zu warten«, sagte er, nachdem er den Motor abgestellt hatte. »Ich werde mich erst mal umsehen.«
Er nahm die Dienstwaffe aus dem Handschuhfach, kontrollierte sie, lud durch und steckte sie ein, bevor er ausstieg. Jelena in Sofias Armen machte keine Anstalten zu fliehen.
Die paar Schritte zur Straße lagen noch nicht hinter ihm, als wie aus dem Nichts drei ›GAZ Tigr‹, schwere, gepanzerte 4 × 4 der Polizei, auftauchten. Aus beiden Richtungen der Straße und von der Brücke her rasten sie mit heulenden Sirenen auf das rote Haus zu. Der vorderste Einsatzwagen durchbrach kurzerhand das Holztor zum Innenhof. Die beiden andern Fahrzeuge hielten vor dem Haus, versperrten so die Zugänge und blockierten die Straße. Jeder Tigr spie neun oder zehn Mann in grau-blauen Kampfanzügen aus, die Gesichter unter schwarzen Sturmmasken verborgen, ›Bizon‹ Maschinenpistolen schussbereit im Hüftanschlag. ›OMOH‹ (OMON) stand in großen, gelben Lettern auf dem Rücken.
Gregori rettete sich mit einem Fluch in den Schutz des staubigen Haselstrauchs an der Straße und dankte im Stillen der kleinen Jelena. Hätte sie ihn nicht ein paar Minuten aufgehalten, wäre er der OMON direkt in die Arme gelaufen. Die OMON als mobile Einheit mit besonderen Aufgaben gehörte zwar auch zur Polizei wie die Kripo, aber sie unterstand direkt dem Innenministerium. Die Typen der OMON lebten und wirkten in einer anderen Welt, die er bisher erfolgreich gemieden hatte. So sollte es auch bleiben, verdammt noch mal, sagte er sich und beschränkte sich aufs Beobachten. Er hoffte inständig, Sofia käme nicht auf dumme Gedanken. Es wäre nicht das erste Mal, würde sie sich unnötig exponieren. Seine Hoffnung ruhte wieder auf Jelena. Die Kleine hatte Sofias Mutterinstinkt geweckt, und das war gut so.
Das Sirenengeheul verstummte so plötzlich, wie es angefangen hatte. Außer vereinzelten scharfen Befehlen verlief die Aktion in beinahe unheimlicher Stille. Umso überraschter war er, als unvermittelt ein Motorrad aus dem Dvor auf die Brücke zu schoss. Eine Frau mit wehenden Haaren klammerte sich auf dem Rücksitz an den Fahrer. Sie reagierten nicht auf die lauten Rufe des SWAT-Teams, versuchten offensichtlich verzweifelt zu fliehen. Die Fahrt endete noch vor der Brücke. Eine Gewehrsalve schleuderte die Frau vom Rücksitz auf die Straße und streckte den Fahrer nieder. Das Motorrad prallte gegen einen Kandelaber, überschlug sich und schlitterte jammernd die Böschung hinunter in den Kanal. Fahrer und Passagierin blieben reglos im Staub liegen.
Es war kaltblütiger Mord. Jedenfalls schätzte er die Chance aufs Überleben der beiden auf ziemlich genau null ein. Die Projektile aus den ›Bizons‹ durchschlugen auf diese Entfernung auch Schutzwesten, und die beiden sahen nicht danach aus, als trügen sie welche. Er griff mechanisch nach seinem Handy, um die Rettung zu rufen. Ein leises Zittern seiner Hand kündete die Schockreaktion an. Er kannte das Gefühl zur Genüge. Was wollte er noch mal? Der Notarzt!
Ein Rettungswagen näherte sich mit Sirene und Blaulicht von der Innenstadt her, bevor er eine Taste gedrückt hatte. Das Handy verschwand in seiner Tasche. Abgelenkt durch Notarzt und Sanitäter, die sich um die leblosen Körper kümmerten, bemerkte er erst im letzten Moment, wie ein Kleinbus mit schwarzen Scheiben, ähnlich einem Leichenwagen, in den Hof des roten Hauses fuhr. Was zum Teufel ging hier vor? Er konnte nicht länger tatenlos zusehen, verließ seine Deckung und näherte sich mit gezücktem Dienstausweis der nächsten Gruppe OMON, die den Haupteingang sicherte.
»Colonel Gregori Makarov«, rief er von Weitem. »Ich muss den Kommandanten sprechen.«
Vier MPs zielten auf seinen Brustkorb. Die Gewehrläufe senkten sich erst, als er nah genug getreten war, dass die Männer den Ausweis lesen konnten.
»Was wollen Sie?«, fragte einer unwirsch.
»Den Kommandanten sprechen, sagte ich schon.«
Der Sprecher des Teams blitzte ihn aus jugendlichen Augen an. Der Kerl war bestimmt keine dreißig und noch grün hinter den Ohren, was die Diensterfahrung betraf. Dennoch oder gerade deswegen war äußerste Vorsicht angesagt. Um in die OMON aufgenommen zu werden, taten diese jungen Wilden alles. Die Durchfallquote bei der Aufnahmeprüfung betrug achtzig Prozent, wurde gemunkelt. Das wussten die erfolgreichen zwanzig Prozent und führten sich entsprechend als unbezwingbare Meister des Universums auf. Widerwillig sprach der junge Mann nach kurzer Denkpause ins Funkgerät. Eine Minute später stand ein Riese vor ihm, der sich zackig und viel zu laut als Colonel Igor Zorin vorstellte.
»Ich kam zufällig vorbei«, log Gregori. »Was für ein Einsatz ist das?«
»Warum interessiert Sie das?«
Er versuchte, überlegen zu grinsen, was ihm nur schlecht gelang.
»Ich bin bei der Kripo, schon vergessen? Bei uns weiß niemand etwas von einem solchen Einsatz, also …?«
»Ist auch besser so. Das hier geht niemanden etwas an, auch nicht die Kripo. Anordnung vom Government.«
Der Ärger war nicht mehr zu unterdrücken. Zudem sorgte er sich zunehmend um die Kinder, so sie denn in diesem Haus lebten.
»Lassen wir doch den Scheiß. Ihr Government ist auch mein verdammtes Government!«
Der Funkverkehr des SWAT-Teams aus Zorins Walkie-Talkie steigerte sich für kurze Zeit zu einem Stakkato zackiger Meldungen und Antworten, wie er sie zuletzt in der Polizeischule gehört und gleich wieder vergessen hatte. Der Kleinbus fuhr durch das zertrümmerte Tor auf die Straße, beschleunigte und verschmolz bald mit dem Horizont. Der Krankenwagen folgte mit den beiden Opfern. Zurück blieben nur zwei riesige Blutflecke und das Motorrad im Kanal, das niemanden interessierte. Auf einen Schlag zogen sich Zorins Männer in die 4 × 4 zurück.
»Wir sind hier fertig«, sagte der Kommandant ohne weiteren Kommentar.
Er drehte ihm den Rücken zu, sprang in den dritten ›Tigr‹, der gerade aus dem Hof fuhr, dann machten sich die OMON-Fahrzeuge ebenso schnell aus dem Staub, wie sie gekommen waren.
»Du mich auch, Arschloch«, rief er ihnen nach.
Jeder andere, der ihn wie Zorin behandelt hätte, liefe jetzt mindestens mit einem blauen Auge herum, sagte er sich zum Trost. Er stapfte zum Dienstwagen zurück, wo Sofia ihn mit einem Gesicht erwartete, das Zorin sofort in die Flucht geschlagen hätte. Sie sprang aus dem Wagen, sobald sie ihn bemerkte, knallte die Tür hinter sich zu, dass die arme Jelena auf dem Rücksitz sich duckte. Die nächsten zwanzig Sekunden benutzte Major Yeltsova, um zu beweisen, dass ihr Wortschatz ebenso reich an wüsten Flüchen war wie seiner. Sie musste sich Luft verschaffen. Er verstand es. Russen benutzten Schimpfwörter im Grunde genommen nicht zum Fluchen, sondern zum Sprechen, wie ein russischer Dichter schon vor hundert Jahren erkannt hatte.
»Bist du fertig?«, fragte er, als sie endlich Atem schöpfen musste.
»Was in drei Teufels Namen denkst du dir dabei, uns hier allein zu lassen, während da vorne der Krieg ausbricht?«
»Der Krieg ist vorbei, und ich wüsste selbst verdammt gerne, wer ihn angezettelt hat und weshalb.«
Allmählich beruhigte sie sich. Vom Standort des Wagens aus konnten die beiden den Doppelmord oder was immer es war nicht gesehen haben. Gut so. Er ließ es dabei bewenden, vorläufig.
»Was wollte die OMON im roten Haus?«, fragte sie ruhiger.
»Der Kommandant, ein Baumstamm namens Colonel Zorin, hat den Taubstummen gemimt. So lang ich auch darüber nachdenke, mir fällt nur eine Erklärung ein: Das war eine Säuberungsaktion. Ich fürchte, wir werden nicht mehr viel vorfinden im Haus.«
Sofia erschrak. »Und die Kinder?«
Er zuckte die Achseln. »Gesehen habe ich sie nicht, aber die sind mit einem Kleinbus in den Hof gefahren und bald danach wieder verduftet. Ich nehme an, sie haben damit eher jemanden abtransportiert als hergebracht.«
»Mein Gott, die armen Kinder. Hast du dir wenigstens das Kennzeichen gemerkt?«
»Selbstverständlich, Major, ich bin ja auch Polizist.«
Er gab ihr die Information zusammen mit den Angaben zu Zorin, damit sie die Daten durch den Polizeicomputer jagen konnte.
»Wie geht es Jelena?«
»Den Umständen entsprechend, aber die Sirenen haben ihr Angst eingejagt, und sie wird langsam ungeduldig. Sie will zu Natascha.«
»Bloß nicht! Wenn die OMON das getan hat, was ich vermute, wird sie Natascha so schnell nicht wiedersehen, fürchte ich.«
Sofia stampfte wütend auf den Boden.
»So eine elende Schweinerei! Das kann doch alles kein Zufall sein.«
Er lachte bitter auf. »Du meinst die Kommandoaktion zur Räumung des Hauses genau zum Zeitpunkt, als wir hier aufkreuzen? Wenn das ein Zufall ist, fresse ich meinen Lada.«
»Elende Schweinerei«, wiederholte sie zerknirscht.
Jelena wurde unruhig. Sie wollte aussteigen.
»Du solltest dich um sie kümmern – und um den Computer«, sagte er und entfernte sich rasch. »Ich sehe mich jetzt im Haus um«, rief er über die Schulter zurück.
Es war ihm schon während der OMON Aktion aufgefallen: Das Haus wirkte von außen unbewohnt. Im Dvor sprang ihm als erstes der überdimensionierte, schwarze Teufel an der roten Fassade ins Auge. Er stand zweifellos im Hof, den Jelena gezeichnet hatte. Es herrschte Totenstille. Nichts bewegte sich, nicht einmal die vertrockneten Blätter des Strauchs neben den Trümmern des Tors. Er betrat das Haus durch die einzige Tür zum Hof, die nicht mit Brettern verbarrikadiert war. Es roch nach Kohlsuppe und Urin – und Kindern. Er konnte sich den Eindruck nicht erklären, aber es roch definitiv nach Kindern. Vielleicht erinnerte ihn der Geruch ans Schulhaus seiner eigenen Kindheit. Offenbar war nur der von der Straße abgewandte Seitenflügel des Hauses bewohnt gewesen und da nur das Erdgeschoss mit den vergitterten Fenstern und einige Zimmer im ersten Stock. Bauschutt und Bretter versperrten die Zugänge zum Rest des Hauses.
Niemand befand sich im Erdgeschoss, soweit er im spärlichen Tageslicht, das durch die kleinen Fenster und offenen Türen in den Flur schimmerte, erkennen konnte. Eine Blitzsuche bestätigte den Eindruck. Oben an der Treppe brannte Licht. Die Pistole schussbereit in der Rechten, stieg er auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Das Holz knarrte trotzdem unter seinem Gewicht. Auf den ersten Blick gab es auch im oberen Stock keine Anzeichen von Bewohnern, aber der Lichtschein aus dem Zimmer am Ende des Gangs jagte seinen Puls augenblicklich in die Höhe. Die Tür stand halb offen. Er versetzte ihr einen Tritt, damit er das ganze Zimmer überblicken konnte. Niemand zu Hause. Die Waffe glitt ins Halfter zurück. Es sah aus, als hätten die Bewohner in aller Eile Regale, Schränke und Schubladen geleert, bevor sie in Panik flüchteten. So sollte es zumindest aussehen, allein, der große Fleck frischen Blutes auf dem Teppich vor dem Fernseher und die zwei Einschusslöcher, die er auf Anhieb entdeckte, erzählten eine andere Geschichte. Leise fluchend zog er das Handy aus der Tasche, um die Kollegen von der Kriminaltechnik zu rufen. Er glaubte, einigermaßen sicher beurteilen zu können, dass hier kein Kind geschlachtet worden war. Zu viel Blut war geflossen. Wozu immer dieses Zimmer mit den leeren Regalen, dem fleckigen Sofa, den vier Stühlen und dem großen Flachbildschirm gedient hatte, es war ein Zimmer für Erwachsene gewesen. Diese Erkenntnis beruhigte seinen Puls einigermaßen. Außer den offensichtlichen Spuren würden die Kollegen vermutlich nicht viel mehr finden, denn das Räumungskommando hatte gründliche Arbeit geleistet in der kurzen Zeit. Sogar die DVD im Abspielgerät hatten sie nicht vergessen.
Drei weitere Zimmer, die wohl als Schlafzimmer gedient hatten, fand er ebenfalls leer vor. Die Aschenbecher stanken zwar nach heftigem Gebrauch, enthielten aber keine Kippen. Schnell und gründlich – das Markenzeichen der OMON Einsätze. Allerdings waren auch diese Elitepolizisten nicht perfekt. Nach kurzer Suche fand er doch noch einen Zigarettenstummel unter einem Bett. Vielleicht hatten sie ausnahmsweise Glück mit dem DNA-Abgleich. In der Küche fand er die Kohlsuppe. Das Räumungskommando hatte es nicht für nötig befunden, sie in den Ausguss zu schütten. Der Topf war noch warm. Sonst hatten sie auch hier alles fast klinisch sauber hinterlassen. Das zuletzt benutzte Geschirr und Besteck befand sich frisch gewaschen im noch handwarmen Geschirrspüler. Die Spurensicherung würde ihm danken für diesen sinnlosen Einsatz.
Mit einem Gesicht wie beim Betrachten der leeren Wodkaflasche, die er sich zu Hause aufhob, um nach dem Entzug trocken zu bleiben, stapfte er die Treppe hinunter zu den Zimmern, in denen offenbar die Kinder gehaust hatten. Er begann mit dem Raum am Ende des Flurs, einem Schlafzimmer mit vier Pritschen, das außer durchwühlten Bettlaken nichts hergab. Gegenüber der Tür stand ein Schrank, der einzige im Flur. Auf den ersten Blick wirkte das Möbelstück ziemlich deplatziert. Als er die Schranktür am Knauf aufziehen wollte, stürzte ihm das Ungetüm entgegen, als hätte es nur darauf gewartet, ihn zu erschlagen. Fluchend und keuchend stieß er den Schrank an die Wand zurück. Dabei bemerkte er, wie leicht er sich verschieben ließ. Seine Flüche wurden lauter. Die Kratzer am Boden verrieten, dass er nicht der Erste war, der das Möbel verschob. Er brauchte es nur wenige Zentimeter zur Seite zu schieben, bis er die Tür dahinter entdeckte.
Er schob den Schrank ganz beiseite, zog die Pistole aus dem Halfter, drückte die Türklinke hinunter und stieß sie auf. Sie bildete den Anfang einer Treppe, die steil nach unten führte. Jedenfalls vermutete er es, denn sehen konnte er nur die ersten drei Stufen. Alles war schwarz angemalt, Treppe, Wände, Decke. Er hatte das Gefühl, in den Einstieg einer Kohlenzeche zu blicken. Mangels Taschenlampe versuchte er es mit dem Lichtschalter.
»Jemand da?«, rief er, sich vorsichtig in Deckung haltend.
Es blieb still. Er stieg hinunter. Der süßliche Geruch, der ihm sofort aufgefallen war, verstärkte sich mit jeder Stufe. Nicht unangenehm, nur zu süß für seinen Geschmack, der Geruch, der einem beim Öffnen einer Bonbonniere in die Nase strömt. Das schwarze Treppenhaus mündete in einen ebensolchen Gang, der in ein großes Gewölbe führte. Ein rundes, rosa Bett stand in der Mitte. Primitiv bemalte Kulissen an den Wänden sollten das Innere einer Waldhütte und eine Reihe weiterer kleiner Betten darstellen. Sieben Bettchen für die sieben Zwerge. Im Unterschied zum Märchen besaß Schneewittchen hier ihr eigenes Bett, groß genug für allerhand weiteres Personal, wie er leise fluchend feststellte.
»Ein verdammtes Filmstudio«, brummte er, wobei ihn schauderte beim Gedanken, welche Art Filme hier wohl gedreht worden waren.
Ob Jelena auch auf diesem Bett … Er wandte sich ab, um den Rest nicht denken zu müssen. Ein Geräusch aus dem schwarzen Gang ließ ihn herumwirbeln. Mit einem Satz suchte er Deckung hinter einem Baum aus Sperrholz.
»Polizei! Ist da jemand?«
Die Antwort waren hastige Tritte auf der Treppe. Jemand rannte hinauf, leichtfüßig, nicht polternd wie er.
»Halt, Polizei!«, rief er keuchend, Puls auf 180.
Oben angekommen sah er den Zipfel eines weißen Rocks oder Kleides und Füße in kleinen Sandalen durch die Tür zum Hof verschwinden. Die Flüchtige war ein Kind wie Jelena und flink wie ein scheues Reh. Er sparte sich weitere Rufe, um keine Panik zu schüren, versuchte, das Mädchen mit den schwarzen Zöpfchen im weißen Nachthemd einzuholen. Dabei stolperte er über die Schwelle, fiel der Länge nach aufs Kies. Die spitzen Steine rissen Wunden in die Handflächen, dass beide Hände zu bluten begannen. Er sah gerade noch, wie Schneewittchen durchs Tor auf die Straße rannte. Kaum stand er mit rotem Kopf wieder auf den Beinen, quietschten Bremsen. Ein spitzer Schrei, gefolgt von einem dumpfen Aufprall ließ das Blut in seinen Adern gefrieren, dann herrschte Totenstille.
»Nein!«, krächzte er heiser.
Mit weichen Knien rannte er ihr hinterher. Schneewittchen lag auf der Straße und bewegte sich nicht mehr. Ein silbergrauer VW-Polo stand wenige Meter entfernt, der Fahrer festgefroren am Lenkrad. Auch der regte sich nicht. Das Telefon am Ohr, rannte er zum Mädchen. Ein Meer aus Vorwürfen stürzte auf ihn ein, als er die Finger an die Halsschlagader legte, um den Puls zu fühlen. Sie lebte, hatte durch den Aufprall das Bewusstsein verloren. Äußerlich war keine Verletzung festzustellen. Brüche, innere Blutungen und Schädel-Hirn-Trauma konnte er nur vermuten und hoffen, dass er sich irrte. Während er Ambulanz und Verkehrspolizei alarmierte und den zur Salzsäule erstarrten Fahrer des VW im Auge behielt, näherte sich sein Dienstwagen mit Sofia am Steuer. Er bemerkte ihn erst, als Jelena noch bevor er stoppte heraussprang. Schreiend rannte sie auf ihn zu.
»Natascha! Natascha!«
Sie wollte sich weinend auf das reglos am Boden liegende Schneewittchen werfen. Er fing sie auf, um Worte ringend. Er brauchte Nachhilfe im Umgang mit Kindern.
»Natascha lebt …«, war alles, was er der verzweifelten Jelena ins Ohr flüstern konnte.
Sofia verjagte die Gaffer, die angehalten hatten und im Begriff waren, auszusteigen. Ihr Dienstausweis wirkte Wunder. Niemand war sonderlich erpicht auf Kontakt mit der Kripo. Endlich stand sie bei ihm und nahm Jelena in die Arme.
»Das ist Natascha«, sagte er. »Sie hat sich im Keller versteckt und ist geflüchtet, als ich … Verfluchte Scheiße!«
Er riss sich vom Anblick des unglücklichen Mädchens los und rannte zum VW-Polo. In der Ferne ertönten die Sirenen der Ambulanz und Polizei, als er die Tür des VW aufzog, dem Fahrer den Dienstausweis unter die Nase hielt und ihm befahl, auszusteigen. Ein junger Mann, um einen Kopf kleiner als er, stand ihm zitternd gegenüber. Falls der Junge überhaupt schon einen Führerausweis besaß, konnte der noch nicht alt sein.
»Sie – ist mir – einfach vors Auto gelaufen«, stammelte er heiser.
Das Elend des jungen Fahrers passte zu seiner eigenen Verfassung. Es stimmte ihn versöhnlich.
»Ich weiß«, sagte er und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
Der Junge knickte ein, als hätte er den Solarplexus getroffen, würgte, hustete und kotzte ihm auf die Schuhe, das einzige wasserdichte Paar mit intakten Nähten, das er besaß. Er spürte, wie die Adern an den Schläfen anschwollen, schluckte aber die Schimpfwörter hinunter. Dem jungen Mann ging es beschissen, das musste genügen. Er übergab ihn der Streife, die gleichzeitig mit der Ambulanz eintraf.
»Passen Sie auf, er hat schlecht gegessen«, murmelte er, nachdem er den Kollegen seine Version zu Protokoll gegeben hatte.
Die Notärztin hatte Natascha versorgt. Die Ambulanz fuhr ab, da trafen endlich die Kollegen der Spurensicherung ein. Er hielt das Briefing kurz, denn Sofia drängte zum Aufbruch. Jelena war kaum mehr zu bändigen. Hysterisch »Natascha« rufend wollte sie dem Krankenwagen nachrennen. Sofias beruhigende Worte prallten ungehört am Kind ab, das offensichtlich unter Schock stand. Die Beruhigungsspritze der Notärztin wirkte erst Minuten später. »Natascha« war das letzte Wort aus ihrem Mund, bevor sie die Augen schloss und gar nichts mehr sagte. Er versuchte vergeblich, sie aufzumuntern:
»Wir haben deine Natascha gefunden wie versprochen, was sagst du dazu?«
Sie sagte gar nichts. Er war nicht sicher, ob sie ihn überhaupt hörte. Dennoch setzte er noch einen drauf:
»Sie wird wieder gesund werden, ganz bestimmt.«
Die Notärztin war da weniger sicher gewesen. Während der Fahrt zurück zum Betreuungszentrum berichtete er Sofia leise, was er im Haus gesehen hatte.
»Ein Freudenhaus für Pädophile«, fasste sie zähneknirschend zusammen.
»Und ein einträgliches Kinderporno-Studio, das die User im Internet vermissen werden«, ergänzte er bissig.
»Du meinst, die OMON habe die andern Kinder abtransportiert?«
Er nickte stumm. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, bis Sofia herausplatzte:
»Das passt überhaupt nicht zu denen.«
»Ich weiß.«
Der Gedanke beschäftigte ihn auch, seit er das Haus betreten hatte. Die OMON war eine Spezialeinheit für die Bekämpfung der ganz bösen Buben, Gewaltverbrecher, Terroristen. Das rote Haus aber war ein klarer Fall für die Sitte.
»Es passt ganz und gar nicht zusammen«, murmelte er nachdenklich.
Sofia rümpfte die Nase. »Und es stinkt zum Himmel. Dieses Räumungskommando, die verdammte Geheimniskrämerei des Colonels, der Abtransport und möglicherweise die Eliminierung von Zeugen – das alles weckt ganz böse Erinnerungen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Er verstand sie sehr gut.
»Nos?«, fragte er nur.
Sie nickte stumm. Nos, die Nase, war der Spitzname des Pakhan, des unbekannten obersten Bosses des mächtigen Tambowskaja Kartells in Sankt Petersburg, das sich neuerdings sehr aktiv mit Internet Pornographie der ganz harten Sorte beschäftigte.
»Fragen wir unseren Freund Colonel Zorin«, brummte er mit bitterem Grinsen.
Dahlem
Chris zögerte auszusteigen, obwohl sie eigentlich leichten Herzens hätte aus dem Auto ins Haus und in Jamies Arme springen müssen. Hier in Dahlem war alles perfekt. Das hoffentlich nicht mehr lange kinderlose Ehepaar Roberts bewohnte eine der schönsten Villen im vornehmen Viertel, einen Prunkbau aus der Jahrhundertwende, um den sie jeder Yuppie Investmentbanker beneiden würde. Ein alter Freund mit Verbindungen zum preußischen Hochadel überließ ihnen das Haus mit der einzigen Auflage, es zu bewohnen – zu einem lächerlich niedrigen Mietpreis, den zu zahlen sie sich fast schämte.
Im Gegensatz zu ihr besaß Jamie, Engländer und Arzt in der medizinischen Forschung, gleich zwei grüne Daumen. Der ehemals wild wuchernde Garten hinter dem Haus hatte sich daher in ein naturnahes Paradies verwandelt mit einem Kräutergarten, der jedem Kloster wohl anstünde. Eine Stunde bei gutem Wetter in diesem Garten war die bessere Medizin, um den Dreck loszuwerden, dem sie bei ihren Ermittlungen begegnete, und wieder herunterzukommen, als eine Dosis Benzodiazepin. Sogar der Pavillon unter der alten Buche sah jetzt, frisch gestrichen, einladend aus.
Im Dachgeschoss befand sich das Musikzimmer mit einem Oberlicht, das ihr das Gefühl gab, auf Wolken zu schweben. Das war ihr Reich. Jamies Epizentrum befand sich im Erdgeschoss. Seine Küche mit Fenstern zum Garten diente nicht nur als Labor für raffinierte kulinarische Experimente. Der gemütliche Raum beherbergte auch den längsten Küchentisch, den sie je gesehen hatte, und war Mittelpunkt nächtelanger Diskussionen und leider allzu seltener Treffen mit Freunden.
Jetzt hatte auch sie sich erneuert und trug ein Geheimnis in sich, das ihrer beider Glück nochmals steigern würde. Besser ging es nicht. Warum also zögerte sie?
Das Aktenstudium im LKA hatte ihr plastisch vor Augen geführt, was sie zwar schon immer gewusst aber bisher stets erfolgreich verdrängt hatte: Sie lebten in einer Welt, in der man Kinder missbraucht und wegwirft, wenn sie zu alt werden – wie seelenloses Spielzeug, dem man entwächst. Wie konnte sie da glücklich sein in ihrem Paradies in Dahlem? Vor dem Rückspiegel übte sie das entspannte Lächeln, mit dem dieser wichtige Tag enden sollte, bevor sie ausstieg.
Jamie befand sich nicht im Haus. Sie ging in die Küche. Die Tränen zuvorderst, betrachtete sie die Leckereien, die ihr Kochkünstler als Requiem für den verlorenen Zopf aufgetürmt hatte. Gambas an scharfer Weißweinsauce, Datteln im Speckmantel, marinierte Paprika, Champignons mit Chorizo und natürlich die spanische Version von Bruschetta mit Jamón: Häppchen, die sie auf Anhieb erkannte. Die andere Hälfte der festlichen Tafel bestand aus neuen Kreationen, die sie noch nie gekostet hatte. Im Kühlschrank warteten bestimmt die Förmchen mit Jamies legendärer Crème brûlée, denn der Bunsenbrenner stand schon bereit. Der Gute hatte sich selbst übertroffen und war nun dabei, den Pavillon zu schmücken, wie sie beim Blick aus dem Fenster bemerkte. Warum konnte sie die quälenden Bilder in ihrem Kopf nicht einfach einen Abend lang vergessen und sich dieser Orgie hingeben? Ärger über ihre Unfähigkeit, einfach nur glücklich zu sein, gesellte sich zur Trauer über die verlorenen Kinder im Aktenberg des LKA.
Er trat aus dem Pavillon, sah sie im Küchenfenster und erstarrte. Ihr gezwungenes Lächeln mochte auf die Entfernung ganz entspannt wirken. Nach dem ersten Schreck grinste er breit, warf ihr eine Kusshand zu, griff sich ans Herz, verbeugte sich und dankte pantomimisch dem Himmel, bevor er in großen Sätzen aufs Haus zu rannte. Sein Theater rührte sie noch mehr zu Tränen. Er stürmte in die Küche, während sie die feuchten Augen abtupfte, was er als Zeichen überbordender Freude interpretierte. Er küsste sie lange, bevor er sein Urteil abgab. »Scharf«, lautete das erste Adjektiv zur neuen Frisur.
»Gib schon zu, es gefällt dir nicht«, jammerte sie scheinbar enttäuscht, ohne ihn anzusehen.
»Was meinst du?«
Dabei grinste er so unverschämt, dass sie wider Erwarten lachen musste.
»Ich wusste es!«, rief sie aus. »Du hast nur meinen Zopf geliebt.«
Zu ihrer Überraschung stimmte er zu, immer noch grinsend.
»Das war so bei der alten Chris. Die neue Mrs. Roberts aber würde ich auf der Stelle heiraten, wäre ich noch zu haben.«
Da ihr die angemessene Antwort nicht sogleich einfiel, presste er sie an seine Brust und wiederholte das erste Adjektiv, dem sogleich weitere aus derselben Kategorie folgten, wobei die Stimme immer tiefer in den Keller sank:
»Entzückend, bezaubernd, hinreißend, verführerisch, unwiderstehlich – bloody sexy!«
»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«
Ein gezwungenes Lächeln begleitete den kläglichen Versuch, britisch cool zu wirken. Er spürte, dass sie lieber weinen statt lachen wollte.
»Stimmt etwas nicht, Liebling? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Sein betroffenes Gesicht verdiente einen weiteren Kuss. Sie schüttelte traurig den Kopf.
»Es hat nichts mit dir zu tun. Ich – hatte einfach einen schlechten Tag. Es tut mir leid, Liebster. Du hast dir solche Mühe gegeben … Ach, es ist zum Heulen.«
Diesmal tupfte er ihr die feuchten Augen ab.
»Deine Arbeit frisst dich noch auf«, murmelte er. »Aber setzen wir uns doch, essen ein Häppchen, trinken ein schönes Glas Rioja dazu und reden darüber.«
Sie versuchte es, doch selbst die zarten Paprikastücke blieben ihr im Halse stecken. Sie trank einen winzigen Schluck Rotwein und sah ihm eine Weile beim Essen zu. Dann gab sie sich einen Ruck, räusperte sich und wollte die wichtigste Neuigkeit des Tages verkünden. Mitten im Satz stockte sie und entschuldigte sich.
»Was wolltest du mir sagen?«, fragte er beunruhigt.
»Ach nichts – nicht jetzt.«
Es war kein Tag für gute Nachrichten. Sie sah ihm tief in die Augen und hoffte, er würde ihr ehrliches Bedauern spüren.
»Es tut mir leid, Jamie. Heute ist einfach nicht mein Tag. Bitte entschuldige mich.«
Er blickte ihr kauend nach, wie sie auf leisen Sohlen die Küche verließ. Lange stand sie unter der Dusche, doch die Bilder in ihrem Kopf ließen sich nicht abwaschen. Er verstand, dass sie jetzt Zeit für sich alleine brauchte. Erst viel später, als er glaubte, sie schliefe, trat er kurz an ihr Bett, streichelte über die neue Haarpracht, hauchte einen Kuss auf ihre Wange und verließ das Zimmer, um unten auf der Couch zu schlafen. »Du hast diesen Mann nicht verdient«, war der letzte Vorwurf, mit dem sie sich diesen schönen Tag versaute, bevor sie einnickte.