Kitabı oku: «Vernichten», sayfa 4
Sie erwachte schweißgebadet. Der Albtraum lastete auf ihr, als säße ein Nachtmahr auf ihrer Brust und hinderte sie am Atmen. Sie hatte geträumt, das stand fest. Geblieben waren nur Erinnerungsfetzen, genug, um ihr Angst einzujagen. Sie hatte auf der falschen Seite gestanden, sich so intensiv um ihr eigenes Kind gekümmert, um es vor der bösen, bösen Welt zu beschützen, wie die Perversen in den Akten. Und sie hatte Lust dabei empfunden. Es war das Schlimmste, woran sie sich erinnerte.
Ächzend erhob sie sich und dankte der Vorsehung, dass Jamie nicht neben ihr lag. Der Magen fühlte sich leer an, als hätte sie tagelang gefastet. Sie wünschte, es gäbe eine verlässliche Methode, um so etwas mit dem Kopf anzustellen. Lust auf pädophile Handlungen! Wie widerlich war das. War sie auch so eine? Steckte der schlimme Keim in allen Erwachsenen? Kleine, wehrlose Kinder zum eigenen Lustgewinn zu missbrauchen ist doch die abscheulichste Form von Kindesmisshandlung, weil sie die Seele zerstört. Solche Wunden heilen nie. Sie ekelte sich vor sich selbst und mied den Blick in den Spiegel, bis sie heiß geduscht hatte. Sie musste dringend etwas unternehmen, um den Kopf freizukriegen. Es war erst sieben Uhr früh, Jamie vielleicht noch im Haus.
»Jamie?«, rief sie auf der Treppe zum Wohnzimmer. »Wir müssen reden.«
Statt einer Antwort hörte sie ihr Handy klingeln.
»Sie sollten herkommen«, sagte Hauptkommissarin Monika Weber vom LKA. »Wir haben den Bericht aus Sankt Petersburg erhalten.«
»Schon unterwegs.«
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Jamie: Wir holen das nach. Ich liebe die neue Chris. Lächelnd steckte sie ihn ein wie eine wertvolle Trophäe. Sie aß in aller Eile zwei Brote mit Jamón, um den Magen zu beruhigen, bevor sie zum Präsidium fuhr. Ein leerer Magen eignete sich nicht für diesen ekelhaften Fall. Zudem musste sie sich allmählich angewöhnen, für zwei zu essen, selbst wenn ihr wegen der Bilder im Kopf ganz und gar nicht danach war.
Monika Weber und ihr Partner Dieter Vogel standen vor der Pinnwand im Besprechungszimmer, wo sie die Akten studiert hatte. Der fensterlose und meist abgeschlossene Raum diente als diskrete Operationsbasis für die kleine Truppe, die den Doppelmord in Sankt Petersburg untersuchte. Die spärlichen Informationen an der Wand bedeuteten nichts Gutes. Die beiden waren offenbar noch keinen Schritt weiter bei der Ermittlung der russischen Kontakte ihrer ermordeten Kollegen. Vogel blätterte in einer Akte und schüttelte den Kopf, dann knallte er die Mappe schimpfend auf den Tisch.
»So eine Scheiße! Entweder sind diese Russen lausige Ermittler, oder sie halten absichtlich Informationen zurück. Ich finde keinen verdammten Hinweis auf ein Handy der Opfer, noch nicht einmal die Info, man habe gesucht und keins gefunden. Das gibt‘s doch nicht.«
»Vielleicht liegt es an der Übersetzung«, gab Chris zu bedenken.
Monika Weber schüttelte energisch den Kopf. »Auf die Übersetzerin ist Verlass. Wir arbeiten schon jahrelang mit ihr zusammen. Für sie lege ich die Hand ins Feuer.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr. Ich möchte trotzdem eine Kopie des russischen Originals.«
»Kein Problem. Im Moment können wir sowieso nur Daumen drehen, bis wir weitere Informationen aus Sankt Petersburg erhalten.«
Der Bericht bestätigte die ersten Aussagen der russischen Kollegen. Das falsche Ehepaar Meier war ermordet worden, ein Doppelmord, der nur dank der Aufmerksamkeit des russischen Pathologen nicht als tragische Abrechnung unter Eheleuten durchging. Chris betrachtete das Bild der Tatwaffe, eines Revolvers ›Smith & Wesson‹ Modell 19, Kaliber .357, nicht gerade die gängigste Handfeuerwaffe in Russland. Die Täter hatten an alles gedacht. Es sollte wohl so aussehen, als hätten die Meiers den Revolver aus Deutschland mitgebracht.
»Sind das Blutflecke auf dem Holzgriff?«, fragte sie unvermittelt.
Die Kopie in der übersetzten Akte ließ keine eindeutige Interpretation zu. Monika Weber reichte ihr das Original aus dem russischen Bericht und stutzte.
»Das sind Farbtupfer, rote Farbtupfer.«
»Moment!«, warf ihr Partner ein. »Eine ›Smith & Wesson‹ mit roten Flecken auf dem Griff? Warum ist mir das nicht früher aufgefallen?«
Chris hütete sich, ihm die Frage zu beantworten.
»Sag nicht, du kennst den Revolver«, brummte Monika Weber.
»Vielleicht«, antwortete er nachdenklich, schon an der Tür. »Augenblick.«
Nach zehn Minuten kehrte er mit einer Fotokopie zurück, auf der ein Revolver abgebildet war, der ihrer Tatwaffe glich wie ein eineiiger Zwilling. Das Foto war nicht besonders scharf, da offenbar aus einem Schnappschuss vergrößert, aber die Farbflecke befanden sich an exakt denselben Stellen. Es konnte kein Zufall sein. Zwei fragende Augenpaare richteten sich auf Dieter Vogel.
»Ja, es tut mir leid, dass ich nicht sofort geschaltet habe. Ein solcher Revolver ist vor einem Jahr bei einem Einbruch gestohlen worden.«
»Seit wann beschäftigst du dich mit Einbrüchen?«, fragte seine Partnerin eingeschnappt.
»Es war ein Einbruch in eine Galerie am Oranienburger Tor. Der Besitzer hat den Täter überrascht, wollte ihn mit so einem Revolver stellen, hat ihn sogar angeschossen, ist aber niedergeschlagen worden. Als er wieder zu sich kam, war die Waffe verschwunden. Man hat den Einbrecher nie geschnappt, den Revolver auch nicht – bis jetzt.«
Monika Webers Gesicht verfinsterte sich um mindestens zwei Stufen.
»Warum weiß ich nichts davon?«
»Du warst damals im Urlaub, und der Fall nicht gerade weltbewegend. Er ist schnell zu den Akten gelegt worden.«
»Offenbar zu schnell«, murmelte sie laut genug, damit er es hörte.
»Was für eine Galerie war das?«, fragte Chris.
»Die Galerie Matulis. Der Besitzer heißt so, Lukas Matulis.«
»Der Matulis?«, fuhr seine Partnerin auf mit der Betonung auf »der«.
Er nickte. Chris lebte offensichtlich noch nicht lange genug in Berlin oder verkehrte in den falschen Kreisen.
»Muss man den Herrn Matulis kennen?«
Vogel lachte verächtlich auf. »Er glaubt es jedenfalls. Der feine Herr verkehrt in den besten Kreisen der Stadt, spielt sich als der große Wohltäter und Kunstmäzen auf. Ich will gar nicht wissen, wie viele seiner Schinken im Regierungsviertel an den Wänden hängen.«
»Das macht ihn noch nicht zum Verbrecher.«
»Nein, aber diese aalglatten Anzug-Typen gehen mir einfach auf den Wecker.«
»War seine Aussage denn glaubhaft?«
»Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln. Er besaß sogar einen ordentlichen Waffenschein für den Revolver.«
»Na also«, sagte Monika Weber. »Und wie kommt diese Waffe ins Hotelzimmer in Sankt Petersburg?«
»Falls es tatsächlich dieselbe Waffe ist. Ist es denkbar, dass sie inzwischen doch aufgetaucht ist und die Kollegen sie aus Berlin mitgenommen haben?«
Dieter Vogel verneinte entschieden. »Ausgeschlossen!«
»Wir werden den Herrn Matulis noch einmal befragen«, entschied seine Partnerin.
Chris versprach sich nicht allzu viel davon. Falls Matulis damals die Wahrheit ausgesagt hatte, würde er an der Geschichte festhalten. Andernfalls auch. Es sei denn …«
»Ist Matulis erkennungsdienstlich erfasst worden?«, fragte sie.
Vogel nickte. »Wir haben seine Fingerabdrücke erfasst. Sie werden uns allerdings nicht weiterbringen. Auf dem Revolver sind nur die Abdrücke der ermordeten Kathi Bach sichergestellt worden.«
»Und auf den Patronenhülsen?«
Davon stand nichts im Bericht aus Sankt Petersburg. Es war nur von Abdrücken auf der Tatwaffe die Rede, was immer die russischen Kollegen darunter verstanden. Monika Weber ging zum Telefon mit der Spinne für Konferenzgespräche.
»Schadet nicht, wenn wir danach fragen«, bemerkte sie, während sie die Schaltung nach Sankt Petersburg vorbereitete.
Sobald die Verbindung zu Colonel Gregori Makarov stand, fragte sie zuerst nach dem Befinden des Mädchens.
»Es geht ihr gut, den Umständen entsprechend«, versicherte Makarov. »Wir haben inzwischen ihren Namen erfahren. Sie heißt Jelena. Einen Nachnamen kennt sie nicht, und wir tappen weiterhin im Dunkeln darüber, woher sie kommt.«
Er berichtete mit monotoner Stimme, als läse er den Text ab. Chris konnte nicht beurteilen, wie offen er informierte, oder ob er Informationen zurückhielt. Dass beide Seiten sich in der Fremdsprache Englisch unterhalten mussten, trug auch nicht zur besseren Verständigung bei. Weitere Fragen zu Jelena beantwortete Makarov kurz und ausweichend.
»Was geschieht jetzt mit dem Mädchen?«, fragte Monika Weber, bevor sie das Thema wechselte.
Makarovs Partnerin, Sofia Yeltsova, schaltete sich ein:
»Wir sind dabei, einen Platz in einer bekannten Familie für Jelena zu organisieren. Ich werde ein Auge auf sie haben.«
Eine gute Nachricht, endlich, dachte Chris.
»Wunderbar«, sagte auch Monika Weber. »Gibt es neue Erkenntnisse aus Ihren Ermittlungen?«
Makarov antwortete:
»Ja, zwei Dinge. Nach Aussage des Mädchens ist Jelena von einer ihr unbekannten Frau, wahrscheinlich zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, mittelgroß mit grünen Augen, ins Hotel gebracht worden. Sonst hat sie nichts vom Gesicht der Unbekannten gesehen. Kurz vor dem Betreten des Zimmers hat ihr die Frau Wasser aus einer Flasche zu trinken gegeben. Danach erinnert sie sich an nichts mehr. Wir nehmen an, dass diese Frau die Tat begangen hat.«
»Eine Killerin!«, murmelte Monika Weber. »Das riecht nach organisiertem Verbrechen.«
»Davon gehen wir aus. Es war sicher keine Zufallstat. Die Fahndung nach der Verdächtigen ist bisher leider ergebnislos verlaufen.«
Das überraschte niemanden im Zimmer des LKA. Professionelle Killer hinterließen kaum Spuren, wenn sie etwas taugten.
»O. K.«, sagte Monika Weber gedehnt, »und weiter?«
»Im Schließfach des Hotels ist ein Handy sichergestellt worden, welches das deutsche Ehepaar dort deponiert hat, obwohl es auch einen Safe im Zimmer gibt.«
Dieter Vogel grinste breit. Bevor jemand eine Frage stellen konnte, sprach Makarov weiter:
»Wir haben es bereits ausgewertet. Neben privaten Anrufen nach Deutschland ist zuletzt, vierzig Minuten vor der Tat, ein Anschluss in Sankt Petersburg angerufen worden. Dort befindet sich allerdings nur ein Festnetzapparat, der die Anrufe auf eine deutsche Prepaid-Nummer umleitet. Wir können daher den Besitzer dieser Nummer nicht ausfindig machen.«
Als er schwieg, herrschte eine Weile Totenstille. Die Kommissare vom LKA sahen sich an, als erwarteten sie jeden Augenblick, Makarov ließe nach dieser Enthüllung die ganz große Bombe platzen. Falls die Anrufliste des Handys eine Nummer enthielte, welche die falschen Meiers mit dem LKA in Verbindung brachte, wäre die Katastrophe perfekt. Alle warteten mit angehaltenem Atem, doch Makarov sagte nur:
»Entschuldigen Sie uns einen Augenblick.«
Im Hintergrund hörte man gedämpfte Stimmen. Die auf Russisch geführte Unterhaltung wurde schnell lauter, dann schlug eine Tür zu und es kehrte Ruhe ein.
»Die sind sich nicht einig, was für Bären sie uns noch aufbinden wollen«, brummte Vogel, die Hand auf dem Mikrofon.
Monika Weber entspannte sich allmählich. Die Bombe war nicht detoniert. Das gab Hoffnung. Sie zuckte dennoch kaum merklich zusammen, als Makarovs Stimme wieder aus dem Lautsprecher sprach. Sie hatte sich verändert. Er hörte sich verärgert an.
»Es gibt eine Änderung«, sagte er ohne weitere Erklärung. »Unser Vorgesetzter, Generalmajor Petrov, hat Ihnen etwas zu sagen.«
Perplex hörten sie Petrov zu. Er sprach ein miserables Englisch, aber was er sagte, hatte es in sich.
»Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass das deutsche Ehepaar Meier Opfer eines Konflikts zwischen rivalisierenden Banden des organisierten Verbrechens geworden ist. Das Ehepaar stand offenbar mit einem Pädophilen-Ring in Kontakt, der mit dem Geschäft des Tambowskaja Kartells konkurriert, das zurzeit den Menschenhandel zu kontrollieren versucht. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Da der Fall das landesweit organisierte Verbrechen betrifft, mussten wir ihn an die zuständige Behörde abgeben.«
»Was heißt zuständige Behörde?«, brauste Monika Weber auf. »Ich denke, Sie sind zuständig.«
»Die Angelegenheit ist von nationaler Bedeutung. Zuständig ist jetzt das Innenministerium. Für weitere Fragen wenden Sie sich bitte direkt ans Ministerium.«
Damit endete die Telefonkonferenz abrupt.
»Nicht zu fassen – hält der sich für den verdammten Putin oder was?«, rief Vogel aus.
Monika Weber schüttelte nur stumm den Kopf, während Chris sich die Reaktion von Staatsanwältin Winter ausmalte. Die Begeisterung über den in Rekordzeit und ohne außenpolitische Komplikationen abgeschlossenen Fall würde ihr womöglich gar ein Lächeln abringen. Sie selbst sah allerdings keinen Grund zu übereilter Freude, so gerne sie den Fall lieber heute als morgen zu den Akten gelegt hätte. Das unbestimmte Gefühl beschlich sie, hinter dem Horizont erwarte sie ein Unwetter, auf das sie in keiner Weise vorbereitet war.
Kapitel 2
Berlin
Hauptkommissarin Monika Weber druckte die wenigen Seiten Information über Lukas Matulis und seine Galerie aus und meldete sich vom System ab. 14 Uhr war vorbei, ihr Partner Dieter Vogel immer noch nicht zurück vom Mittagessen, das normalerweise aus Currywurst am Platz der Luftbrücke oder Cheeseburger to go beim Burger King bestand, damit die Ernährung nicht allzu einseitig ausfiel.
»Hat jemand Dieter gesehen?«, fragte sie in die Runde.
»Raucht Parkplatz«, antwortete der alte Postbote im Telegrammstil, der zufällig am Fenster stand.
»Seit wann raucht der wieder?«
Mindestens ein Jahr lang hatte er zu ihrer Verblüffung keine Zigarette mehr angerührt. So viel Selbstdisziplin passte einfach nicht zu ihrem Partner. Sie ging ans Fenster. Es war tatsächlich Dieter Vogel, der, Zigarette im Mund, einen Parkplatz besetzte und in einen heftigen, pantomimischen Streit mit dem Fahrer des schwarzen Audi verwickelt schien, der partout auf dem letzten freien Platz parken wollte. Sie sah eine Weile kopfschüttelnd zu. Der Streit eskalierte. Dieter Vogel stapfte gesenkten Hauptes auf den Wagen zu wie der Stier aufs rote Tuch und versetzte der Stoßstange einen kräftigen Tritt. Der Fahrer sprang aus dem Auto. Sie schrien sich an, dann wandte ihr Partner sich unvermittelt ab.
»Was hat er vor?«, fragte der Postbote neben ihr, der das Schauspiel zusammen mit fünf weiteren Kollegen gespannt verfolgte. Dieter Vogel beantwortete die Frage, indem er den nahen Mülleimer aus der Halterung riss, in hochhob und damit auf den Fahrer losging.
»Der ist total übergeschnappt«, murmelte sie erschrocken.
Unter dem Gelächter der Kollegen rannte sie zum Lift. Unten angekommen sah sie ihren Partner mitten auf dem Parkplatz auf dem Eimer sitzen. Er zündete sich die nächste Zigarette an und schien wieder mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Der Audi war verschwunden.
»Dem hast du‘s aber gezeigt«, sagte sie.
Er drehte sich langsam zu ihr um, sah sie an, als nähme er Maß für den nächsten Angriff, bevor er sich entspannte und brummte:
»Warum kann mich dieses Arschloch nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Vielleicht weil du auf dem letzten freien Platz sitzt?«
Nach zwei langen Zügen, begleitet von trockenem Husten, schnippte er die Zigarette angewidert weg, klaubte eine neue aus der Packung und versuchte, sie anzuzünden. Die Hand mit dem Streichholz zitterte. Zudem blies der Wind in die falsche Richtung. Schließlich warf er das Streichholzbriefchen mit einem undeutlichen Fluch der Kippe hinterher. Die jungfräuliche Zigarette im Mund, hockte er auf den Mülleimer und starrte stumm ins Leere. Sie spürte, wie aufgewühlt er war, was sicher nicht am Audi-Fahrer lag. Daher verzichtete sie auf ironische Kommentare und fragte nur:
»Willst du darüber reden?«
Der gequälte Blick war nicht gespielt, als er antwortete:
»Hast du dir mal überlegt, was für einen beschissenen Job wir eigentlich machen?«
Er verstand es nicht als Klischee-Frage wie im Fernsehkrimi. Er erwartete eine ernsthafte Antwort, die ihr gerade nicht einfiel. Sie konnte nur vermuten, woher sein Zustand rührte.
»Du warst bei Marion, nicht wahr?«
Marion, die junge Witwe des ermordeten Kollegen Malte Friedmann. Dieter war seit langer Zeit eng mit der Familie Friedmann befreundet, der Sohn Patrick sein Patenkind.
»Es ist – unfassbar – ich kann dich verstehen«, fügte sie stockend hinzu. »Der arme Kleine …«
»Patrick weiß es noch nicht!«, unterbrach er heftig. »Wie erklärst du einem Fünfjährigen, dass eine Psychopathin seinen Vater abknallt wie ein krankes Schwein, nur weil er seinen verschissenen Job macht? Marion kann es jedenfalls nicht – ich auch nicht.«
Auch darauf wusste sie keine Antwort, außer dem eiskalt klingenden Hinweis auf »professionelle Hilfe«, was er mit einem verächtlichen Lacher quittierte. Sie wechselte abrupt das Thema:
»Wir müssen los: Matulis.«
»Noch so ein sinnloser Einsatz«, knurrte er.
Immerhin erhob er sich, versetzte dem Eimer einen Fußtritt, dass er an den Rand des Parkplatzes rollte, und folgte ihr zum Dienstwagen.
»Was versprichst du dir von dieser Übung?«, fragte er unterwegs.
»Darum geht es nicht. Wir müssen Matulis nochmals zur Waffe befragen. Das weißt du.«
Er fuhr schweigend weiter. An der nächsten roten Ampel bekräftigte er seinen Vorbehalt gegen Lukas Matulis. Er wandte sich ihr zu und sagte:
»Ich traue diesem Typen nicht.«
»Du traust keinem Schlipsträger.«
Die Ampel wechselte auf Grün. Der Hintermann hupte. Dieter Vogel blickte sich um und dachte nicht daran, weiterzufahren.
»Suchst du einen Mülleimer?«
Es war ihr einfach so entschlüpft. Zu ihrer Verblüffung brach er in Gelächter aus und fragte:
»Hast du einen gesehen?«
Dann trat er aufs Gas. Die Ampel stand auf Orange und wechselte auf Rot, bevor er sie hinter sich gelassen hatte. Der Hintermann musste eine Runde länger warten. Ihr Partner grinste zufrieden.
»Na, wie habe ich das gemacht?«
»Du bist unschlagbar«, versicherte sie trocken, da er wieder im Normalmodus operierte. »Woher stammt eigentlich deine besondere Abneigung gegen Lukas Matulis?«
Er lachte verächtlich. »Ich bitte dich! Ein Typ, der sogar zu Hause in seiner Festung in Charlottenburg in Anzug, weißem Hemd und blauem Schlips herumläuft – mit dem stimmt doch etwas nicht.«
»Da ist er wieder, der Schlips«, lachte sie. »Matulis ist ein litauischer Geschäftsmann mit einem Tick. Das ist alles.«
Er schüttelte entschieden den Kopf. »Da steckt mehr dahinter, garantiert. Du wirst es erkennen, wenn du ihm ins Gesicht schaust. Er fixiert dich mit eiskalten Augen aus der Visage eines Kickboxers oder Stasioffiziers. Das ist nicht das Gesicht des biederen Geschäftsmannes, als den er sich ausgibt.«
»Dann ist er eben ein knallharter litauischer Geschäftsmann mit einem Tick. Davon gibt‘s sicher viele.«
»Du wirst schon sehen.«
Das Haus am Oranienburger Tor besaß zwar einen kleinen Kundenparkplatz, doch der war an diesem Nachmittag besetzt durch Nobelkarossen, die wohl zum Preis der Kunst in der Galerie passten. Bei einer schwarzen Limousine war das Fenster auf der Fahrerseite heruntergelassen. Eine Hand mit brennender Zigarette hing heraus. Die Herrschaften leisteten sich einen Chauffeur. Vor dem Haupteingang war ein roter Teppich ausgerollt. Schlag auf Schlag trafen weitere Limousinen ein, meist mit getönten Scheiben, die keinen Blick ins Innere gestatteten. Die Wagen spien festlich gekleidete Damen und Herren im Smoking aus und entfernten sich rasch wieder.
»Was zum Teufel ist hier los?«, brummte Dieter Vogel, während er auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Parkverbot eine Lücke suchte. »Das ist ein Aufmarsch wie bei einer verdammten Oper.«
In Zeitungen und im Netz hatte sie nichts von einer solchen Veranstaltung gelesen. Es musste wohl ein sehr exklusiver Event sein.
»Geschlossene Gesellschaft«, beschied denn auch der Sicherheits-Bulle mit dem Knopf im Ohr am Eingang.
Er gab den Tarif durch, bevor sie ein Wort gesagt hatten. Kleidung und Aussehen genügten als Filter. Sie gehörten nicht dazu. Das sah ein Blinder. Dieter Vogel schenkte dem Zerberus ein schiefes Grinsen und sagte:
»Wenn Sie so weitermachen, könnten Sie schneller recht bekommen, als Ihnen lieb ist, junger Mann.«
Bevor der andere seine Muskeln in Bewegung setzte, beruhigte er ihn mit dem Dienstausweis.
»Oberkommissar Dieter Vogel vom LKA. Das ist meine Kollegin, Hauptkommissarin Monika Weber. Wir müssen den Chef sprechen, den Herrn Lukas Matulis.«
Der Türsteher im Maßanzug überlegte nur kurz, bevor er leise ins verborgene Mikro sprach. Eine Sekunde später erschien ein anderer Maßanzug, wohl der Security-Chef, um mit bedauerndem Lächeln zu verkünden:
»Tut mir leid, meine Herrschaften. Sie kommen zur falschen Zeit. Herr Matulis ist auf Geschäftsreise.«
»Wann kommt der denn zurück?«, fragte sie.
Der Anzug zuckte mit den Achseln. »Ich fürchte, da müsste ich die Geschäftsführerin fragen. Sie ist aber gerade sehr beschäftigt, wie Sie sehen.«
»Die Mühe können Sie sich sparen. Wir sprechen gerne selbst mit der Geschäftsführerin. Wie heißt die Dame denn?«
»Roze Matulis. Sie ist die Tochter von Herrn Matulis.«
Roze Matulis mochte um die dreißig sein, kleidete sich wie zwanzig und empfing sie sichtlich nervös. Sie geleitete sie ins Büro im Erdgeschoss, bemüht, möglichst wenig Aufsehen bei der feinen Gesellschaft zu erregen.
»Wir führen gerade die sehr wichtige Sommer-Auktion zugunsten unserer Stiftung durch. Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn sie sich kurzfassen könnten.«
Monika Weber hatte kein Problem damit. Ihr Partner schon gar nicht. Sich kurz zu fassen war seine Spezialität.
»Wo ist ihr Vater, Lukas Matulis?«, fragte er.
»Auf Geschäftsreise in Holland. Hat man Ihnen das nicht ausgerichtet?«
»Seit wann, und wann kehrt er zurück?«
»Vorgestern ist er nach Den Haag geflogen. Wir erwarten ihn am Wochenende zurück. Was wollen Sie von meinem Vater? Worum geht es?«
Monika Weber schaltete sich ein.
»Es geht um den Einbruch vor einem Jahr. Sind Sie darüber im Bilde?«
Roze nickte, abwartend.
»Damals wurde ein Revolver gestohlen, der Ihrem Vater gehört hat. Wir vermuten, die Waffe sei wieder aufgetaucht. Können Sie sich an den Revolver erinnern?«
»Ja sicher. Er lag immer hier im Schreibtisch – für den Notfall.«
»Ich möchte Ihnen ein Foto zeigen.«
Während sie das Foto der Tatwaffe von Sankt Petersburg in der Tasche suchte, fragte ihr Partner nach der Toilette. Der älteste Trick, sich in einem Haus umzusehen ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Roze überlegte kurz, dann schickte sie den unliebsamen Besucher ein Stockwerk höher, weg von den feinen Herrschaften.
Dieter Vogel dachte nicht daran, den Weg über die Hintertreppe zu benutzen. Beim Betreten der Galerie war ihm im hinteren Teil des lang gestreckten Raums ein Balkon mit Balustrade aufgefallen, von dem aus man die Gäste, die an der Auktion teilnahmen, unauffällig beobachten konnte. Er war allerdings nur über eine leicht einsehbare, frei schwebende Treppe zu erreichen. In unregelmäßigen Abständen stiegen einzelne, meist ältere Herren hinauf und verschwanden im Dunkel des Flurs der oberen Etage. Der Weg zu den feinen Toiletten? Er schlenderte an Ikonen und vergoldeten Holzskulpturen vorbei, die niemand beachtete und eigentlich in ein abgelegenes russisches Kloster gehörten. An den Wänden hingen moderne, abstrakte Malereien, die seiner Meinung nach gar nirgends hingehörten, nicht wenige davon mit einem diskreten roten Punkt gekennzeichnet: verkauft. Die Gäste interessierten sich auch nicht für die Moderne. Er fragte sich, was hier wohl versteigert würde, oder ging es am Ende nur ums Geld, nicht um Kunst?
Der Blick vom Balkon schaffte Klarheit. Hier wurden keine teuren Kunstwerke versteigert, sondern niedliche Kinderzeichnungen. Ein Banner an der Wand hinter dem Pult des Auktionators präsentierte unter dem Logo der Stiftung deren Leitmotiv: Wir helfen bedürftigen Kindern. Nobel, dachte er, fast ein wenig enttäuscht. Die Zeichnungen, oft nicht viel mehr als einige Strichmännchen mit einer gelben Sonne, gingen für bis zu fünfhundert Euro über den Tisch. Die Herrschaften zeigten sich großzügig zum Wohl der Kinder, ein eklatanter Widerspruch zu seinem gefestigten Vorurteil. Außer der Tatsache, dass da offenbar viel Geld zusammenkam, gab es nichts zu entdecken.
Nach ein paar Minuten auf dem Beobachtungsposten fiel ihm auf, dass keiner der älteren Herren aus der oberen Etage zurückkehrte. Der nächste Herr kam die Treppe herauf. Obwohl er das Gesicht nur für einen Sekundenbruchteil sah, glaubte er, ihn zu erkennen. Er erinnerte sich nicht an den Namen, war sich aber sicher, den Herrn in letzter Zeit öfter im Fernsehen gesehen zu haben, in den Nachrichten, wo er sein Saubermann-Image pflegte. Der Mann arbeitete im Innen- oder Außenministerium, war aber kein Minister. Wenigstens so weit kannte er sich in der hohen Politik im Regierungsviertel aus.
Er wartete, bis der andere im Flur verschwand, dann folgte er ihm. Der Gang führte an einer Reihe geschlossener Zimmer vorbei, erstreckte sich über die ganze Länge des Hauses und endete vermutlich an der Hintertreppe. Das hohe Tier aus dem Regierungsviertel war nirgends zu sehen. Leise fluchend überlegte er sich, hinter welcher Tür der Mann wohl verschwunden war. Es musste eine der Ersten sein. Am wahrscheinlichsten schien ihm die Tür neben dem Bild mit den Dollarzeichen. Dort stand eine antike Kommode, auf der einige Herren ihre halb leeren Sektgläser abgestellt hatten. Er ging auf die mit Zahlenschloss gesicherte Tür zu, entschlossen, anzuklopfen. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Der angegraute Herr trat aus dem Zimmer gegenüber, das offenbar tatsächlich Kundentoiletten enthielt. Dieter Vogel starrte ihm wohl eine Sekunde zu lang ins Gesicht, denn der Schlipsträger zeigte mit finsterer Miene auf die Kommode und herrschte ihn an:
»Worauf warten Sie, junger Mann? Räumen Sie das ab, oder brauchen Sie eine schriftliche Einladung?«
Ohne ihn weiter zu beachten, klopfte er an die Tür neben der Kommode: einmal lang, zweimal kurz, einmal lang. Der Sesam öffnete sich. Er verschwand im Zimmer. Die Tür schlug zu.
Dieter Vogel erwachte aus seiner Starre. Allzu gern hätte er einen Blick ins geheimnisvolle Zimmer geworfen. Die primitive Methode, einzutreten und nach der Toilette zu fragen, funktionierte nicht mehr. Sollte er einfach verschwinden? Was hinter dieser Tür verhandelt wurde, ging ihn nichts an. Es hatte nichts mit seinem Fall zu tun, also Abgang. Das professionelle Misstrauen war stärker. Vorsichtig drückte er die Klinke der Tür zum Nebenzimmer hinunter und stürzte beinahe hinein. Bis auf einen staubigen Schrank befand sich nichts im Raum, der offenbar schon lang nicht mehr benutzt wurde. Der Schrank interessierte ihn nicht, wohl aber das schlecht schließende Fenster, durch das die Geräusche des Nebenzimmers hereindrangen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ging ans Fenster und öffnete es. Hinauszulehnen und einen vorsichtigen Blick durchs offene Fenster des Nebenzimmers zu werfen, erwies sich als einfache Übung.
Das hohe Tier verhandelte mit einer älteren Dame, die er sich eher im Laden einer Tankstelle als in der vornehmen Galerie Matulis vorstellen konnte. Im Hintergrund neben der Tür stand ein weiterer Maßanzug mit Knopf im Ohr. Alle Alarmglocken des Kommissars schrillten gleichzeitig, ohne dass er sich erklären konnte, weshalb. Normale Geschäfte wurden hier nicht abgewickelt, da hätte er so ziemlich alles darauf gewettet, mit Ausnahme der Mütze mit Rummenigges Autogramm vielleicht.
Der Handel ging flott vonstatten. Das hohe Tier zückte die Brieftasche, legte zwei Fünfhunderteuroscheine auf den Tisch der seltsamen Kassiererin und erhielt dafür einen niedlichen Teddy mit goldenem Schleifchen. Ohne ein weiteres Wort verließ der Herr mit dem Teddy den Raum und zog sich wohl über die Hintertreppe zurück. Dieter Vogel schüttelte seufzend den Kopf. Es gab auch in seiner Stadt noch Dinge, die er nicht verstand, und damit meinte er nicht den Flughafen.
Seine Partnerin saß bereits im Auto, als er das Haus verließ.
»Probleme beim Wasser lösen?«, fragte sie gereizt.
Er berichtete haarklein, was er beobachtet hatte, worauf sie nur mit den Achseln zuckte.
»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«
»Das kann doch alles Mögliche bedeuten – und was hat der Teddy mit unserem Fall zu tun?«
Er sparte sich die Antwort, steckte den Zündschlüssel ein und fuhr ab.
»Der Strafzettel steckt im Handschuhfach«, sagte sie.
Er war nicht der einzige. Einmal im Monat räumte er das Fach und warf die Zettel in den Müll.
»Hat deine Unterhaltung mit Madame Matulis wenigstens etwas mit dem Fall zu tun?«, fragte er schnippisch.
»Sie ist sich nicht ganz sicher, ob es dieselbe Waffe ist. Jedenfalls bleibt sie bei der Geschichte, die wir von Lukas Matulis kennen. Damals wurden sechs wertvolle Ikonen gestohlen, was die Versicherung eine Stange Geld gekostet haben muss.«
»Ich weiß, aber er besitzt ja noch genug von dem Zeugs, wie ich gesehen habe.«
Nachdem sie eine Weile schweigend weitergefahren waren, nahm er einen neuen Anlauf:
»In dieser Galerie stinkt etwas gewaltig. Wir sollten irgendwie an Matulis dranbleiben.«
»Wie denn? Was glaubst du, würde die Staatsanwaltschaft dazu sagen oder unser lieber Chef? Willst du unbedingt Streife fahren?«
Sie hatte ja recht – aber tausend Euro für einen kleinen Teddybären?
Sankt Petersburg, Russland
Vladimir Lukov trat ungeduldig von einem Fuß auf den andern. Die Warteschlange vor der Kasse der einzigen vernünftigen Stolowaja im weiten Umkreis wuchs schneller als er zählen konnte, dem Internet sei Dank. Die ganze Bande der Touristen schien sich in diesem einen Lokal mit hundert ›Likes‹ zu versammeln, um sich vor einer weiteren langen Nacht den Bauch für ein paar Rubel vollzuschlagen. Er dachte fast ein wenig wehmütig an die Zeit des Eisernen Vorhangs zurück, die er nur vom Hörensagen kannte. Damals gab es wenigstens keine Touristen – sonst auch nichts, aber das war eine andere Geschichte.