Kitabı oku: «Tambara und das Geheimnis von Kreta», sayfa 2
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Soul hatte schlechte Laune. Gerne hätte sie ihren Bruder auf der Reise nach Kreta begleitet, doch die Regierung war nicht gewillt, einer Musikfachfrau den Besuch eines Naturreservates zu gestatten.
„Keine ausreichende Begründung für eine Angestellte des Musikkonzerns“, hieß es bei jeder ihrer Anfragen.
Noch immer fiel es den Behörden schwer, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Lange Zeit waren Net-Seiten von privaten Nutzern, die sich mit unproduktiven, der Wirtschaft nicht zuarbeitenden Themen befasst hatten, von der Regierung gelöscht worden. In einer Gesellschaft, die strengen Optimierungsprozessen unterlag und in der stets nur das wirtschaftlich einträglichste Produkt überleben konnte, war irgendwann auch der Mensch nur noch als Kunde oder Produzent interessant gewesen. Zwar hatte es nie Verbote bezüglich der Erforschung natürlicher Landschaften gegeben, doch war das Wissen über das Zusammenleben unterschiedlicher biologischer Kreaturen während jahrhundertelanger Forschung zur Optimierung des städtischen Alltags verloren gegangen. Auch ernsthaft interessierte Bürger fanden im Net kaum noch Informationen, denn Themen dieser Art konnten weder die Konsumfreude steigern noch einen Beitrag zur Produktverbesserung leisten. Wer es dennoch versuchte, wurde selten fündig. Man kannte sich einfach nicht mehr aus. Erst als einige Bürger anfingen, Auszüge aus eigenen privaten Büchern ins Net zu stellen, entdeckten auch andere Städter verborgene Schätze aus alten Erbschaften und stellten diese ebenfalls der Allgemeinheit zur Verfügung. Die Regierung, die fürchtete, die neuen Informationen könnten Unruhe stiften und den Bürgern wertvolle Energie rauben, die doch besser der Wirtschaft zugutekommen sollte, fing an, die Seiten zu löschen. Wer dem Müßiggang frönte, stundenlang in der Sonne spazieren ging oder auf einer Bank im (mit Kunststoffbäumen bestückten) Park über Gott und die Welt nachdachte, konnte weder einkaufen noch produzieren. Mittlerweile hatten sich die Behörden aufgrund des öffentlichen Drucks zwar zu einer Öffnung entschlossen, doch wollte man sicherheitshalber erst nur einige wenige Projekte realisieren und abwarten, wie die Bevölkerung mit der neu gewonnenen Freiheit umging.
Soul redete auf ihren Computer ein.
„Kreta – Vergangenheit …, löschen, Kreta – Insel – Altertum …, löschen …“
Die Seiten, die es über die Insel gab, waren hauptsächlich neueren Datums und beschrieben das aktuelle Projekt, doch wenn es um Themen aus der Vergangenheit ging, hatte die Maschine keine Antworten parat. Obwohl der Medienkonzern regelmäßig mit der Regierung kommunizierte und um eine Freigabe der alten Datenbanken bat, sträubten sich die Behörden weiterhin gegen eine umfassende Informationspolitik.
„Zu gefährlich, Wirkung nicht absehbar“, hieß es immer wieder.
Die Bewohner der Stadt Tambara, die in einer perfekten, fest gefügten Kunststoffwelt aufgewachsen waren, in einer Welt, in der es keine Entwicklung gab ohne den Eingriff des Menschen, kämen mit dieser sich eigenständig entwickelnden Natur nicht zurecht, fürchteten die Behörden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie aus Unkenntnis oder falscher Einschätzung des Natürlichen in irgendwelche Gefahren hineinstolperten, war schlichtweg zu groß. Diesem Argument konnte der Medienkonzern nichts entgegensetzen, und so blieb es vorerst bei der begrenzten Datenfreigabe.
Ebenso verhalten ging man bei der Auswahl der Freiwilligen für das Kreta-Projekt vor. Wer eine Erlaubnis erhielt, musste sich im Vorfeld einer intensiven Schulung unterziehen. In wochenlangen Kursen lernten die Teilnehmer über Erde, Wiese und unregelmäßige Pflastersteine zu gehen, keine Angst vor harmlosen Tieren zu haben, wertvolle Pflanzen von bloßem Unkraut zu unterscheiden und dornenbestückte Rosen mit bloßen Händen anzufassen. Auch Reb hatte sich solch einer Prozedur unterziehen müssen, und Soul war die Teilnahme an diesem Seminar wegen der anfangs noch geringen Nachfrage zwar erlaubt worden – vielleicht hatte auch Sir W.I.T. wieder seine Beziehungen spielen lassen –, aber eine Reisegenehmigung blieb ihr vorerst verwehrt.
„Kreta – Natur – früher …“, versuchte Soul ihr Glück noch einmal.
„Keine Ergebnisse gefunden“, bestätigte der Computer.
„Meine Güte, du dummes Ding“, schimpfte sie, „hast du nicht endlich mal etwas Brauchbares anzubieten?“
„Güte – dummes Ding – Brauchbares“, suchte der Computer.
„Ach, du hast mich nicht verstanden“, ärgerte sich Soul.
„Nicht verstanden – möchten Sie eine Übersetzung?“, fragte die Maschine.
„Nein, es ist ja doch nutzlos“, fluchte Soul und wollte gerade den Befehl zum Abschalten geben, als auf dem Monitor Artikel zu dem Wort „nutzlos“ erschienen.
„Meinten Sie ‚nutzlos‘ oder ‚von Nutzen‘?“, suchte der Computer nach einer Ergänzung. „‚Nutzlos‘ ist ein äußerst seltener Begriff. Wir bevorzugen Aktionen, die für uns ‚von Nutzen‘ sind.“
„Du vielleicht“, stöhnte Soul entnervt.
„Möchten Sie eine der Dateien öffnen?“, wollte der Computer wissen.
„Ja, mein Gott, öffnen – die oberste“, befahl sie.
„Besonders groß war der Protest in der Stadt Tambara …“
Soul schoss das Blut in die Adern, als sie den Artikel durchlas.
„… Die Forschungsergebnisse wurden als nicht förderungswürdig eingestuft, weil sie der Wirtschaft keinen Nutzen brachten. Nachdem er von sämtlichen Konzernen der Stadt abgewiesen worden war – immer hieß es: ‚nicht von Interesse, vergangen, nicht zeitgemäß, nutzlos, unproduktiv, gefährlich‘ –, zog sich der junge Mann enttäuscht auf seine Heimatinsel Kreta zurück, wo er fortan ein bescheidenes, zurückgezogenes Leben führte.“
Soul suchte das Einstelldatum. Die Seite war ungefähr hundert Jahre alt. In einer Zeit der allumfassenden medizinischen Vorsorge, des synthetischen Blutes und nachwachsender Labororgane konnte es gut sein, dass dieser Wissenschaftler noch lebte. Merkwürdig, dass solch eine Seite nicht vollständig gelöscht worden war. Aber vielleicht sollten die Bürger hier ja auch aus erster Hand erfahren, dass die Beschäftigung mit dieser speziellen Art von Thematik zu absolut nichts führte.
Soul schob den Stuhl zurück, indem sie sich mit den Zehen vom Schreibtisch abstieß, ließ ihren Fuß gleich oben auf der Tischplatte liegen und platzierte den zweiten darüber. Sie lehnte sich zurück und ließ die Arme über die Rückenlehne nach unten baumeln. So saß sie eine ganze Weile. Dann setzte sie sich plötzlich auf.
„Uninteressant“, höhnte sie, „das werden wir ja sehen. Es sollte sich doch herausfinden lassen, um welche Forschungsergebnisse es sich handelte.“
Sie schickte die Seite ihrem Bruder auf sein Technikarmband.
4
„Computer – on“, befahl Reb, und der Spiegel über seinem Schreibtisch verwandelte sich in eine respektable Computerwand. Das Hotel, das der Medienkonzern für ihn ausgesucht hatte, war mit modernster Technik ausgerüstet und somit für seine Arbeit bestens geeignet. Er nahm einen Schluck von dem Kaffee, den ihm eine Angestellte aufs Zimmer gebracht hatte, und überspielte Souls Seite von seinem Armband auf den Spiegel. Anschließend gab er den Freundschaftscode ein, sodass die Hotelwand mit den Computern zu Hause und allen ihm angeschlossenen Technikarmbändern kommunizieren konnte. So hatten er, seine Schwester und die Freunde Mortues und Botoja Zugriff auf dieselben Quellen, ohne diese jedes Mal einzeln übersenden zu müssen.
Das weltweite Netzwerk hielt auch für ihn keine brauchbaren Informationen bereit. Er versuchte, die Inselbibliothek zu befragen, doch schon bei den ersten Stichwörtern streikte die Maschine.
„No permission“, tönte es aus dem Spiegel.
Reb stellte den Ton ab für den Fall, dass jemand zufällig draußen vor der Tür vorbeiginge, und öffnete eine spezielle Datei seines Computerarmbandes. Der mächtige Sir W.I.T. höchstpersönlich hatte ihm einen digitalen Dietrich zur Verfügung gestellt, einen Code, mit dem er sich in verschlüsselte Dateien einklinken konnte und der ihm bei seinen Recherchen schon oft sehr nützlich gewesen war. Reb hatte dem mächtigen Mann freilich versprechen müssen, diesen geheimen Schlüssel nur nach reiflicher Überlegung und äußerst sparsam zu verwenden. Er musste seine Entscheidungen schon mit Bedacht treffen, denn Sir W.I.T. hatte nicht nur überall seine Hand im Spiel, sondern würde auch, davon war Reb überzeugt, ohne zu zögern auf sein Technikarmband zugreifen und die Funktion wieder sperren, falls ihm irgendetwas nicht passte. Gegen einen kurzen orientierenden Blick in die Inselbibliothek aber, so fand er, dürfte auch der Erfinder des Tambara-Apfels nichts einzuwenden haben.
Reb brauchte nicht lange zu suchen. In Nullkommanichts hatte sein Armband mithilfe des Dietrichs den Zugang zur Inselbibliothek geknackt. Er gab Souls Informationen ein und befahl, ähnliche Seiten zu suchen. Direkt vor seiner Kaffeetasse erschien das Wort „Kreta“.
Reb schob die Tasse zur Seite und las: „… er schien etwas entdeckt zu haben, das weder den Behörden noch den Unternehmen so richtig schmeckte. Sie lobten den jungen Mann zwar als Nachfolgetalent, waren aber nicht gewillt, die Untersuchungsergebnisse zu veröffentlichen. ‚Zu uninteressant, nicht für die Wirtschaft zu benützen‘, hieß es immer wieder. Nach etlichen Gesprächen mit verschiedenen Konzernspitzen und Regierungsvertretern schien auch der Entdecker selber nicht mehr von der Notwendigkeit einer Veröffentlichung überzeugt. So zog er sich aus Tambara zurück, ohne je sein Geheimnis gelüftet zu haben.“
Es klopfte.
„Ja, bitte!“
Die Griechin, die Reb an der Rezeption empfangen hatte, erschien in der Tür. Sie hatte ihr Kleid gegen einen gut sitzenden Hosenanzug ausgetauscht und wirkte jetzt dezent gestylt. Es war ein sehr eleganter Anzug aus einem edlen Stoff in Hellbeige, die Hose im Palazzo-Stil, ein gerade geschnittenes, bis zur Hüfte reichendes Oberteil mit rundem Ausschnitt, ärmellos, darunter ein schneeweißes Shirt mit kurzem Arm. Ihre Haare hatte sie zu einer straffen, glänzenden Rolle hochgesteckt, ein paar mahagonifarbene Strähnen durchbrachen das tiefe Schwarz der perfekt sitzenden Frisur. Ein Hauch von Schminke auf ihrer makellosen Haut ließ sie frisch und jugendlich aussehen.
„Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen“, entschuldigte sie sich. „Mein Name ist Eléni. Ich bin die Tochter des Besitzers und möchte Sie in unserem Hotel willkommen heißen. Normalerweise begrüßen wir die wenigen Gäste, die in unserem Hause Station machen, persönlich, nur heute hatte ich noch keine Gelegenheit dazu. Dies möchte ich jetzt nachholen.“
Sie wirkte äußerst professionell und überreichte ihm einen Korb mit Früchten aus der Region, einem flachen Teller, dem passenden Besteck, einer kleinen Flasche Wein und einer großen Flasche Mineralwasser.
„Herzlich willkommen also, und wenn Sie irgendwelche Wünsche oder Fragen haben, scheuen Sie sich nicht, mich anzusprechen.“
Ihr Blick fiel auf den Artikel an der Computerwand. Sie registrierte die aufgeschlagene Seite und schaute ihren Gast fragend an.
„Recherchen – für das Kreta-Projekt“, log Reb. „Aber ich habe noch nicht das Richtige gefunden.“
Die Griechin schien betroffen, überlegte einen Moment und sagte dann leise, aber eindringlich: „Sie werden uns keine Schwierigkeiten bereiten, nicht wahr?“
5
„Nein, nein“, stöhnte Soul hinter der Scheibe in das Studiomikrofon. „Wir wollen keinen Hit kreieren, dies hier ist Jazz. Jazz bedeutet Emotion, Erregung, das spielt man mit Gefühl, verstehen Sie, Jaazzz, meine Herren, Jaaazzzzz!“
„Woher sollen wir wissen, was Jazz ist“, entgegnete einer der Herren trocken.
Die Studiomusiker im Aufnahmeraum schauten sie durch das Glas teilnahmslos an. Aber sie hatten recht. Woher sollten diese Leute, die in einer Welt aufgewachsen waren, in der ein Hit nach dem anderen produziert wurde und jeder Versuch, auch nur ansatzweise einen eigenen Stil zu kreieren, mit der Begründung „keine Aussicht auf Massenproduktion“ im Keim erstickt wurde, wissen, was Jazz war.
„Entschuldigung, Sie haben recht“, lenkte Soul ein. „Machen wir Schluss für heute. Ich werde sehen, ob ich im Archiv einige alte Aufnahmen auftreiben kann, die Ihnen eine Vorstellung von dem vermitteln, was ich meine.“
Erleichtert packten die Musiker ein. Auch Soul machte sich auf den Heimweg, wollte aber vorher noch kurz bei ihrer Mutter vorbeischauen. Ein wenig gedankenverloren schlenderte sie zu deren Arbeitsräumen hinüber. Ihre Mutter würde sicher ein passendes Stück zum Einhören in die entsprechende Stilrichtung finden. Als Professorin für Musik an der hiesigen Universität hatte sie Zugang zu wichtigen Quellen und in ihrer Freizeit fleißig Material für ihre Lieblingsmusik, den Soul und populären Jazz, gesammelt, was ihr nun, da die Vergangenheit immer mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückte, einen bescheidenen Ruhm eingebracht hatte. Ihre Konzerte, in denen sie die alte Musik mit Unterstützung ihrer Tochter wiederaufleben ließ, fanden überall großen Anklang.
Das Aufnahmestudio war leer, das Büro nebenan ebenfalls. Soul ging zu dem Obstteller hinüber, der im Büro auf dem Schreibtisch stand, und schnappte sich einen Tambara-Apfel. Sir W.I.T. fiel ihr ein, der Erfinder dieses Apfels, des einzigen Apfels, den es heutzutage noch zu kaufen gab. In einer Welt, in der nur das Beste überleben konnte und auch das Obst einem gentechnischen Optimierungsprozess unterzogen worden war, verkauften die Supermärkte von jeder Obstsorte mittlerweile nur noch die jeweils wirtschaftlich Einträglichste. So lagen auch jetzt auf dem Teller vor ihr noch zwei Chicotora-Bananen, eine Lianca-Birne und ein Petrochini-Pfirsich, prachtvolle Früchte, die aussahen wie von einem Maler idealtypisch auf die Leinwand gebannt.
Sir W.I.T. hatte den jungen Leuten geholfen, ihre Eltern mitsamt den restlichen zweihundert Gefangenen aus dem Kornreservat zu befreien. Ohne seine Hilfe hätten sie es nie geschafft. Erst später erfuhr sie von seinem eigentlichen Motiv. Er hatte seine geschiedene Frau befreien wollen, für die er sich trotz Scheidung immer noch verantwortlich fühlte. In die Dankbarkeit, die sie für diesen Mann empfand, mischte sich regelmäßig ein Hauch von Zorn. Soul hegte ihm gegenüber, wie sie nicht gerne zugab, ein wenig mehr als nur freundschaftliche Gefühle, und auch er hatte, so schien es ihr zumindest, mehr als einmal Interesse an ihrer Person signalisiert, auch wenn er sie immer wieder für seine eigenen Zwecke einsetzte. Sie erinnerte sich noch gut, wie er sie bei der Erkundung der Naturschau im Kornreservat zu einem harmlosen Spaziergang eingeladen hatte und sich hinterher herausstellte, dass er eigentlich nur mit seinem Armband das Gelände hatte scannen wollen. Ein gemächlicher Rundgang zu zweit war schlichtweg unverdächtiger gewesen als eine Erkundungstour ohne weibliche Begleitung. Sie konnte ihn auch nie erreichen. Kaum hatte eine Mission ihren Abschluss gefunden, verschwand er jedes Mal spurlos von der Bildfläche. Seit der Befreiungsaktion im Kornreservat hatte sie ihn nur bei offiziellen Anlässen gesehen, ab und zu eine E-Mail mit ihm gewechselt. Von Zeit zu Zeit hielt sie im Net nach ihm Ausschau. Wie immer gab es zahlreiche Artikel über ihn, aber kein einziges Bild.
Ganz in Gedanken wandte Soul sich dem Computer der Mutter zu.
„Stichwort: Sir W.I.T.“, sprach sie in die Maschine. Sie orderte den letzten Artikel und traute ihren Augen nicht.
„Nach neuesten Informationen bereist er gerade Kreta“, stand dort, „um sich an Ort und Stelle über das Renaturierungsprojekt zu informieren.“
Soul spürte, wie ihr Herz zu pochen begann.
„Kreta“, zischte sie. „Komme, was da wolle, aber ich muss nach Kreta!“
6
Reb erfuhr nicht, was die Griechin mit Schwierigkeiten meinte. Als er fragend aufhorchte, hatte sie sich höflich, aber bestimmt verabschiedet und das Zimmer verlassen. Nun war er wieder allein. Er wollte doch einmal sehen, was der Computer über diese Frau hergab. Mit einem Klick verließ er die Inselbibliothek und lud die offizielle Website des Hotels auf die Spiegelwand. Staunend begutachtete er die sich formierende Seite, die in ihrer professionellen Aufmachung auch in jede Großstadt gepasst hätte. Sie war zwar ein wenig schlichter gehalten als die (mit im Sekundentakt wechselnder Werbung bespickten) Domains der großen Konzerne und buhlte nicht um jeden Preis um die Aufmerksamkeit ihres Betrachters, wirkte aber genauso durchdacht und zielorientiert strukturiert. Reb schaltete auf die Personalseite um und betrachtete die Menschen, die in diesem Hotel arbeiteten: das Reinigungsteam, das Küchenpersonal, die Verwaltungsangestellten, den Hotelbesitzer, seine Tochter. Er klickte auf Eléni, die Griechin erschien im Großformat an der Spiegelwand.
Reb vertiefte sich für einen Moment in diese Frauengestalt. Sie wirkte genauso nüchtern und perfekt wie der Rest der Seite. Ihre Haare waren zum Zeitpunkt der Aufnahme wohl noch nicht getönt, das Mahagonirot fehlte, stattdessen schimmerte ihre Frisur in einem warmen, tiefen Schwarzton. Der Hosenanzug war derselbe, ihre Haltung aufrecht, der Blick klar, die Gesichtszüge wirkten sehr ebenmäßig, geradezu klassisch. Reb konnte sie sich gut in einem altertümlichen Gewand vorstellen. Er suchte nach Seiten mit altgriechischer Kleidung und fand eine Frau auf den Werbeseiten des Hotels. Sie stand neben dem Namenszug und trug ein schlichtes, bis zum Boden reichendes Gewand, das an einer Seite schräg über die Achsel fiel und an der anderen Seite eine schöne Schulter mit makelloser Haut entblößte. Auf ihrer rechten Handfläche trug sie – dem Namen des Hotels entsprechend – einen rosafarbenen Kakadu.
Reb isolierte die Figur, löschte den Papagei und enthauptete die Dame per Knopfdruck. Auf den frei gewordenen Platz schob er Elénis Kopf, betrachtete sein Werk und war angenehm überrascht. Der Kopf ergänzte die Gestalt perfekt.
„Das ist ja geradezu klassisch“, entfuhr es ihm, „klar, schlicht, eindeutig, grundlegend, klassisch.“
In seiner Begeisterung musste er wohl vergessen haben, die Suchfunktion auszuschalten, denn die entsprechenden Adressen erschienen fast zeitgleich auf dem Monitor und legten sich über Elénis Bild.
„Computer – stop“, wollte er schon korrigieren, als seine Neugier ihn eine der Seiten öffnen ließ.
„Einer der letzten Vertreter der altgriechischen Klassik“, stand dort, „er bewirtschaftet ein kleines Landgut, wie es in seiner Heimat seit jeher üblich gewesen ist, züchtet Oliven für den Eigenbedarf und wehrt sich gegen den Verkauf seiner Produkte an Kunden aus der Stadt.“
Unter dem Artikel erschienen drei Köpfe, ein älterer Mann unter einem Olivenbaum, ein Mann im mittleren Alter während eines Interviews und ein junger Heißsporn mit weißem Kittel und einem Reagenzglas in der Hand. Reb brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte. Dieses Gesicht, das einen Mann in drei verschiedenen Lebensphasen zeigte, kam ihm seltsam bekannt vor. Er schlug Souls Seite auf und wurde fündig. Es war der Geheimnisträger, den seine Schwester ausfindig gemacht hatte.
Reb betrachtete die Aufnahmen des Mannes eine Weile. Sein Gesicht wirkte auf dem dritten Bild trotz des hohen Alters noch wach und klar, die Augen schauten den Betrachter direkt an, so als hätte ihr Besitzer auch in der heutigen Zeit noch eine wichtige Funktion zu erfüllen. Die Art kam ihm bekannt vor, ein wenig Stolz schimmerte durch, vielleicht auch Trotz oder das Wissen, dass man der übrigen Menschheit etwas voraushatte. Reb isolierte den Kopf des alten Mannes, schob ihn quer über die Spiegelfläche nach oben, rechts neben Elénis Gesicht. Er schnitt auch den Kopf des jungen Wissenschaftlers heraus, stellte ihn links neben die Griechin und verglich die drei Gesichter: den Geheimnisträger in jungen Jahren, die Griechin, den gealterten weisen Mann. Sein Verdacht bestätigte sich. Der Kopf dieses Mannes trug die gleichen Gesichtszüge wie das Gesicht der Tochter des Hotelbesitzers.