Kitabı oku: «Logos Gottes und Logos des Menschen», sayfa 2

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0. Einleitung
0.1 Allgemeine Vorbemerkungen

Es gehört zu den Aufgaben christlicher Theologie, das Verhältnis von Glaube und Vernunft zu klären und den christlichen Glauben als vernunftgemäß auszuweisen. Diese Aufgabe ergibt sich aus dem Anspruch des Glaubens, der menschlichen Vernunft nicht unverbunden gegenüberzustehen, sondern ihr im Gegenteil etwas zu sagen zu haben. Denn seit den Anfängen des Christentums wird Jesus Christus als der ‚Logos Gottes‘ verstanden, wobei ‚Logos‘ zugleich ‚Wort‘ und ‚Vernunft‘ bedeutet. Im Christusgeschehen spricht Gott den Menschen an, wodurch die Vernunft des Menschen Anteil an der Vernunft seines Schöpfergottes erhält. Deshalb ist die Vernunft keineswegs aus dem Offenbarungsgeschehen ausgeklammert, sondern im Gegenteil von ihm herausgefordert.

Wenn der Logos Gottes nun aber von der menschlichen Vernunft als vernünftig erkannt werden soll, muss es bei aller Verschiedenheit zwischen ihm und dem Logos des Menschen eine Übereinstimmung geben. Der Logos Gottes muss also ein dem Logos des Menschen gemäßer Logos sein, er muss ihm entsprechen, um vom Menschen als ‚Vernunft‘ erkannt werden zu können. Die Theologie hat die Aufgabe, diese Entsprechung aufzuzeigen. Nur wenn ihr dies gelingt, kann sie den christlichen Glauben als eine der menschlichen Vernunft gemäße Weltanschauung verantworten. Denn nur dann kann gesagt werden, dass der Glaube die Vernunft nicht etwa unterdrückt und auf diese Weise den Menschen von sich selbst entfremdet, sondern sie vielmehr um eine Dimension zu erweitern vermag.

Ein Aufweis dieser Analogie erfordert nicht nur die theologische Bestimmung des Logos Gottes und mithin eine Antwort auf Fragen nach Form und Inhalt der Christusoffenbarung und der Möglichkeit einer unabhängig von dieser Offenbarung möglichen Erkenntnis des Logos in der Schöpfung. Er erfordert darüber hinaus und zuallererst auch eine Bestimmung der von diesem Logos affizierten menschlichen Vernunft. Um in verantwortbarer Weise von Gott sprechen zu können, muss Theologie also wissen, was sie unter ‚Vernunft‘ versteht, und zwar sowohl unter göttlicher als auch unter menschlicher Vernunft.

Dies ist bei Weitem kein rein wissenschaftlich-theoretisches Problem. Denn jeder Glaubende, der seinen Glauben vor der Vernunft verantworten will – und dies sollten nach 1 Petr 3,15 wohl nicht nur die Theologen sein –, muss dabei wenigstens implizit neben einem bestimmten Verständnis des Logos Gottes auch immer von einem bestimmten Verständnis der menschlichen Vernunft ausgehen. Doch ein allgemein-einheitliches Verständnis menschlicher Vernunft ist im Kontext der heutigen Pluralität menschlicher Lebensverhältnisse weitgehend verloren gegangen. Die eine Vernunft gibt es nicht mehr, sondern als ‚vernünftig‘ wird gemeinhin das bezeichnet, was in einer bestimmten Situation der Erreichung eines zuvor festgelegten Zieles und Zweckes dient. Dieses Ziel kann z.B. sein, die Strukturen der beobachtbaren Welt möglichst genau zu beschreiben, wie im Falle der naturwissenschaftlichen Vernunft. Es kann aber auch im größtmöglichen Profit für das eigene wirtschaftliche Unternehmen bestehen, wie im Falle ökonomischer Vernunft. Auch moralische Vernunft, die den Schutz der personalen Würde aller Menschen zum Ziel hat, und ökologische Vernunft, die sich dem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und der Natur verschreibt, sind dann nur noch zwei unter vielen möglichen Rationalitäten, die teilweise auch durchaus, bedingt durch die verschiedenen Zielsetzungen, im Widerspruch zueinander stehen können.

Diese Kontextualität und Pluralität der Vernunft hat für das Glaubensverständnis fatale Folgen, denn wenn der Glaube seine Vernunftgemäßheit nur an einem oder einigen Vernunftkonzepten unter vielen erweist, welche immer nur kontextabhängige Geltung beanspruchen können, kann er seinen Anspruch auf universal gültige Wahrheit nicht aufrechterhalten. Ihm fehlt dann eine universal gültige Grundlage, auf welche er diesen Anspruch gründen könnte. Deshalb muss Theologie an der philosophischen Bestimmung eines Einheitspunkts menschlicher Vernunftvollzüge interessiert sein, der es ermöglicht, den Glauben mit der einen Vernunft des Menschen zu vermitteln. Darüber hinaus braucht es diesen Einheitspunkt, um auch die Universalität moralischer Maßstäbe vernünftig begründen zu können. Drittens ist eine gemeinsame Vernunft aller Menschen die unabdingbare Bedingung dafür, dass ein zwischenmenschlicher Dialog auf vernünftiger Basis grundsätzlich möglich bleibt.

Joseph Ratzinger hat in seiner Theologie diese Forderungen an den Vernunftbegriff vielfach zum Ausdruck gebracht und damit bewusst die Herausforderungen der Vernunftpluralität für die Theologie angenommen. Die bewusste Annahme dieses Problems und seine konsequente Bearbeitung machen Ratzingers Denken zu einer eindrucksvollen Demonstration einer Möglichkeit für den theologischen Umgang mit dieser Pluralität und für die Bestimmung eines einheitlichen Vernunftbegriffs, der die Pluralität in sich aufzunehmen vermag. Im Zuge der vorliegenden Arbeit soll dieser Vernunftbegriff Ratzingers analysiert und kritisch betrachtet werden. Wie ist der Einheitspunkt beschaffen, in welchem Ratzinger die vielfältigen Vernunftkonzeptionen vereint, um den genannten wichtigen Anliegen gerecht zu werden? Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Bestimmung von ‚Vernunft‘ für das Glaubensverständnis, das Kirchenbild, die moralische Orientierung und den interreligiösen Dialog? Diese Fragen sollen systematisch zu beantworten versucht werden.

Beeinflusst sowohl vom hoffnungsvollen Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils, das bewusst den Dialog mit der säkularen Welt suchte, als auch von den theologischen Früchten und Risiken dieses Dialogs, mit denen er sich als Professor und als späterer Präfekt der römischen Glaubenskongregation kritisch auseinandersetzte (und als Papst Benedikt XVI. noch immer auseinandersetzt), ist Ratzingers theologisches Wirken schon von seiner Biografie her nachhaltig vom Dialog der Theologie mit der säkularen Vernunft bestimmt. Sein Verständnis des Vernunftbegriffs stellt deshalb das Produkt eines langen Reflexionsprozesses dar, der philosophisch-theologische und lebenspraktische Einsichten miteinander vereint und auf beiden Gebieten um Chancen und Gefahren für Glaube und säkulare Vernunft weiß, die mit der Bestimmung des Vernunftbegriffs zusammenhängen.

Um diese praktisch-theoretische Vielfalt im Denken Ratzingers widerzuspiegeln, wurden in dieser Arbeit zur Darstellung seiner Konzeption neben seinen schwerpunktmäßig behandelten zahlreichen wissenschaftlichen Werken auch die von ihm veröffentlichten Interviewbände, einige seiner Predigten und Meditationen sowie seine drei bisher veröffentlichten päpstlichen Enzykliken herangezogen. Auf diese Weise wird ein vielschichtiges Bild vom Vernunftkonzept Ratzingers gezeichnet, das bei aller Einheitlichkeit und Konsistenz auch einzelne Entwicklungsstränge im Denken Ratzingers aufzeigt.

Hinsichtlich dieser Entwicklung sei ein Ergebnis der Arbeit bereits vorab erwähnt: Wenn Ratzinger immer wieder einen mit den Studentenunruhen von 1968 in Zusammenhang gebrachten ‚Bruch‘ in seinem Denken abstreitet, so wird man ihm hinsichtlich der Grundlagen dieses Denkens recht geben müssen. Es sind Konstanten darin auszumachen, die sich von seiner Dissertation bis zu seinem bereits als Papst Benedikt XVI. veröffentlichten ersten Jesus-Buch durchhalten. Seine theologische Schwerpunktsetzung hinsichtlich dieser Konstanten verschiebt sich allerdings tatsächlich mit der Zeit, sodass unabweisbare Entwicklungen, z.B. von einem mehr heilsgeschichtlich orientierten Denken hin zu einem metaphysisch orientierten Denken, nicht von der Hand zu weisen sind. Diese Verschiebungen lassen sich als Reaktion auf theologisch-philosophische und gesellschaftliche Strömungen erklären, welche in den Augen Ratzingers im Begriff sind, die Einheit der Vernunft und damit die Kategorie einer universal gültigen Wahrheit aufzulösen.1

0.2 Gliederung und Inhalt der Arbeit

Der Einheitspunkt der Vernunft wird von Ratzinger bestimmt, indem er den vielfältigen Bezug der menschlichen Vernunft zum einen Logos Gottes herausstellt, der dabei als die implizite Voraussetzung menschlicher Vernunfttätigkeit in ihren verschiedenen Vollzügen erscheint. Ratzinger zeigt dies im Hinblick auf die naturwissenschaftlich-technische, die moralische und die ästhetische Vernunft des Menschen, welche sich seines Erachtens auf je eigene Weise auf den Logos des Schöpfers als ihrer impliziten Voraussetzung beziehen (Teil I, Kap. 1–3).

Der implizite Bezug zum Logos Gottes als kosmischem Grundprinzip der Wirklichkeit ist für Ratzinger also der Einheitspunkt menschlicher Vernunft. Als Voraussetzung aller menschlichen Vernunfttätigkeit, als die die Vernunft Gottes von der menschlichen Vernunft erkannt werden kann, ist sie dieser immer schon analog. Damit ist der Offenbarungsglaube als Glaube an die personale Offenbarung des Logos Gottes nicht nur als der menschlichen Vernunft gemäßer Glaube, sondern als höchste Form menschlicher Vernunft verstanden, weil diese im Glauben in personaler Weise Anteil an der Vernunft Gottes erlangt. Historisch sieht Ratzinger diese Einheit von Vernunftbezug und Glaubensbezug zum Logos Gottes in der Synthese von griechischer Logos-Philosophie und christlich-jüdischem Offenbarungsglauben vollzogen. Diese Bestimmmung des Verhältnisses von Glaube und Vernunft hat Konsequenzen sowohl für sein Kirchenverständnis als auch für sein Verständnis des interreligiösen Dialogs (Teil I, Kap. 4).

Wo die Vernunft des Menschen ihren Bezug zum Logos Gottes leugnet, verschließt sie sich Ratzinger zufolge in ihrer Autonomie und verfehlt damit ihr eigentliches Wesen. Ein solches Abschneiden der Vernunft vom Logos des Schöpfers sieht Ratzinger sowohl im philosophischen als auch im naturwissenschaftlich-technischen Denken der Neuzeit gegeben. Diese Loslösung von der Anerkennung des Logos Gottes als Einheitspunkt menschlicher Vernunft macht die Begründung moralischer Vernunft und des universalen Wahrheitsanspruchs christlichen Glaubens in den Augen Ratzingers unmöglich und führt damit zu einem unheilbaren Werterelativismus und zur ‚Abschaffung des Menschen‘ als geistiger und auf seinen Schöpfer bezogener Kreatur. Ratzinger fordert deshalb eine erneute Orientierung der menschlichen Vernunft am Logos Gottes als ihrem Ursprung (Teil I, Kap. 5).

Ratzingers Bestimmung des Vernunftbegriffs wird in dieser Arbeit zunächst aus philosophischer Sicht kritisch untersucht. Zu diesem Zweck wird die philosophiegeschichtliche Entwicklung des Vernunftbegriffs betrachtet und Ratzingers Vernunftbegriff in diese Entwicklung eingeordnet. Dabei zeigt sich, dass sich Ratzingers Vernunftbegriff stark am spekulativen Vernunftkonzept der griechischen Philosophie orientiert, welche sich in ihrer Wahrheitserkenntnis auf die Strukturen einer ihr vorgegebenen kosmischen Vernunft bezogen wusste. Dieses Vernunftkonzept ist mit der neuzeitlichen Vernunftkritik allerdings philosophisch in die Krise geraten und kann deshalb von Ratzinger angesichts dieser Vernunftkritik nur durch implizite Rückgriffe auf Glaubensaussagen aufrechterhalten werden (Teil II).

Ratzingers Bestimmung des Vernunftbegriffs zeichnet sich besonders durch das Ernstnehmen von drei wichtigen Anliegen aus. Es geht ihm erstens um den Aufweis einer Analogie von menschlichem und göttlichem Logos im Hinblick auf eine positive Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft, zweitens um die vernünftige Begründung von Moral und drittens um die Begründung des interreligiösen und interkulturellen Dialogs auf der Basis einer universal anerkannten Vernunftwahrheit. Im Zuge einer kritischen Würdigung des Vernunftbegriffs Ratzingers wird untersucht, ob Ratzingers Vernunftverständnis diesen Anliegen angesichts der aufgezeigten philosophischen Problematik tatsächlich gerecht zu werden vermag. Dabei zeigen sich zahlreiche Problempunkte, die z.B. Ratzingers Verhältnisbestimmung von Glaube und Naturwissenschaft, seine Harmonisierung von philosophischem und offenbarungstheologischem Logos-Begriff, sein negatives Verständnis des neuzeitlichen Autonomiegedankens und seine übergeschichtliche Bestimmung moralischer Vernunftwahrheit betreffen (Teil III).

Sowohl die wichtigen Anliegen Ratzingers als auch die aus seinem Vernunftkonzept folgenden Probleme bilden ein Raster, in welches die Arbeiten anderer Autoren zum Vernunftbegriff Ratzingers und zu seiner Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft eingeordnet werden können. Die damit erfolgende Darstellung des Forschungsstands zum Vernunftbegriff Ratzingers orientiert sich also ganz an der Stellung der verschiedenen Autoren zu den Anliegen und den Problemen der ratzingerschen Konzeption und damit an den zwei Leitfragen, ob der jeweilige Verfasser einer Arbeit einerseits die wichtigen Anliegen Ratzingers zu würdigen weiß und andererseits die philosophischen und theologischen Probleme sieht, die Ratzingers Konzeption nach sich zieht. Um diesen systematischen Bezug zur kritischen Würdigung des Vernunftbegriffs Ratzingers zu ermöglichen, erfolgt die Darstellung des Forschungsstands erst an dieser Stelle der Arbeit (Teil IV).

Kritik ist nur dann konstruktiv, wenn sie mit dem Aufweis alternativer Möglichkeiten verbunden wird. Deshalb wird im letzten Kapitel dieser Arbeit eine alternative Bestimmung des Vernunftbegriffs vorgeschlagen, die ebenfalls angesichts der Pluralität der Rationalitäten einen Einheitspunkt der menschlichen Vernunft identifizieren kann und die Anliegen Ratzingers deshalb positiv aufzunehmen vermag. Weil es sich dabei aber nicht wie bei Ratzinger um eine spekulativ-metaphysische, sondern um eine anthropologische Bestimmung des Vernunftbegriffs handelt, vermeidet sie gleichzeitig die philosophischen und theologischen Probleme, die der spekulative Vernunftbegriff Ratzingers mit sich bringt (Teil V).

Im Vorwort zu seinem ersten Jesus-Buch bittet Papst Benedikt XVI. die Leserinnen und Leser „um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“2 Dementsprechend war der Verfasser dieser Arbeit bemüht, Ratzinger bei der Lektüre seines Werkes diesen Vorschuss reichhaltig zu gewähren, um zu einem wirklichen, möglichst vorurteilsfreien Verstehen seines Denkens zu gelangen. Der analytische Teil der Arbeit soll diese angestrebte, aber natürlich niemals gänzlich zu realisiernde Vorurteilsfreiheit widerspiegeln. Trotzdem musste in einem zweiten Schritt dort Kritik geübt werden, wo nach Ansicht des Verfassers innere Unstimmigkeiten der Konzeption Ratzingers diese Kritik herausfordern und ein Verzicht auf Kritik in diesen Punkten auch einen Verzicht auf den Gebrauch des eigenen Urteilsvermögens bedeutet hätte. Es ging darum, den großen Entwurf eines bedeutenden und scharfsinnigen Theologen zu würdigen, von dem die Theologie auf zahlreichen Gebieten viel lernen kann und der dem heutigen Menschen eindrucksvoll einen möglichen Weg aus dem ‚Dilemma der Neuzeit‘ gewiesen hat. Gleichzeitig mussten die inneren Probleme dieses Entwurfs sachlich benannt werden. Somit wurde versucht, Bertrand Russells (1872–1970) Rat zu beherzigen: „Will man einen Philosophen studieren, so ist die richtige Einstellung ihm gegenüber weder Ehrfurcht noch Geringschätzung, sondern zunächst eine Art hypothetischer Sympathie, bis man in der Lage ist, nachzuempfinden, was der Glaube an seine Theorien bedeutet; erst dann darf man ihn kritisch betrachten, und das möglichst in der geistigen Bereitschaft eines Menschen, der von seinen bisher vertretenen Ansichten unbelastet ist. Geringschätzung würde den ersten und Ehrfurcht den zweiten Teil dieses Vorganges beeinträchtigen.“

1 Vgl. 6.2. Ein Überblick über theologische Beiträge zur Frage eines ‚Bruchs‘ in der Theologie Ratzingers findet sich bei Kaes, 15–21.

Verweise auf Sekundärliteratur werden im Fall von nur einem im Literaturverzeichnis angegebenen Titel des betreffenden Autors mit dem Namen des Autors gekennzeichnet. Im Fall von mehreren Titeln wird zusätzlich ein Kurztitel verwendet, der im Literaturverzeichnis der vollständigen bibliografischen Angabe in Klammern beigefügt ist.

2 Jesus von Nazareth I, 22.

Verweise auf Schriften Ratzingers/Benedikts XVI. werden als Kurztitel in kursivem Druck und ohne Autorenhinweis angegeben. Die Veröffentlichungen Ratzingers/Benedikts XVI. sind im Literaturverzeichnis gesondert aufgeführt und alphabetisch nach ihren Kurztiteln geordnet. Sämtliche Zitate in dieser Arbeit werden zwecks besserer Lesbarkeit gemäß der neuen Rechtschreibung wiedergegeben.

I. Analyse des Vernunftbegriffs Ratzingers

1. Positivistische Vernunft
1.1 Wahrheit des Faktums: Historische Vernunft

Für Ratzinger ist die Wende vom metaphysischen Denken der Antike und des Mittelalters hin zum positivistischen Denken der Neuzeit besonders mit der Person des italienischen Philosophen Giambattista Vico (1688–1744) verbunden, der Ratzingers Ansicht nach „wohl als erster eine völlig neue Idee von Wahrheit und Erkenntnis formuliert und in einem kühnen Vorgriff die typische Formel des neuzeitlichen Geistes hinsichtlich der Wahrheits- und Wirklichkeitsfrage geprägt hat.“1 Der Inhalt dieser Formel lautet ‚verum quia factum; dies bedeutet, dass für den Menschen nur das als wahr erkennbar ist, was er selbst gemacht hat. Hinter dieser Überzeugung steht der aristotelische Gedanke, dass man, um eine Sache wirklich zu kennen, ihre Ursache kennen muss. Weil das Sein selbst sich aber der vollen Kenntnis des Menschen entzieht, führt zu gesicherten Aussagen deshalb nach Ansicht Vicos eben nicht die metaphysische Spekulation, sondern nur die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem vom Menschen Gemachten. „Nicht dem Sein nachzudenken ist die Aufgabe und Möglichkeit des menschlichen Geistes, sondern dem Faktum, dem Gemachten, der Eigenwelt des Menschen, denn nur sie vermögen wir wahrhaft zu verstehen.“2 Nach der Infragestellung des metaphysischen Denkens des Mittelalters und der Antike sucht der Mensch nun Gewissheit in dem, was er selbst erzeugt hat. „Die Herrschaft des Faktums beginnt, das heißt die radikale Zuwendung des Menschen zu seinem eigenen Werk als dem allein ihm Gewissen.“3 Wahrheit wird von der so umschriebenen historischen Vernunft also nicht mehr in metaphysischer Spekulation gesucht, sondern im historischen Faktenwissen.

Diese neue Sichtweise hat zur Folge, dass als die einzigen anerkannten Wissenschaften nur noch die Mathematik und die historische Wissenschaft übrig bleiben, denn nur in ihnen kann der Mensch sich seiner Erkenntnis noch sicher sein. Die „Historie verschlingt gleichsam den ganzen Kosmos der Wissenschaften in sich hinein und verwandelt sie alle grundlegend.“4 Ratzinger sieht diese Entwicklung in der Philosophie bei Hegel, in der Nationalökonomie bei Marx und schließlich in der Naturwissenschaft bei Darwin vollzogen. Bei Letzterem „wird das System des Lebendigen als eine Geschichte des Lebens begriffen; an die Stelle der Konstanz dessen, was bleibt, wie es geschaffen ist, tritt eine Abstammungsreihe, in der alle Dinge voneinander kommen und aufeinander rückführbar sind“5.

Das Prinzip des geschichtlichen Denkens führt auch im philosophischen Bereich zu einem grundlegenden Umdenken. Hier wird die Welt nun „nicht mehr als das feste Gehäuse des Seins, sondern als ein Prozess, dessen beständige Ausbreitung die Bewegung des Seins selber ist“6, verstanden. Das statisch-räumlich gedachte Seinsverständnis der Antike und des Mittelalters weicht also nun einem Verständnis, bei dem das Sein selbst als Zeit begriffen wird: „Zeit ist nicht nur die äußere Umdrehung des Kosmos, sondern ist die Form des Seins selbst, das nur als Werden besteht und uns nur deshalb als stehendes Sein erscheint, weil wir einen so geringen Ausschnitt überblicken, dass wir nur die Kontinuität der scheinbar bleibenden Gestalt, nicht deren stilles Unterwegssein zu neuen Gestalten wahrnehmen.“7 Der Bezug des Menschen auf ein Vernunftprinzip des Seins ist unter diesen Bedingungen natürlich nur noch innerhalb des Prozesses möglich, als welcher das Sein nun gedacht wird. Ratzinger sieht diese Konsequenz in der Philosophie Hegels verwirklicht: Der „Logos wird in Geschichte zu sich selbst. Er kann also an keinem einzelnen Punkt der Geschichte angesiedelt, er kann nie übergeschichtlich als in sich selber Seiendes gesichtet werden.“8 So läuft für Ratzinger ein Historismus, der sich absolut setzt, auf die Auflösung von Wahrheit in Geschichte hinaus. Die Wahrheit steht nicht über der Geschichte, sondern ist ihr immanent, auch sie ist der Zeitlichkeit unterworfen.

Der Mensch findet sich und sein Selbstverständnis durch diese Einsicht in die Zeitlichkeit allen Seins und die damit verbundene Reduktion aller Wissenschaft auf die Historie in einer „eigentümlichen Situation“ wieder: „In dem Augenblick, in dem eine radikale Anthropozentrik einsetzt, der Mensch nur noch sein eigenes Werk erkennen kann, muss er doch zugleich lernen, sich selbst als ein bloß zufällig Gewordenes, auch nur als ‚Faktum‘, hinzunehmen.“9 Das Selbstverständnis des Menschen als ein sinnvoll im Ganzen des Kosmos integriertes Wesen ist somit innerhalb des historischen Denkens fragwürdig geworden. Seine scheinbare kosmische Seinsnotwendigkeit ist der Einsicht in seine geschichtliche Kontingenz gewichen.

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