Kitabı oku: «Die Jugend des Königs Henri Quatre», sayfa 9
Jesus
Noch ritt Henri durch das Land, wie ein Prinz es muß, den Schlachten entgegen, oder weil er heiraten soll. Henri von Navarra sollte Marguerite von Valois heiraten und mußte aus seiner Gascogne bis nach Paris reiten, aber er hatte harte Schenkel. Sie saßen vierzehn Stunden und länger im Sattel, wenn es ihnen darauf ankam, achteten auch auf die Gesundheit ihres Pferdes, da sie nicht immer Geld hatten für ein anderes: sie hätten es denn von einer Weide mitgenommen.
Vornweg, aber immer umgeben von anderen, ritt Henri, und dann folgten viele. Allein war er nie. Man war nie allein, man lebte im Getrappel und im Dunst der Tiere, sowie im Geruch der eigenen Leiber, die erwärmtes Leder, feuchtes Tuch trugen. Nicht nur der Schimmel trabte mit ihm dahin, sondern der ganze geschlossene Haufe gleichgesinnter Abenteurer, fromm und verwegen, versetzte den Reiter schneller als anzunehmen, ja, wie ein verzaubertes Gefährt versetzte ihn der berittene Haufe von Dorf zu Dorf. Die Bäume blühten weiß und rot, vom blauen Himmel wehte weiche Luft, die jungen Abenteurer lachten, sangen, stritten. Manchmal saßen sie ab, verschlangen viel Brot, der rote Wein stürzte sich in ihre Kehlen, ihnen verwandt wie Luft und Erde. Die Mädchen mit der goldigen Haut kamen von selbst und setzten sich auf die Knie der Jungen mit braunen Wangen. Die Jungen brachten die Mädchen zum Kreischen oder Erröten, die einen mit einem schnellen Griff, die anderen durch selbstgemachte Verse, und die waren ebenso dreist. Unter sich, im Reiten, sprachen sie oft von der Religion.
Alle um Henri waren kurz vor oder nach dem zwanzigsten Jahr, alle aufsässig, voll Widerspruch gegen die Einrichtungen der Welt und gegen die Mächtigen. Diese hatten sich, ihnen zufolge, Gott entfremdet. Gott meinte alles anders als sie, er war gesonnen wie diese Zwanzigjährigen. Daher waren auch alle ihrer Sache ganz sicher und fürchteten selbst den Teufel nicht, um so weniger aber den Hof von Frankreich. Unterwegs, solange sie noch im Süden waren, traten alte Hugenotten ihnen in den Weg, erhoben beide Hände und beschworen den Prinzen von Navarra, sich vorzusehen. Er kannte es längst, sie waren mißtrauisch durch zahlreiche Erfahrungen. „Aber, liebe Freunde, das wird jetzt alles ganz anders. Ich heirate die Schwester des Königs. Ihr sollt die Glaubensfreiheit haben, mein Wort darauf!“
„Wir stellen die Freiheit her!“ riefen die Reiter ringsum und hinten.
„Die Selbstherrlichkeit des Volkes!“
„Das Recht! Das Recht!“
„Ich sage: die Freiheit!“
Dies war das stärkste ihrer Worte. Damit versehen und gerüstet, ritten sie im Haufen nach Norden. Viele, vielleicht die Mehrzahl, verstand es einfach so, daß sie in der Macht und den Genüssen ablösen wollten alle, die jetzt nach ihrer Meinung frei waren. Henri begriff sie durchaus, er erkannte diese Art Menschen in der Menge und liebte sie ziemlich, mit ihnen war leicht leben. Seine Freunde indessen waren nicht sie. Freunde sind schwierigere Wesen, der Verkehr mit ihnen ist sowohl gespannter als unsicherer, und er nötigt immer wieder dazu, sich zu verantworten.
„In summa“, sagte Agrippa d’Aubigné, während sie im Haufen ritten: „Du bist weiter nichts, Prinz, als was das gute Volk aus dir gemacht hat. Deswegen kannst du dennoch höher sein, denn das Geschaffene ist manchmal höher als der Künstler, weh aber dir, wenn du ein Tyrann würdest! Gegen einen offenkundigen Tyrannen haben sogar die unteren Beamten alles Recht von Gott.“
„Agrippa“, erwiderte Henri, „wenn du recht hast, bewerbe ich mich um eine untere Beamtenstelle. Nun sind dies aber Spitzfindigkeiten von Pastoren, und ein König bleibt ein König.“
„Sei froh, daß du nur der Prinz von Navarra bist!“
D’Aubigné war klein, er ragte nicht einmal so hoch über den Kopf des Pferdes wie Henri. Beim Reden gebrauchte er eifrig die Hand, die lange Finger und einen gekrümmten Daumen hatte. Sein Mund war groß und spöttisch, die Augen neugierig: ein weltliches Geschöpf, aber schon mit dreizehn Jahren hatte er standgehalten, als sie ihm seinen protestantischen Glauben nehmen wollten, mit fünfzehn gekämpft für die Religion unter Condé. Henri achtzehn, Agrippa zwanzig, und längst waren dies alte Kameraden, hatten sich hundertmal gestritten, sich hundertmal versöhnt.
Das war rechts von Henri. Links aber erhob sich eine klare und strenge Stimme:
„Ihr Könige, Knechte eures Wahnes,
Habt Felder oft mit Mord bedeckt,
Damit die Grenze eures Planes
Sich um ein Haarbreit weiter streckt.
Ihr Richter, die auf heiligen Plätzen
Das öffentliche Wohl verkauft,
Soll euer Sohn ein Erbe schätzen,
Um das ihr euch wie Diebe rauft?“
„Freund Du Bartas“, sagte Henri, „wie kommt es nur, daß ein Hahn deiner Güte so bittere Worte findet. Die Mädchen werden dir davonlaufen!“
„Ich spreche sie auch nicht zu ihnen. Zu dir, lieber Prinz, spreche ich sie.“
„Und zu den Richtern. Du Bartas, vergiß die Richter nicht! Sonst bleiben dir nur noch deine bösen Könige.“
„Böse aus Blindheit seid ihr und sind wir Menschen alle. Man muß anfangen, sich zu bessern. Noch nicht die Mädchen, das kann ich noch nicht, aber die galanten Verse will ich mir völlig abgewöhnen. Ich mache in Zukunft nur geistliche.“
„Willst du denn schon sterben?“ fragte der junge Henri.
„Ich will einst fallen in einer Schlacht für dich, Navarra, und für das Reich Gottes.“
Henri schwieg infolge dieser Worte. Ihretwegen behielt er auch das Gedicht im Kopf: „Ihr Könige, Knechte eures Wahnes“, und in aller Stille beschloß er, niemals sollten Menschen tot auf Fluren liegen und ihm sein vergrößertes Gebiet bezahlen.
„Du Bartas“, verlangte er plötzlich, „richte dich so hoch auf, wie du kannst!“ Das tat der lange Edelmann, und sein Prinz blickte zu ihm hinan, ironisch, aber auch bewundernd.
„Siehst du von dort oben schon die liebe Madame Catherine mit ihrem großen Freudenhaus? Ihre schönen Ehrenfräulein erwarten euch.“
„Dich nicht?“ fragte Agrippa d’Aubigné und blinzelte anzüglich. „Ach nein, du bist ein ehrsamer Bräutigam. Aber wie man dich kennt —“ Hier lachten alle. Henri am meisten.
Von hinten rief einer: „Vorsicht, ihr Herren! Die Liebe am Hofe von Frankreich hat schon manchem etwas eingetragen, daß er’s bis an sein selig Ende spürte.“
Das erzeugte noch mehr Gelächter. Jemand aber drängte sein Pferd zwischen die anderen und das Tier des Prinzen. Er beachtete es nicht, daß sie aufbegehrten, sofort bereit, Streit anzufangen. Dieser zeigte von allen das bewegteste Gesicht, das aber klein erschien, die hohe Stirn drückte es zusammen. Die Augen hatten viel gelesen, sie waren schon traurig im vierundzwanzigsten Lebensjahr des Herrn Philipp Du Plessis-Mornay, und vierundsiebzig sollte er leben.
„Soeben habe ich Befehl von Gott erhalten!“ kündigte er dem Prinzen an. „Eine Rede von mir wird Karl den Neunten bewegen, die Glaubensfreiheit zu errichten und die Sache der Niederlande gegen Spanien zu führen.“
„Gib deine Rede dem Herrn Adm|ral!“ riet Henri ihm. „Er wird sich Gehör verschaffen. Uns fürchten sie noch nicht. Aber ich hoffe, wir bringen es bald dahin.“
Dies konnten sie vertraulich verhandeln, weil ihre ganze Umgebung vollauf beschäftigt war mit der Herzählung der Genüsse, die bei Hof auf sie warteten. Auch die Gefahren wurden laut ausgesprochen und Beispiele angeführt. Der Name der gefürchteten Krankheit fiel: da kam in Philipp Mornay ein jäher Aufruhr alles Wesens; er stieß hervor:
„Mag ich sie bekommen! Karl der Neunte aber soll Glaubensfreiheit geben!“
„Scheußlich wirst du aussehen!“
„Wir sind zuweilen scheußlich: was tut es angesichts der Ewigkeit. Ist nicht auch Jesus es, ein scheußlicher Mensch, gekreuzigter Gott, und an ihn glauben wir! Glauben an seine Jünger, den Auswurf der Menschheit, sogar der Juden! Was hat er denn hinterlassen als ein elendes Weib, verächtliches Andenken, und hieß ein Narr in seinem Stamm. Wenn die Kaiser gegen seine Lehre gekämpft haben mit dem Schwert und dem Gesetz, wie dann erst jedermann im eigenen Innern gegen sich selbst! Das Fleisch gegen den Geist! Dennoch haben die Völker sich unterworfen dem Wort weniger Männer, und die Reiche beten an: einen gekreuzigten Jesus. Jesus!“ rief Mornay mit einer Macht, daß alle aufhorchten und sich umsahen, auf welcher Seite der Gerufene sichtbar würde. Denn keiner von ihnen zweifelte, daß er erscheinen und sich zu ihnen gesellen könnte, wann immer seine Stunde schlug.
Für sie alle waren seine Wunden frisch und bluteten noch, die Tränen der Marien rannen unversiegt. Golgatha – sie erblickten es von hier mit ihren leiblichen Augen, ein kahler, bleicher Hügel, dahinter schwärzliches Gewölk. Sie bewegten sieh dahin zwischen seinen eigenen Öl- und Feigenbäumen, hatten übrigens mit auf der Hochzeit von Kana gesessen. Seine Geschichte floß zusammen mit ihrer Gegenwart, sie zuerst erlebten ihn wie sich selbst. Er war einer von ihnen, nur daß er sie übertraf an Heiligkeit und auch, wie Du Plessis-Mornay auszusprechen gewagt hatte, an Abscheulichkeit. Angenommen, der Menschensohn bog aus dem nächsten Prospekt von Felsen, um sich an ihre Spitze zu setzen, dann war sein Reittier natürlich kein lächerlicher Esel, sondern ein kriegstüchtiges Pferd, er selbst trug Koller und Harnisch, und sie hätten ihn umringt und ihm zugerufen: Sire! Das vorige Mal sind Sie Ihren Feinden unterlegen und mußten sich kreuzigen lassen. Diesmal, mit uns, werden Sie siegen. Schlagt sie tot! Schlagt sie tot!
So hätten die Gewöhnlichen und Einfachen unter diesen Hugenotten gerufen beim körperlichen Auftreten Jesu. An die Stelle der ehemaligen Juden oder Kriegsknechte hätten sie ihre zeitgenössischen Papisten gesetzt und vor allem daran gedacht, sich auf deren Kosten zu bereichern. So leicht indessen war es dem Prinzen Henri nicht gemacht, und auch seinen nächsten Freunden nicht. Diese wurden bedrängt von Zweifeln für den Fall des Erscheinens des Herrn. Du Bartas fragte die andern, ob man Jesus, wenn er wiederkehrte und seine Geschichte von vorn begänne, eigentlich raten dürfte, sich der Kreuzigung zu entziehen, da sie ihm doch bestimmt und das Heil der Welt wäre. Er krümmte seine lange Gestalt, denn von niemand bekam er Antwort. Du Plessis malte noch greller als zuvor aus, was er die Scheußlichkeit des Gekreuzigten nannte, und eben darin beständen seine Macht und sein Ruhm. Du Plessis-Mornay war ein Geist, der zum Äußersten neigte, trotz seinem sokratischen Antlitz, und sich dabei so wohl befand, daß er es bis zu vierundsiebzig Jahren brachte. Den armen Du Bartas kränkten die Blindheit und Schlechtigkeit der Menschen, sowie die Unmöglichkeit, etwas zu bessern, etwas auch nur zu wissen; und so sollte er früh dahingehen, wenn auch im Lärm einer Schlacht. Was Agrippa d’Aubigné betraf, hatte sich seiner eine überstürzte innere Tätigkeit bemächtigt, und dies in dem Augenblick, als Du Plessis so stark nach Jesus gerufen hatte. Seit der Minute dichtete Agrippa und war auch schon so gut wie fertig und bereit, Jesus, sobald er sichtbar wurde, in Versen zu begrüßen. Alles, was Agrippa verfertigte, war geboren aus der Stunde und aus der Leidenschaft. Es machte ihn von Grund auf glücklich, und dadurch gefiel er seinem Prinzen. Andererseits wurde Henri angezogen von Du Bartas und seinem treubekümmerten Sinn. Du Plessis mit seiner Neigung zum Äußersten riß ihn hin.
Bei sich selbst wußte Henri am genauesten von allen, daß an die wirkliche Gesellschaft des Herrn Jesu für ihn und die Seinen kaum zu denken war. Sie hatten nach seiner Meinung nicht mehr Aussicht auf eine solche Auszeichnung, als wenn sie katholisch gewesen wären. Ihm war nicht bewiesen, daß der Herr sie bevorzugte, obwohl sie ihn wahrscheinlich mehr liebten. Unabhängig von dieser Geistesart, die nur seine eigene war, beteiligte er sich an allen Gefühlen des berittenen Haufens. Seit der geschehenen Anrufung Jesu hatte Henri die Augen voll Tränen. Indessen war es nicht sicher, daß sie wirklich dem Herrn galten. Während sie die Brust hinanstiegen: wohl noch. Als sie in die Lider traten: nicht mehr. Da war das Bild Jesu verdrängt durch den Anblick der Königin Jeanne, und Henri weinte, weil seine Mutter seinem inneren Auge blaß erschien wie noch niemals. Seit langer Zeit war sie mit ihren Pastoren, die predigten, durch das Land gereist, ohne zu haben, wohin sie ihr Haupt legte, wie Jesus, war gehaßt und verachtet worden gleich ihm, hatte auf sich genommen Kampf, Wechsel des Kriegsglücks, Unruhe und Flucht: sie, eine Frau, seine liebe Mutter. Schwerer Weg, den sie für die Religion ging! Vielleicht hatte er sie jetzt auf Golgatha geführt. Denn alles in allem, sie befand sich in den Händen Katharinas, da der Herr Admiral das protestantische Heer nach Hause geschickt hatte und der alten Königin nur noch drohte. Solange, bis der nächste Feldzug sie nochmals in Gefahr brachte, befahl Katharina. Sogar die Reise zu seiner Hochzeit machte Henri im Grunde auf ihren Befehl: er täuschte sich darüber nicht. Dieser junge Mann hielt gewöhnlich an den Tatsachen fest, ihn lenkte weder der Glaube ab, wie Coligny, noch der hohe Eigensinn, wie seine Mutter, Jeanne.
Ihr neues Gesicht
Unter seinem Wams trug er die Briefe und wünschte sehr, sie alle wieder zu lesen, samt denen seiner kleinen Schwester. Aber er lebte völlig in diesem berittenen Haufen, unter der Sonne vergingen ihm die Tage, die Nächte unter den Sternen, und er war nie allein. Wochenlang ritten sie, die Landschaft war inzwischen nördlich verändert, daraus machte Henri sich jetzt nichts mehr. Unter den Hufen seines Pferdes bewegte sich sein Leben lang das ganze Königreich, denn es lag nicht still, während er ritt: es lebte, lief, nahm ihn mit. Er hatte das Gefühl einer Bewegung ohne Anfang und Ende, und nicht immer hielt er sie nur für seine eigene: das war der Ablauf des Königreichs, in dessen noch dunkle Geschicke er selbst eingehen sollte. So lagerte auch fernhin auf dem Wege die Nacht unter den Baumkronen und erwartete ihn.
„Agrippa, was erwartet uns eigentlich am Hof von Frankreich?“
„Eigentlich?“ wiederholte d’Aubigné. „Nebenbei deine Hochzeit, die gewiß ein schönes Fest sein wird. Eigentlich aber, wenn du es denn wissen willst: alle Nöte der Heiligen.“
„Sagst du: alle, weil du nicht sagen könntest, welche?“
„So ist es, Henri. Auch du fühlst etwas, da in dieser Stunde um unsere Köpfe die Fledermäuse und die Leuchtkäfer fliegen. Bei Tageslicht ist es fort.“
Sie flüsterten dies, es war für sonst niemand bestimmt.
„Wir werden heute nacht in einem Dorf schlafen?“
„Chaunay, mein Prinz.“
„Chaunay in Poitou. Gut. Dort werde ich mich entscheiden.“
„Worüber?“
„Ob ich Weiterreise. Ich muß mich in der Stille mit mir beraten und muß ungestört die Briefe meiner Mutter, der Königin, nochmals lesen. Sorge dafür, daß ich endlich ein Zimmer für mich allein habe, Agrippa!“
Als sie aber dann vor dem Wirtshaus zu Chaunay an langen Tischen zwei Stunden lang getafelt hatten, stand dem Prinzen von Navarra der Sinn nicht mehr nach Einsamkeit, vielmehr hatte er einem Mädchen mit ganz und gar verlockenden Gliedern ein Zeichen gegeben, ihm voran die Treppe hinaufzugehen, oder vielmehr war es eine Leiter. Auf dieser Leiter nun hörte er im Näherkommen ein großes Geschrei, verursacht wurde es hauptsächlich von der Baßstimme eines gedrungenen Weibes: es zerrte eine andere, die in hohen Tönen jammerte, aus der Kammer und herab. Jemand stand unten und leuchtete ihnen mit einem Kerzenstumpf, das war Agrippa d’Aubigné. Die Lage zeigte, daß er die Mutter des Mädchens gerufen und seinen Freund Henri verraten hatte; aber anstatt sich zu schämen, lachte er sogar. Henri zog sofort vom Leder. „Du auch!“ verlangte er voll Wut.
Was tut der Dichter Agrippa? Er reißt aus der Leiter eine Sprosse, als sollte sie seine Waffe sein. Davon schwankt die Leiter mit den beiden Frauen, diese springen aufheulend in die Tiefe und fallen auf die beiden Männer, die den Boden decken. Hier verschwinden alle anderen Sorgen hinter der einen, aus dem Gewühl hervorzukommen. Dies erreicht, findet Henri sich verlassen in der tiefsten Dunkelheit. Was ist aus den andern geworden, wohin ist sogar die Leiter geraten? Er mußte noch froh sein, sich nach dem Ausgang zu tasten. In einem Gebüsch, durch das die Sterne blitzten, schlief er ein.
Er erwachte, es war die Frühe eines Junitages, des dreizehnten, den er nie vergessen sollte. Grade schwang sich singend eine Lerche vom Feld in das noch blasse Himmelsblau. Zu seinen Häupten duftete Flieder, unfern murmelte ein Bach, und eine Reihe zitternder Pappeln verschleierte ihm das Dorf. Die Frische des beginnenden Morgens stimmte ihn sorglos, er ging mit schnellen, leichten Schritten die Pappeln entlang, zwei-, dreimal, nur um zu atmen und sich zu freuen. Dann erinnerte er sich allerdings der Briefe, die er hatte lesen und überdenken wollen. Er blieb stehen, zog sie hervor und ließ sie durch die Finger gleiten wie ein Spiel Karten. Wozu lesen? Alles kam darauf hinaus, daß er die dicke. Margot heiraten sollte, „Madame“, wie seine kleine Schwester sie betitelte. Darüber waren die beiden Damen Katharina und Jeahne einmal gleicher Meinung, und alles übrige mußte sich finden: ob der Herr Admiral mit der alten Giftmischerin fertig wird, ob meine Eheliebste eine Papistin bleibt und in die Hölle kommt. ,Höchst zweifelhaft‘, dachte er. ,Ich selbst war mehrmals katholisch und schon reif für das Höllenfeuer. Es kann vorkommen, man weiß nie. Soviel ist gewiß: niemals würde meine strenge, hugenottische Mutter sich einen so angenehmen Hof halten, wo die Frauen die Männer auffordern. Das schreibt sie, den Satz weiß ich auswendig.‘
Da grade geschah es: da sah er sie vor sich – ganz anders als sonst das innere Auge sieht, unvergleichlich genauer erblickte er das Gesicht der Königin Jeanne in einem Raum, der aber nicht die grauende Luft war. Viel heller, furchtbar grell entstand in seinem Innern ein Licht, bei dem er seine Mutter als eine schon Verewigte erkannte. Das waren nicht mehr die zuletzt im Leben festgehaltenen Züge, als der große lederne Wagen davonfuhr und der Sohn zurückblieb neben seinem Reitpferd. Verfallene Wangen – und Schatten, herzzerreißend wie die Sehnsucht nach allem Verlorenen, umwoben sie, durchsichtig, als bedeckten sie ein Nichts. O große Augen, nicht mehr stolz, reizbar oder liebend, was ihr alles einst gewesen! – Ihr kennt mich wohl gar nicht mehr? – obwohl ihr zu vieles wißt, was wir hier noch nicht wissen!
Der Sohn ließ sich auf einen Grashügel fallen, erst soeben leichtherzig, auf einmal zu Tode erschreckt: nicht nur durch dies neue Gesicht der Mutter, am meisten davon, daß es ihm auch im Traum schon erschienen war, wie er sich jetzt besann. Vier Nächte mußte es her sein; er zählte, sann angstvoll, saß auf dem Hügel und mischte die Briefe. Als er aber zufällig näher hinsah, bemerkte er, daß zwei von ihnen heimlich geöffnet worden waren, bevor er selbst das Siegel zerrissen hatte. Vier Nächte her? Der Schnitt um das Siegel war eine feine Arbeit, und nachher das daraufgetropfte Wachs, das den Schaden ausbesserte. – Warum vor vier Nächten – und wieder eben jetzt?
Der letzte Satz im letzten Brief seiner Mutter hieß: „Jetzt, mein Sohn, mach Dich auf und reise!“ Er sah: Die Königin Jeanne wollte Madame Catherine aus der Macht verdrängen, diese aber hatte ihren Brief gelesen. ,Meine liebe Mutter ist in Lebensgefahr!‘ begriff er, war schon auf den Füßen, sprang durch die Pappeln. „D’Armagnac!“ rief er. Denn er entdeckte seinen Diener früher als dieser ihn. „D’Armagnac, sofort in den Sattel! Ich habe keine Zeit zu verlieren.“
„Aber mein Herr!“ erlaubte sich der Diener zu erwidern. „Niemand ist bisher aus dem Heu, und das Brot wird erst gebacken.“
Greifbare Tatsachen hatten die Gabe, Henri alsbald zu beruhigen. Er gab zu: „Wir brauchen ohnehin bis Paris noch fünf Tage. Ich will im Bach baden. D’Armagnac, bring mir ein frisches Hemd!“
„Grade heute wollte ich sie waschen. Hier, dachte ich, würden wir rasten.“ Der Edelmann als Diener blinzelte seinem Herrn zu. „Besonders wegen der umgefallenen Leiter. Wir sollten sie wieder aufrichten und das Versäumte nachholen.“
„Schurke!“ rief Henri ehrlich entrüstet. „Ich wälz mich gerad genug im Stroh.“ Schroff befahl er: „Der ganze Troß soll gesattelt haben, wenn ich vom Baden komme.“ Damit lief er und riß schon die Kleider ab. Sie brachen nachher auch auf; aber kaum eine Viertelstunde, da sprengte ihnen ein Bote entgegen, warf sich vom Pferd, schwankte so sehr, daß jemand ihm den Rücken stützte, und brachte röchelnd hervor: „Von Paris – vier Tage geritten anstatt fünf.“ Sein Gesicht war weiß und rot gesprenkelt, er ließ die Zunge hängen, und ein noch sonderbareres Zeichen, aus seinen offenen und verstörten Augen fielen große Tropfen. Hörbar schlugen sie auf sein Koller, so still war es um den Boten geworden.
Henri streckte vom Pferd herunter die Hand aus, er nahm den hingehaltenen Brief, dachte aber nicht daran, ihn zu öffnen, vielmehr ließ er den Arm sinken, auch den Kopf neigte er und sprach in der großen Stille des weiten Landes und des darin verlorenen Häufleins Menschen, sprach leise: „Meine liebe Mutter ist tot. Vier Tage.“ Das war nur für ihn selbst, wie die andern wohl fühlten. Sie wollten es nicht gehört haben, bis er es ihnen laut sagte: dieses Zartsinnes erinnerten sich auch die Rohen. Als der neue König von Navarra die Botschaft dann gelesen hatte, nahm er den Hut ab; sofort taten es alle; und er sagte ihnen: „Die Königin, meine Mutter, ist gestorben.“
Einige sahen einander an, mehr wagten sie noch nicht. Das Ereignis erschien ihnen nicht wie andere, die man hinnimmt; es veränderte Unabsehbares und machte aus ihnen selbst, sie wußten noch nicht, was. Jeanne d’Albret war zu viel gewesen, als daß sie hätte sterben dürfen. Sie hatte sie geführt und erhalten, sie hatte ihnen zu dem Brot verholfen, das auf den Äckern wächst, und zum Brot des ewigen Lehens. Unsere Freiheiten, Jeanne d’Albret hat sie für uns durchgesetzt! Unsere festen Plätze, La Rochelle am Meer, sie hat es uns errungen! Unsere Bethäuser am Rande der Städte, sie hat sie ertrotzt! Der Friede unserer Provinzen, unsere Frauen im Schutze Gottes das Feld bestellend, während wir reiten und uns schlagen für die Religion: das alles war Jeanne d’Albret, und was wird daraus jetzt!
Hier gingen ihre Gedanken in Entsetzen über, verwandelten sich in Empörung und griffen stürmisch nach dem Verdacht einer Schuld und eines Verbrechens. Denn ein so großes Unglück kann nicht von selbst eintreten. Diese Tote war den Mächtigen im Wege gewesen, kein Zweifel, wem. Der verlorene Haufe verstand sich wortlos, nur durch Gedanken und Gefühl. Die ungefügen Laute, die er ausstieß wie ein Träumender, wurden erst langsam stärker, sie mußten anschwellen zum Grollen und Drohen: da fuhr endlich das bewußte Wort aus der Scheide – als ob jemand es gemeldet hätte, ein zweiter Bote, unsichtbar dieser: „Die Königin ist vergiftet!“
Alle durcheinander wiederholten es, jeder einzeln sprach es dem unsichtbaren Boten nach: „Vergiftet! Die Königin ist vergiftet!“ Der Sohn der Toten tat mit, wie sie; ihm war es gemeldet, wie allen.
Plötzlich geschah etwas Neues: sie reichten einander die Hände. Das war, ohne Verabredung, ein Schwur, Jeanne d’Albret zu rächen. Ihr Sohn ergriff die Hand seiner Freunde, Du Bartas, Mornay und d’Aubigné. Mit Agrippa verständigte er sich durch einen besonderen Druck der Finger, der hieß: gestern die umgestürzte Leiter, das Gewühl unter den Weibern, heute aber dies. Was gäbe es zwischen uns zu verübeln, zu bereuen. Das ist das Leben, und wir verbringen es Hand in Hand! Auch seinen Diener d’Armagnac, den er vorhin hart angefahren hatte, faßte Henri bei der Hand. Indes erhob sich eine Stimme:
„O Gott, so zeige Dich doch nur!“
So sang, zuerst ganz allein, Philipp Du Plessis-Mornay, denn er war vor ihnen am ehesten zum Äußersten geneigt: in ihm wohnte die unruhigste Tugend. Da er aber die erste Zeile wiederholte, schlossen mehrere andere Stimmen sich an, und bei der zweiten waren es alle. Sie waren von ihren Tieren abgesessen, hatten die Hände zusammengelegt und sangen, ein Haufe, den niemand ansah als vielleicht Gott, zu ihm hinauf: sangen, als ob sie Sturm läuteten, hinauf!
„O Gott, so zeige Dich doch nur,
Und plötzlich wird sich keine Spur
Vom Feind mehr blicken lassen.
Wenn er denn ab sein Lager bricht,
Vergehn vor deinem Angesicht
Sie alle, die uns hassen.“