Kitabı oku: «Der Parzival Wolframs von Eschenbach», sayfa 10

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Der Ritt zur Gralsburg

Schon die Motivation für den Ritt zur Gralsburg ist unklar. Parzival hat sich von Kondwiramurs die Freiheit erbeten fortzureiten, um seine Mutter aufzusuchen, «‹und ouch durch âventiure zil›» – was ihm auch liebevoll gewährt wird. Dann heißt es aber, dass er gar kein Ziel hat und keineswegs die Heimat seiner Kindheit ansteuert: «Das Pferd hatte die Herrschaft (gewalt) über den Zaum … und niemandes Hand lenkte es (wandez wîste niemens hant)» – zumindest niemandes irdische Hand. Dass das Pferd hingegen von geistiger Hand nach Munsalvaesche, zum «Berg des Heils», gelenkt wird und dass dabei die Mutter, die Schwester des Gralskönigs, mit anwesend ist, lässt sich immerhin vermuten. Keine gewöhnlichen Absichten und Zwecke sind hier bestimmend: Die Strecke, die an diesem Tag zurückgelegt wird, ist nicht mit irdischen Maßstäben zu messen. Ein Vogel hätte Mühe, heißt es, sie in dieser Zeit zu «erfliegen».

So kommt er am Abend an einen See, auf dem Fischer vor Anker liegen. Mitten unter ihnen ist einer, der trägt ein Gewand, «als ob ihm alle Länder dienten (ob im dienden elliu lant)» – besser kann man nicht gekleidet sein. Sein Hut ist aus Pfauenfedern gearbeitet. Diesen feinen Herrn der Fischer nun fragt Parzival nach einer Herberge – nicht ahnend, dass die Dinge, von innen betrachtet, ganz anders aussehen: Weder ist der Herr zum Fischen auf dem See, sondern um seine Schmerzen zu lindern, noch ist er ein Fremder. Nicht die prächtige Erscheinung des Fischerkönigs ist das Wesentliche, sondern das Geheimnis, das er in sich birgt. Er ist deshalb ein «trauriger Mann», aber Parzivals Frage zielt allein darauf ab, für sich selbst einen ruhigen Ort zum Schlafen zu finden.

Dorthin, in die verborgene Region des nächtlichen Schlafes, wird er deshalb auch verwiesen. Hier ist zunächst weit und breit völlige Einsamkeit – «‹Wasser und Land sind im Umkreis von dreißig Meilen unbebaut›», erläutert der Fischer – und man kann sich leicht verirren, denn es gibt unerkundete Wege. Eine einzige Burg kann man hier finden: vor deren Graben muss man dann still innehalten («‹ich wæn dâ müezt ir stille haben›») und bitten, dass eine Brücke zum Einlass gewährt wird. «‹Kommt Ihr auf rechte Weise dorthin (komt ir rehte dar), werde ich mich selbst heute Nacht Eurer annehmen›», verspricht der Fischer noch, als Parzival fortreitet. Wie er so schnell an Parzival vorbei zu solchem Empfang kommen wird, gehört zu den vielen Rätseln dieser Ankunft.

Auch die weitere Beschreibung der Burg lässt keinen Zweifel daran, dass sie nicht auf dem platten Erdboden erbaut ist und man auf gewöhnlichen Wegen nicht zu ihr gelangen, geschweige denn sie betreten kann. Zu Recht kann man sie eine «Festung» nennen: Im «Sturm» kann man ihr nicht beikommen, es sei denn, man käme geflogen oder der «Wind» trüge einen hinein. Sie ist ausgerüstet mit einer wundersamen Abwehrkraft («mit wunderlîcher wer»): Auch wenn alle Heere der Welt gegen sie herzögen, die da drinnen würden auch in dreißig Jahren nicht ein Brot bieten, um sie loszuwerden.

Wieder ist es der Vergleich mit dem Fliegen, der auf ein übernatürliches Geschehen verweist, und zudem deutet die Unterscheidung von Wind und Sturm darauf hin, dass hier «der Geist weht» und eine besondere Feinfühligkeit und Aufmerksamkeit nötig ist, will man in das Innere gelangen. Innehalten und Bitten werden erwartet. Dagegen wirkt Parzivals Auftritt von Anfang an recht forsch, fast keck, als er – mit Berufung auf die Einladung des Fischers – den Einlass mehr fordert als erbittet. Dennoch findet er offene Türen, ganz ohne sein Zutun, obwohl ihm offenbar das rechte Bewusstsein mangelt. Jung und Alt strömen herbei, vergessen ihre Trauer und freuen sich, als habe man ihn erwartet («die trûregen wâren mit im vrô»). Man sagt, er sei vom Glück reich gesegnet («er wære sælden rîch»), und begegnet ihm mit allen nur erdenklichen Ehrerbietungen – sogar den Mantel der Königin Repanse de Schoye überreicht man ihm, weil man ihm den Edelmann ansieht («‹ir sît ein werder man›»). Parzival dankt es mit höflichen Floskeln, die er von Gurnemanz gelernt hat.

In dem nächtlichen Innenraum, den Parzival unversehens betreten hat, offenbart sich ihm eine lebendige und vielfältige Bilderwelt, aber wir haben von Anfang an den Eindruck, das alles widerfährt ihm ungewollt, wird ihm ohne sein Zutun entgegengebracht – und er ist deshalb nicht ganz wach, fast wie im Traum. Er hat überhaupt kein Verständnis für die gegebene Situation, ist aber auch nicht ganz Herr über sich selbst. Sein Mangel an Geistesgegenwart wird augenfällig, als sich ihm ein Spaßmacher, wohl eine Art Hofnarr, mit vorlautem Mundwerk nähert – Parzival hätte ihn erschlagen, wenn man ihm nicht zuvor sein Schwert genommen hätte. So staut sich sein ganzer hilfloser Argwohn im Ballen der Faust, bis das Blut unter den Nägeln hervorquillt (zer fiuste twanger sus die hant daz dez pluot ûzen nagelen schôz). Die unbändige Kraft, mit der er bisher Ithers Schwert geführt hat, kann ihm hier aber nicht weiterhelfen. Seine Gastgeber beschwichtigen ihn mit dem Verweis auf den Hausherrn: «‹Ihr seid ihm ein hochwillkommener Gast, nun schüttelt den Zorn ab, der auf Euch lastet (schütet ab iu zornes last).›» Die Ermahnung kann man auf den momentanen Unmut beziehen, treffender aber charakterisiert sie die geistige Haltung und den Gemütszustand des Gastes überhaupt. Er verfügt zwar seit seiner Begegnung mit Gurnemanz über ritterliche Bildung, aber er ist gewohnt zu bekämpfen, was sich ihm in den Weg stellt, und Probleme mit Gewalt zu lösen. Wir können dies schon als einen ersten Hinweis auf das Bild der blutenden Lanze im Innern der Burg verstehen, die gleich zu Anfang des Geschehens im Palas vorgeführt wird.

Lanze und Schwert

Als Parzival den Rittersaal betritt, wird er vom Gastgeber sofort freundlich und zuvorkommend eingeladen, sich zu ihm zu setzen – eine besondere Ehre, die Parzival ebenso rätselhaft erscheinen müsste wie die warme Pelzkleidung, die der König trotz der großen Feuerstellen anhat, auf dem Haupte einen Zobelpelz mit einem durchscheinenden Rubin. Noch ehe Parzival sich diese Merkwürdigkeiten bewusst macht, geschieht noch Rätselhafteres: Ein Knappe trägt eine Lanze zur Tür herein, die er unter großem Wehklagen der Ritter an den vier Wänden entlangführt. Aus der Schneide quillt Blut und läuft den Schaft hinab («an der snîden huop sich pluot») – sie ist also nicht nur blutig, sondern Blut steigt aus ihr hervor. Man braucht nicht anzunehmen, dass Wolfram an solch bedeutsamer Stelle eine bloß verspielte Metapher gebraucht, wenn man sich etwas in das Bild und die Symbolik der Lanze vertieft.

Versuchen wir uns eine ritterliche Tjoste bildhaft zu vergegenwärtigen: ein Mensch, hoch zu Pferd, durch eine eiserne Rüstung von jeder Empfänglichkeit gegenüber der Außenwelt abgeschirmt, all seine Willenskraft in die Spitze der Lanze zusammengezogen, nach vorn gebeugt und im wilden Ansturm, verstärkt noch durch die instinktiven Kräfte des Pferdes – eine furchtbare Gewalt, die auf das Gegenüber trifft, sich rücksichtslos durchsetzt! – Bemühen wir uns nun, dieses Bild zu «lesen», werden wir bemerken, dass der beschriebene Vorgang Entsprechungen auf mehreren seelisch-geistigen Ebenen hat. Er kann uns zunächst ein Bild für den menschlichen Willen sein, der sich erobernd auf die Welt richtet. Dieser Wille ist korrupt. Er wird zwar vom Bewusstsein gelenkt, aber er quillt aus jenen instinktiven Triebkräften, die im Blut kochen. Wir werden später erfahren, dass Anfortas die Verwundung mit einer Lanze an den Geschlechtsteilen zugefügt wurde, als er von seinem Triebleben auf Abwege geführt wurde.

Dem Bild entspricht aber auch die menschliche Bewusstseinsverfassung selbst, die Konfiguration seiner willensgerichteten Aufmerksamkeit. Auch der Blick ist «triebgesteuert», will sich die Welt untertan machen, er schafft gewissermaßen die welt-anschauliche Voraussetzung für die Machtergreifung des Ego. Sein aus der Instinktsphäre hervorquellendes Erkenntnisinteresse zielt auf die Welt mit ungeläuterten, selbstbezogenen Fragen, die nicht in dem tieferen geistigen Kern seiner Individualität urständen. Im Fokus dieses menschlichen Blicks wird alles fixiert, aufgespießt, die Sinneswelt erstirbt zum verfügbaren Gegenstand und wird geistig undurchsichtig wie eine Wand.

Damit innerlich verwandt ist schließlich noch eine weitere Verständnisebene, die das Mysterium von Golgatha betrifft. Sie soll hier zunächst nur angedeutet werden. Sehen wir die erscheinende Welt als den Leib des Logos an, so werden wir zur Longinus-Legende geführt. Jener Soldat am Kreuz, der nach der Legende den Leib Christi mit der Lanze öffnet, ist zunächst blind. Er hat keinen Blick für das Wesen des Leibes, auf den sich seine Tat richtet. Aber er wird durch ebendiese Tat sehend. Damit werden wir auf die Möglichkeit gewiesen, dass aus den Willenskräften auch die Fähigkeit erstehen kann, das Wesen der Welt zu erschauen. In der Offenbarung des Johannes heißt es: «Alle Augen sollen ihn schauen, auch die Augen derer, die ihn durchstochen haben.»9

Erscheint die Lanze am Anfang der geheimnisvollen Zeremonie, so das andere Symbol ritterlicher Tatkraft, das Schwert, an ihrem Ende. Parzival wird das Schwert des Königs überreicht, mit einem Griff aus Rubin – wie der Stein auf Anfortas’ Stirn – und der wunderbaren Eigenschaft, die ihm der Wirt andeutet: «‹Swenne ir geprüevet sînen art, ir sît gein strîte dermite bewart.›» Das kann heißen: «Wenn Ihr seine (edle) Art auf die Probe stellt», aber auch: «Wenn Ihr sein Wesen kennengelernt habt» – «dann seid Ihr gegen jeden Kampf gefeit.» An dieser Stelle äußert der Erzähler sein besonderes Bedauern darüber, dass der Gast nicht die Geistesgegenwart hat zu fragen, was es mit diesem Geschenk auf sich hat und wie er zu dieser Ehre kommt. «ôwê daz er niht vrâgte dô!»10

Erst später, draußen, in der Erinnerung an das nächtliche Geschehen, erfährt Parzival von Sigune mehr über das Geheimnis des Gralsschwertes.11 «‹Kennst du des Schwertes Segen, so kannst du ohne Furcht in den Kampf gehen.›» Allerdings übersteht das Schwert nur den ersten Schlag heil, beim zweiten zerspringt es. Es muss dann an der Quelle «Lac» wieder ganz gemacht werden, im fließenden Wasserlauf, an dessen Ursprung unter dem Felsen, ehe er an den Tag kommt: «‹ez wirt ganz von des wazzers trân. du muost des urspringes hân, underm velse, ê in beschin der tac.›»12 Der Besitzer muss zudem die richtigen Segensworte kennen, dann wächst und fruchtet ihm daraus die heilbringende Kraft: «‹hâts aber dîn munt gelernet, sô wechset unde kernet immer sælden kraft bî dir.›» Womöglich hat Parzival aber die Kenntnis der Worte in der Nacht «zurückgelassen», so fürchtet Sigune: «‹ich fürcht diu habestu lâzen dort.›» Ob dies zutrifft, erfahren wir nicht. Jedenfalls wird Parzival später dieses Schwert benutzen, wie uns im 9. Buch berichtet wird, als er sich auf dem Weg nach Fontane la Salvatsche befindet. Dort heißt es, das Schwert sei ihm schon im Kampf zerbrochen, doch habe die Quelle es wieder ganz gemacht («dô machtez ganz des brunnen art»).13 Wolfram verrät uns allerdings nicht, wann und wie Parzival den Gebrauch des Schwertes erlernt hat, sowenig er uns wissen lässt, wann er mit welchem Schwert kämpft – ausgenommen der Kampf mit dem Bruder Feirefiz.14

Die Symbolik des Schwertes ist in den Kulturen der Völker weit verbreitet, besonders im mittelalterlichen Bewusstsein haben seine vielfältigen Sinnbezüge herausragende Bedeutung.15 Im Folgenden sei versucht, die «Bedeutungswelt» der «geistigen Sinnmöglichkeiten» dieses «Dinges» in unserem Kontext ansatzweise zu erschließen, auf verschiedenen Sinnebenen, wenngleich nicht annähernd erschöpfend. Als Ausgangspunkt mag uns der Rubin dienen, jener Edelstein, auf den Wolfram öfters die Aufmerksamkeit lenkt.16 Die innige Beziehung zwischen Kopf und Hand, Denken und Handeln, wie sie hier durch den edlen, durchlichteten Rubin erscheint, verweist uns auf das «Ur-teil» mit seinen verschiedenen Bedeutungsebenen. Dass wir «unter-scheiden» können, insbesondere zwischen gut und böse, richtig und falsch, ist der Ursprung verantwortlicher Lebensführung. Hieraus erst leitet sich das Urteil im juristischen Sinne ab. Der Führung des weltlichen Schwertes liegt die Führung des geistigen Schwertes zugrunde: unsere Urteilskraft, mit deren Hilfe wir auch Wesen und Erscheinung trennen können.

Zur Veranschaulichung diene hier ein einfaches Beispiel. Wenn ich das ganzheitliche Erleben des grünen Baumes zu dem Urteil umbilde: «Der Baum ist grün», so kann ich die Verbindung durch die Kopula «ist» – jene Affirmation, die wir gemeinhin als «Urteil» empfinden – nur vollziehen nach der bewussten Trennung des Wesens «Baum» von seiner Eigenschaft «grün». Physische Grundlage für dieses analytische Element unseres Gedankenwesens ist das Nervensystem mit seinen feinsten Verästelungen. Wir drängen das ganzheitliche Wesen der Wirklichkeit zurück und zerlegen es in wesenlose Einzelheiten. Dieser Vorgang wird durch die Sinnesphysiologie bestätigt. «Untersucht man die physiologische Arbeitsweise eines Sinnessystems, so zeigt sich, dass alles auf eine Zergliederung oder Analyse des am Anfang stehenden Gesamtbildes angelegt ist. Die Teile des Wahrnehmungsobjektes werden buchstäblich zerlegt … Beim Sehsinn z. B. werden Informationen über elementare Bildelemente wie Form, Farbe, Raum, Bewegung usw. zu ganz verschiedenen Rindenzentren transportiert, ohne dass in irgendeinem Bereich des Gehirns wieder eine Synthese dieser Elemente zu einem Gesamtbild, das unserem spontanen Sinneserlebnis vergleichbar wäre, zustande käme … Festzuhalten ist, dass jedes Sinnessystem des menschlichen Körpers auf die Zergliederung, ja Auflösung des wahrgenommenen Objektes angelegt ist, wobei die wahren, in der Welt wirkenden Kräfte herausgenommen werden und nicht zum Bewusstsein kommen … In jedem Sinnesbereich muss nämlich der Mensch … die herausgefilterten Qualitäten aus seinem eigenen Wesen wieder hinzufügen, um damit zu realen Erkenntnissen zu kommen.»17

Wo die analytische Kraft überhandnimmt, zerfällt die Welt in immer kleinere «Atome». Diese Kraft ist aber auch die Grundlage unseres Wachbewusstseins und die Voraussetzung unserer Freiheit, denn ohne die Zerteilung von Wesen und Erscheinung würde uns der Sinneseindruck überwältigen. Wir können in der sinnlichen Wirklichkeit nur dadurch unser Eigensein, unser bewusstes «Ich», bewahren, dass wir sie zu Bildern herablähmen. Das weckt in uns die Frage nach deren Bedeutung, denn das Bild der Wirklichkeit, die uns erscheint, bedarf der Ergänzung durch ihr Wesen. Dieses schöpft das Ich aus einer Quelle, dem Urbeginn unseres Gedankenflusses, bevor er an den Tag, ans Licht des reflektierenden Bewusstseins tritt. Dieser «Ursprungsort» ist ein rein geistiger, das heißt, in ihm lebt der menschliche Geist – das wirkliche Ich – mit dem Wesen der Dinge in geistiger Gemeinschaft. Im denkenden Erkennen ergreift das Ich dieses Wesen intuitiv – im Begriff – und vereint im Bewusstsein, was die Organisation getrennt hat.18

Jene geistige Gemeinschaft erlebt der Mensch im Schlaf, wenn die Seele sich außerhalb der Sinnesorganisation befindet. Jede Nacht, im Schlaf, leben wir in geistiger Einheit mit den «Gegenständen», denen wir am Tag fremd und fragend gegenüberstehen. So können wir tagwach, dem Fischer gleich, etwas aus der Tiefe holen, aber nur in der Tiefe der Nacht könnten wir durchschauen, wie sich dieser Vorgang geistig ausnimmt – wenn wir bei Bewusstsein wären. «Solange man die Seelenerlebnisse nimmt, wie sie sich dem gewöhnlichen Bewusstsein darbieten, so lange kommt man nicht in die Tiefen der Seele. Man bleibt bei dem stehen, was diese Tiefen hervortreiben», schreibt Rudolf Steiner in Die Rätsel der Philosophie.19 Eine bewusst geführte Seelenarbeit hingegen holt vor die Seele «aus deren inneren Tiefen wesenhafte Erlebnisse herauf, welche nicht der Welt des Sinnesseins angehören, doch aber einer Welt, in welcher die Seele ihr Grundwesen hat».20

Wir durchschauen das Urteilen selbst nicht, weil unsere gesamte Aufmerksamkeit auf den Inhalt gerichtet ist, der von der geistigen Intuition erleuchtet ist. Dass wir dennoch so sicher das geistige «Schwert führen», verdanken wir weitestgehend unserer Sprache und ihrer analytischen Grundstruktur. Im Unterschied zu den Sprachen vieler Naturvölker haben nämlich die Sprachen der indoeuropäischen Kulturen eine Grammatik, die unmittelbar zum urteilenden Denken führt, vor allem durch die Teilung in Subjekt und Prädikat. Die Verbindung von Sprache und Denken ist in der Tat so eng, dass manche Sprachtheoretiker dem Denken überhaupt keine eigene Wesenheit zugestehen wollen. Durch Spracherwerb wird aber die «Grammatik» unseres Denkens nur vorbereitet. In Wirklichkeit ist jedes echte Urteil ein intuitives geistiges Erlebnis, keine grammatikalische Sprachgewohnheit. Bei jeder Bemühung um ein richtiges Urteil suchen wir in den Tiefen unseres Geistes nach dem «Wesentlichen», der passenden Intuition, die etwas an die Oberfläche treibt, was im Horizont des Wahrnehmbaren nicht vorhanden ist: den Begriff, die Idee. Zu dieser verborgenen Quelle sind uns die «Segensworte» der Sprache zunächst Begleiter.

Allerdings: Ist diese Erfahrung an einer bestimmte Wahrnehmung einmal gewonnen, lässt sie sich hier nicht wiederholen, denn das fertige Urteil zieht in unseren Gewohnheitsleib ein und wird bei der nächsten passenden Gelegenheit aus der Erinnerung geholt. Der überwältigende Teil unseres gewöhnlichen «Erkenntnislebens» ist von der geistigen Wirklichkeit «abgezogen», abstrakt, weil es nicht aus gegenwärtiger Intuition schöpft, sondern aus Gedankengewohnheiten. Jede Erkenntnis ist nur einmal wirklich, denn die Intuition kann nicht erinnert werden, sondern ist immer Gegenwart. Zum Gewahrwerden der Intuition muss ich wieder die Quelle aufsuchen. Eben das macht das Gralsschwert aus: Es kann nur aus dem Geiste heraus, in Geistes-Gegenwart geführt werden, Wiederholungen sind deshalb im wahren Sinne undenkbar. Weil es immer unmittelbar aus dem Geiste heraus tätig wird, ist es aber auch allen anderen Schwertern überlegen.

Bemerkenswert in der Darstellung Wolframs ist deshalb auch, in welcher seelisch-geistigen Verfassung Parzival das Gralsschwert überreicht bekommt. Es fehlt ihm an besagter Geistesgegenwart. Er ist wie gefangen in seinen Reflexionen, die er aus der anerzogenen Bildung des Gurnemanz lehrbuchartig wiederholt. «‹Gurnemanz hat mir geraten, … ich solle nicht viel fragen. Vielleicht geschieht bei diesem Aufenthalt hier etwas in derselben Art wie dort bei ihm? Dass ich ohne Frage vernehme, was es mit dieser Gesellschaft auf sich hat. (waz op mîn wesen hie geschiht die mâze als dort pî im? âne vrâge ich vernim wiez dirre massenîe stêt.)›» Er erinnert sich und erwartet Wiederholung, statt sich zu vergegenwärtigen, was die Situation erfordert! In dem Moment, als er diesen Gedanken hegt, nähert sich ihm der Knappe und überreicht ihm das Schwert: «in dem gedanke nâher gêt ein knappe, der truog ein swert.» – Von nun an besitzt Parzival zwei Schwerter: ein physisches, das des Roten Ritters, das ihm als Beute seines Raubes zufiel, und ein geistiges, das Gralsschwert, das ihm ebenfalls nur zufiel – als Geschenk des Gralskönigs. Mit jedem der beiden Schwerter aber ist er in tiefe Schuld verstrickt.

Annäherung an latente Fragen

Mit lautem Wehklagen bedauert der Erzähler, dass Parzival nicht fragt: «ôwê daz er niht vrâgte dô!» Wir erinnern uns an jene Frage des Knaben, mit der er die mütterliche Schutzhülle der «Soltane» durchstieß und die ihm das Tor zur Welt öffnete: «ôwê muoter, waz ist got?» Das geschah aus kindlicher Neugier, zwar aus dem Innern heraus, aber unbeabsichtigt, instinktiv. Auch jetzt müsste Parzival, so wird erwartet, aus eigenen Kräften fragen – später erfahren wir, dass niemand auf Munsalvaesche ihm das Fragen nahelegen darf, dann habe es keine Wirkung mehr. Man kann das verstehen, denn dann würde dem Fragen eine Zweckhaftigkeit angetragen, die seine intuitive Ursprünglichkeit korrumpiert. Wie aber soll man diese Ursprünglichkeit verstehen? Wird etwa von Parzival erwartet, dass er ebenso spontan und unüberlegt drauflosfragen solle wie ein kleines Kind?

Das landläufige Verständnis dieses Fragegebots läuft auf die banale Vorstellung hinaus, Parzival habe nur eine Frage, die «Gralsfrage» eben, stellen müssen, damit der Gralskönig auf wundersame Weise erlöst worden sei. Bestärkt wird diese Sichtweise dadurch, dass Parzivals spätere Erlösungstat auch wirklich in einer einzigen Frage konzentriert erscheint. Wir sehen aber, dass es hier nicht nur um eine bestimmte Frage geht, sondern um eine grundsätzliche Fragehaltung. Wir werden uns dem, was hier als «Frage» erwartet wird, daher nur nähern können, wenn wir die «Gralsfrage» ebenso als Bild für eine komplexe seelisch-geistige Gebärde verstehen lernen, wie wir uns den «Gralsspeer» und das «Gralsschwert» erarbeitet haben. Vom Inhalt dieser Frage wird zu gegebener Zeit die Rede sein,21 hier müssen wir uns zunächst mit dem Wesen des Fragens selbst beschäftigen, um die Zusammenhänge zu verstehen.

Was ist eine Frage? Ist es wirklich «eine Äußerung, mit der der Sprecher/Schreiber eine Antwort zwecks Beseitigung einer Wissenslücke herausfordert», wie uns «Wikipedia» erklärt? Wenn ich in einer fremden Stadt nach dem Weg zum Bahnhof frage, mag diese Definition zutreffen: Ich erhalte eine Antwort, mit der ich meine Wissenslücke schließe. Aber wie, wenn ich jemanden anhalte und frage: Was ist ein Bahnhof? Man wird mich für verrückt halten – während die Frage etwa in einem Gespräch mit Kindern durchaus sinnvoll erscheinen kann. Jede Frage ist nur in einem bestimmten Zusammenhang sinnvoll. Ehe ich frage, mache ich mir den Zusammenhang klar, in dem ich die Frage stelle: die äußeren Umstände, die Sprache, das Vorwissen und die gedanklichen Voraussetzungen des Fragenden und Gefragten, damit die Frage sinnvoll erscheint und verstanden werden kann.

Je anspruchsvoller, je tiefer die Frage, umso umfassender die vorausgesetzte Kenntnis der Zusammenhänge. Geistige Fähigkeiten und seelische Reife sind gefordert. Man kann natürlich auch tiefgründige Fragen mit einfachen Worten stellen: Was ist Gott? Dem Kind gestehen wir diese Naivität zu, dass Gott «etwas» sei. Als mündige Menschen sind wir aber so weit urteilsfähig, dass wir eine Frage nach dem Göttlichen in dieser Weise nicht stellen. Wir wissen, dass wir eine solche oder ähnlich anspruchsvolle Frage, wie die nach dem Wesen Gottes, nur im Zusammenhang einer bestimmten Bewegung unseres Geistes sinnvoll stellen können. So ist es auch mit der Frage nach dem Gral.

Erfahrung lehrt uns zudem, dass wir auf gewisse Fragen keine direkte Antwort bekommen, sondern dass wir mit ihnen leben müssen. Oft verändern sie sich dann mit uns. Vorausgesetzt, sie ist uns wirklich eine Herzensangelegenheit, tragen wir eine Frage mit uns, nehmen sie mit in die Nacht, und nach einiger Zeit können wir vielleicht bemerken, dass sie sich wandelt, und in diesem Wandel ertasten wir vielleicht ahnend etwas wie eine «Antwort».22 Manches, was wir vor Jahren gefragt haben, erscheint uns deshalb heute nicht mehr sinnvoll, dafür sind aber andere Gesichtspunkte, ja andere Fragen aufgetaucht, mit denen wir vor Jahren noch überhaupt nicht gerechnet haben.

Man kann sich zum Beispiel eine philosophische Frage stellen, über die schon viel gestritten wurde: Kann der Mensch die Wahrheit erkennen? Zunächst werden wir bemerken, dass die Frage keinen Sinn ergibt, wenn wir als Voraussetzung nicht die Begriffe klären: Was ist Wahrheit? Was ist Erkenntnis? Versucht man mit Verstandesmitteln eine definitive Antwort zu finden, kommt man schon bald an eine Grenze, an der die Antwort zur Frage zurückkehrt und auf den Fragenden zurückweist. Hier kann man resignieren – oder sich entschließen, mit der Frage zu leben. Dann kann vielleicht die Gewissheit reifen, dass die Frage nicht auf eine begriffliche Antwort deutet, sondern auf ein reales geistiges Erleben, dessen Formen nicht mehr in definierbaren Begriffen fassbar sind, sondern nur in Gebilden innerer Anschauung. Der gebildete Verstand, so dämmert es, hat nicht die Aufgabe, derartige Erkenntnisse zu liefern, sondern vornehmlich die Funktion, die Seele in Wahrhaftigkeit, Klarheit und Gewissenhaftigkeit zu üben und sie mit Tugenden auszustatten, die in dem imaginativen Erleben geistige Orientierung sein können. Hierzu fehlt Parzival die nötige Erkenntnisreife. Indem er ganz naiv die allgemeinen Regeln und Anweisungen seines Ritterlehrers auf die konkreten geistigen Erlebnisse anwendet, wird ihm der Sinn für deren Wahrheit und ihre Erkenntnis verstellt.

Im Grundgestus des Fragens vereinen sich zielgerichtete gedankliche Aufmerksamkeit und seelische Offenheit und Bereitschaft zur Aufnahme. Es sind jene Gebärden, die wir schon im Prolog kennengelernt haben und die uns in den Bildern um den Gral überall entgegentreten. Parzival kann sie noch nicht bewusst und aus ureigener Kraft handhaben. Der zwanghafte Rückgriff auf die reflexive und seelisch passive Verstandesbildung, die ihm bei Gurnemanz zuteilwurde, erlaubt ihm nur, in allgemeinen Gesetzen zu denken, wo er die individuelle Intuition auffinden sollte. Diese Fragehaltung reicht nicht aus, geistesgegenwärtig das Geschehen zu durchschauen. Dem Ungenügen steht aber gegenüber, dass er diese Bilder überhaupt wahrnimmt. Das zeigt, dass in den Tiefen seiner Seele latente Fragen leben, die ins Bewusstsein drängen, auch wenn das, was ihm an Urteilsfähigkeit zur Verfügung steht, dem noch nicht angemessen ist. Wie schon damals bei den Ratschlägen der Mutter haben wir es hier, wenngleich auf höherer geistiger Ebene, mit lebendigen Bilde- und Entwicklungskräften zu tun, die ihn seinem Lebensziel näherbringen werden, ungeachtet der äußeren Wirren, die damit verbunden sind. Einmal erfahren, werden sie ihn ein Leben lang begleiten.

Hier können wir uns einmal mehr bewusst machen, welche pädagogische Bedeutung der Beschäftigung mit Wolframs Epos zukommen kann. Die latenten Fragen, die schicksalhaft in jungen Menschen leben, gehen oft weit über das hinaus, was sie mit ihren rationalen Fähigkeiten formulieren könnten. Parzivals Situation in der Gralsburg lädt somit besonders zur Identifikation ein. Solche Bilder können Menschen ein Leben lang begleiten. Sie in angemessener Weise erarbeitet zu haben kann in wesentlichen Lebensfragen Formulierungshilfe geben, vielleicht sogar das geistige Wesen des Fragens und Erkennens überhaupt erschließen. Die gewöhnliche Zeitbildung reicht dazu nicht aus.

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