Kitabı oku: «Der Parzival Wolframs von Eschenbach», sayfa 9
Condwîr âmûrs
Als Parzival von Gurnemanz fortreitet, hat sich in seiner Persönlichkeit eine tiefgreifende Wandlung vollzogen. Er trägt jetzt nicht nur in seinem Benehmen alle Zeichen ritterlicher Gesinnung und Bildung, auch sein Gemüt ist verwandelt. Indem er die «Tumpheit» des kindlichen Bewusstseins abgelegt hat, übernimmt zunächst «Gachmurets Art» in ihm die Herrschaft und lenkt seine Gedanken auf die schöne Liaze, die Tochter des ritterlichen Lehrmeisters. Wie eine innere Nötigung erlebt er diesen Zustand «unsüßer Strenge», und die Welt wird ihm zu eng. Für einen Moment scheint er in die Fußstapfen des Vaters zu treten und Gefangener jener Sinnlichkeit zu werden, die das Feenblut in seinen Adern ihm auferlegt. In diesem bitteren Schmerz lässt er sein Pferd springen und traben, wohin es will. Und wieder trägt es ihn mit übernatürlicher Schnelligkeit zu einem neuen Schicksalsort, zu einer Begegnung, die man nur als Gnadengeschenk einer weisen Lebensführung bezeichnen kann. Dass Parzival nämlich jetzt die Liebe in ihrer ganzen Tiefe und Schönheit erfahren darf, indem er Kondwiramurs, die «Geleiterin der Liebe», kennenlernt, lässt uns die schützende Hand der Mutter erahnen. Die Darstellung dieser Begegnung selbst ist in ihrer Bildsprache von unnachahmlicher Schönheit. Wir ahnen die Bedeutung, die Wolfram dieser Begegnung beigemessen hat – wohlweislich bevor der erste Besuch auf der Gralsburg und die Begegnung mit der Gralsbotin jene existenzielle Erschütterung herbeiführen, die ihn in die Einsamkeit der Gralssuche entlässt.
Dass Parzival gerade nicht den Handlungsmustern des Vaters folgt, macht Wolfram – ähnlich wie an vielen anderen Stellen – durch den Kunstgriff der bildhaften Gegenüberstellung deutlich, indem er durch das grobe Handlungsgerüst eine Vergleichsebene schafft, um aber in den feineren Nuancen und Details der Handlung gerade die Unterschiede umso augenfälliger hervortreten zu lassen. Wie sein Vater kommt Parzival in eine belagerte Stadt, aber nicht mit großem Hofstaat und mit viel Pomp, sondern allein und still – man flieht anfangs vor ihm, weil man glaubt, so aufrecht könne nur ein Ritter mit großem Gefolge daherkommen. Beide Kriegsschauplätze sind Küstenstädte, aber in Patelamunt leiden die «Mohren» keine wirtschaftliche Not. Sie stehen mit beiden Beinen auf der Erde, sind offenbar wohlgenährt und können sich deftigen Braten leisten. Die Bewohner von Pelrapeire hingegen sind völlig ausgehungert – «ihnen tropfte kein Bratensaft in die Kohlen» – und bleich «wie Asche und fahler Lehm». Die Zierlichkeit, ja Schmächtigkeit der Königin selbst wird eigens betont. Sie wird so feingliedrig geschildert, dass sie fast zu entschweben scheint, fast unkörperlich wirkt.
In beiden Städten handelt es sich um einen Krieg wegen verschmähter Liebe, in Patelamunt allerdings liegt die Ursache in einer selbstsüchtigen Verfehlung der Königin, während in Pelrapeire die Unschuld der Königin offenkundig und der Bedränger – der König Klamidé – ein Gewalttäter ist. An beiden Orten ist die Lage anscheinend aussichtslos und ist es der heldenhafte Einzelkampf des Fremdlings, der das Blatt wendet und die Herrscherin befreit. In beiden Fällen auch ist es spontane, intensive Liebe, die als Antriebskraft für diese Befreiungstat dient. Aber wie ganz anders gestaltet sich die Begegnung zwischen den beiden Liebenden! Schon in dem Namen der Königin von Pelrapeire – Kondwiramurs – lässt uns Wolfram erahnen, dass es ihm hier um das Wesen der Liebe selbst geht.
In seiner Schilderung der vollkommenen Schönheit Kondwiramurs greift Wolfram zum Bild der «tauigen Rose», aber im Gegensatz zur Beschreibung Belakanes, wo er einen solchen Vergleich ironisiert, stellt er ihn hier ins Zentrum seiner Charakterisierung. Durch den «süßen Tau» erstrahlt diese Rose in einem Glanz («schîn»), «der beidiu wîz ist unde rôt».1 Das Bild einer zugleich weiß und rot erscheinenden Rose strapaziert unser Vorstellungsvermögen. Aber wir können im Zusammenklang der Farbempfindungen durchaus nachfühlen, worum es dem Dichter hier geht. Das Rot, die Farbe der Liebe und der Herzenswärme, ist hier vereint mit dem Weiß der seelisch-geistigen Reinheit und Unschuld. Und so sind auch die Liebesbande, die zwischen beiden geknüpft werden, zunächst rein seelisch-geistiger Art.
Nicht ein Hauch erotischer Anzüglichkeit ist im Verhalten der beiden jungen Menschen zu spüren, wenngleich der sinnliche Eindruck der Begegnung auf beiden Seiten sehr intensiv ist und sie seelisch heftig bewegt. Ihre Liebe wächst und entfaltet sich von innen nach außen. In der ersten Nacht erscheint die Königin in einem weißseidenen Hemd, darüber einen langen Mantel aus Samt – auch wenn es nicht eigens gesagt wird, stellen wir ihn uns unwillkürlich rot vor. «Von Kerzen hell wie am Tag war es vor seiner Schlafstätte. Zu seinem Bett ging ihr Weg.» Die beiden begegnen sich in tagheller Nacht, das Dunkle ist vom warmen Licht der Kerzen erleuchtet. Als das Mädchen vor dem noch Schlafenden niederkniet und weint, wird Parzival wach und schaut sie an («daz er si wachende an gesach»). Er richtet sich auf («ûf rihte sich der junge man») und bittet sie, sich zu erheben und sich neben ihn zu legen. Die äußere Gebärdensprache, das Aufrichten im hellen Lichtschein, nimmt vorweg, was sich im Innern des folgenden Gesprächs vollzieht. Kondwiramurs klagt ihm ihre Not, nicht ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen. Denn sie fürchtet, er könne danach nicht mehr schlafen. Eingehüllt in eine Atmosphäre heller Wachheit und empfindsamer Rücksichtnahme, ganz aus innerer Wahrhaftigkeit und nicht etwa unter den Vorzeichen höfischer Etikette oder in Courtoisie veredelter Liebesleidenschaft, finden sich die beiden in einer Liebesszene ganz individueller Art – bis zum Morgengrauen.
Eher wolle sie sich selber töten, als sich der Gewalt Klamidés zu ergeben, klagt die Königin. Als sie in der Offenbarung ihres Schicksals auch Liaze erwähnt, fällt Parzival aus seinem durchgeistigten Gemütszustand zurück in die Niederungen des Alltagsbewusstseins mit seinen gewöhnlicher Emotionen: «sîn hôher muot kom in ein tal: daz riet Lîâzen minne.» Hier – wie schon verschiedentlich seit seinem Wegritt von Gurnemanz – wird wieder deutlich, dass ihm die triebhafte und körperliche Liebe nicht mehr fremd ist. Doch in dieser nächtlichen Szene wird sie ganz außen vor gelassen. In dem Moment der «Talfahrt» bietet Parzival der Königin Hilfe und Schutz an, ohne auch nur einen Gedanken an ein erotisches Abenteuer mit ihr zu verschwenden. Offenbar ist ein geistiger Bund entstanden, der ganz im Mitleiden und im Verständnis des geliebten Wesens wurzelt, ohne jegliche Korrumpierung durch egoistische Wünsche. Das reine Interesse am anderen, ohne vordergründigen Eigennutz und ohne Spekulation mit irgendwelchen Belohnungen, hat zum Erwachen für das fremde und gemeinsame Schicksal geführt. Wir sehen hier, wie sich Parzivals geistige Individualität offenbart und sich gegen die Kräfte einer erwachenden Triebnatur durchsetzt. Die Szene, in all ihrem Liebreiz und ihrer frischen Leichtigkeit, ist durchdrungen von wahrhaftigem, tiefem Ernst. In gewisser Weise klingt hier das Thema des Gralskönigtums an: Handeln aus der Kraft jener geistigen Intuition, die nur die uneigennützige Liebe ermöglicht.
Parzival hat das Wesen der Liebe erfahren. Von nun an wird nicht mehr allein seine Mutter ihn geistig begleiten – von deren Tod er noch nichts weiß –, sondern auch im Irdischen wird ihn die Kraft der Liebe geleiten. Und das ist die «andere Seite» dieser Intuition: Kondwiramur, die «Geleiterin der Liebe», wird davor bewahrt, sich von der Erde zu lösen, sich zu entleiben. Sie wird durch Parzival mit neuen Lebenskräften begabt. Das kündigt sich schon im ersten Augenblick ihrer Begegnung an. Gleich nach der Ankunft Parzivals kommen wie durch ein Wunder wieder Nahrungsmittel übers Meer. Ganz überraschend und unvermittelt werden sie von Herzog Kyot und seinem Bruder aus ungenannter Quelle angekündigt, als die Königin gegenüber Parzival die große Hungersnot beklagt.2 Kyot von Katalangen ist ihr Oheim und der Gatte Schoysianes, der ersten Gralsträgerin von Munsalvaesche, die bei der Geburt ihrer Tochter Sigune starb. Wir ahnen hier die Nähe des Gralswirkens im Umfeld von Parzivals Erscheinen. Und nach seinem ersten Schwertkampf – mit Klamidés Seneschall Kingrun – legen wie aus heiterem Himmel Schiffe mit reicher Nahrung an3 – «das fügte Gott in seiner Weisheit» –, und Parzival lässt es sich nicht nehmen, die Nahrung eigenhändig zu verteilen. Später berichten dann die freigelassenen Ritter aus Klamidés Heer den ihrigen sogar: «Ihr braucht uns nicht zu bemitleiden … Da drinnen gibt es Speise von solcher Kraft, wenn ihr hier noch ein Jahr lagern wolltet, sie könnten euch noch mit ernähren.»4
Nachdem nun den Bürgern «wieder etwas in die Kohlen tropfte», werden die beiden aufgefordert, die Hochzeitsnacht zu begehen, was sie auch bejahen. Aber sie lassen sich nicht von den gesellschaftlichen Erwartungen bestimmen. Auch jetzt, in der zweiten Nacht, kommt es nicht zur körperlichen Vereinigung. Die beiden liegen nebeneinander und haben einander, jeder die Seele des anderen, aufmerksam und liebevoll im Bewusstsein. «Den man den Roten Ritter nannte, er ließ die Königin Jungfrau bleiben.» Es bleibt beim Gespräch, aber am nächsten Tag wähnt man sich «verheiratet» – nach der geistigen Vereinigung folgt die gesellschaftliche. Kondwiramurs bindet sich zum Zeichen der Ehe die Haube auf und gibt ihrem Gatten Burgen und Land. «si wâren mit ein ander sô, daz si durch liebe wâren vrô, zwên tage unt die dritten naht.» – Erst in der dritten Nacht üben sie endlich «den alten und neuen Brauch» – glücklicherweise fügen sich hier die Ratschläge der Mutter und die Lehren Gurnemanz’ einmal zusammen: «Oft dachte er an das Umarmen, das seine Mutter ihm geraten hatte; auch Gurnemanz hatte ihn gelehrt, Mann und Frau seien eins.»
Wie so oft bei Wolfram, kann man sich auch hier den Zusammenhang der Ereignisse nur schwerlich in dem dargestellten zeitlichen Rahmen vorstellen. Zwar ähnelt das Verhalten der beiden Liebenden äußerlich der traditionellen Übung der Enthaltsamkeit in den sogenannten «Tobiasnächten». Was wir aber von ihrer seelisch-geistigen Begegnung und den näheren Umständen ihrer Liebesbeziehung erfahren, ist himmelweit entfernt von zwanghafter Askese oder religiös motiviertem Ritual. Die drei Nächte sind vielmehr Stufen, auf denen sich die individuelle Liebe in die Welt entfaltet – geistig, seelisch, leiblich. So sehen wir nun überall im Handeln Parzivals – bei aller Streitbarkeit – eine Liebekraft wirksam werden, die über die Tugenden der ihn umgebenden Ritterwelt hinausgeht. Als Klamidé besiegt am Boden liegt und «Sicherheit bieten» soll, weigert er sich – wie zuvor auch schon sein Seneschall –, zum Hofe des Gurnemanz zu gehen. Denn er hat ihm «Herzensleid» zugefügt und weiß nur zu gut, dass in dessen Welt die Kraft des Verzeihens nicht ausreicht, ihm Gnade zu gewähren. Auch die Bürger von Pelrapeire fürchtet er aus dem gleichen Grund. Schließlich ist ihm nicht verborgen geblieben, wie die Bewohner der Stadt sich das Recht nahmen, an den wehrlos am Boden liegenden Rittern seines Heeres für das angetane Leid Rache zu üben – was Parzival übrigens, als er es bemerkt, strengstens untersagt. Kingrun und Klamidé werden daher schließlich zum Artushof geschickt, wo sie das Sicherheitsgelöbnis vor der guten Kunneware ablegen müssen. So großherzig folgt Parzival dem Rat seines Lehrmeisters und so nachsichtig behandelt er sogar seine erbitterten Todfeinde.
In Parzivals Gegenspieler Klamidé können wir dagegen sehen, wie besitzergreifende, fordernde Liebe in Hass und Gewalt mündet. Alle anderen sollen sich für ihn opfern, seinem Verlangen dienen. Dabei handelt er zwar selbstbezogen, aber keineswegs eigenverantwortlich aus individuellen Kräften: Er hat sich nicht selbst in der Gewalt, sondern lässt sich treiben, und wie ein Schatten begleitet ihn der gewalttätige Kingrun. Vor diesem hat auch die Königin mehr Angst als vor seinem Herrn selbst, denn ohne ihn hätte dieser den tödlichen Kampf mit Liazes Bruder Schenteflurs verloren, wie der König in Todesnot gesteht.5 So maßlos ist Klamidés Gier nach Liebe, dass er sich sogar dazu versteigt, den Schmerz über die vielen für ihn gefallenen Ritter für gering zu achten, verglichen mit der Verweigerung Kondwiramurs.6 Ja, das Maß seines Selbstmitleids ist so ungeheuer, dass ihn sogar die Strafe für den Verrat des Judas geringer dünkt – welch hintergründig-zynisches Bild für die Unfähigkeit, selbstlos zu lieben! Später, als Parzival verzweifelt den Artushof verlässt, um auf Gralssuche zu gehen, meint Klamidé, niemand könne einen größeren Verlust erleiden als er: «‹Des Grales Wert (werdekeit) … könnte mir nicht das Herzensleid (herzeleit) aufwiegen, das ich mir vor Pelrapeire zugezogen habe.›»7 Dabei ist es doch gerade diese Selbstbezogenheit, die ihn der Liebe Kondwiramurs unwürdig macht.
In einer der zahlreichen feinsinnigen Nebenhandlungen können wir dann verfolgen, welche Verwandlung die verzeihende Liebe bewirken kann. Beide, Klamidé und Kingrun, werden am Hofe von König Artus wohlwollend aufgenommen. Dass dem gefangenen König hier der Artusritter Gawan als Gesellschafter und Seelenbetreuer zugewiesen wird, verweist uns zum ersten Mal auf die besonderen sozialen Fähigkeiten dieses Menschenkenners, der dann ja einen großen Teil der Aventüren übernehmen wird. Es mag auch überraschen, dass man Klamidé in seinem Herzensjammer später Kunneware zur Frau gibt. Es ist jedoch offensichtlich, dass Wolfram keineswegs bestrebt ist, den selbstbezogenen und liebeskranken König als bloßen Bösewicht zu brandmarken, er bezeichnet ihn sogar als «Besiegten ohne Falschheit» («der betwungene valsches vrîe»).8 Mit seiner gewalttätigen Leidenschaft und seiner rücksichtslosen Selbstsucht bewegt er sich durchaus noch im Rahmen der ritterlichen Minnewelt. Haben wir doch gesehen, dass in der Tugendlehre Gurnemanz’, jenes Inbegriffs ritterlichen Edelmuts, die Nächstenliebe durchaus Grenzen hat, wenn es um die eigenen Herzensangelegenheiten geht. Deshalb ist auch hier der Konflikt, wie schon der mit Ither, aus den Kräften des Artusrittertums heraus nicht lösbar und hätte ohne Parzivals Eingreifen zu Tod und Verderben geführt. Ausgerechnet Kingrun ist es, dem – wohl durch das uneigennützige Auftreten Parzivals – für diese Zusammenhänge die Augen geöffnet werden, sodass er seinem Herrn erklärt: «‹Soll Artus jetzt den Ruhm davontragen, weil Keye im Zorn eine edle Fürstin schlug, die mit Herzensverständnis und ihrem Lachen den erwählt hat, dem man ehrlich und wahrhaftig den höchsten Ruhm zuerkennen muss? Die Berteneisen meinen, den Ruhmeszweig ganz hochstecken zu können: aber es ist ohne ihre Mühe so geschehen (ân ir arbeit istz getân), dass tot ihnen dahergebracht wurde der König von Kukumerland …›»9
In seinem Verlangen nach Kondwiramurs hat Klamidé zu hoch gegriffen. Doch unter der besonnenen Obhut Gawans wird er in das Leben der Artuswelt eingeführt. Die fürsorgliche, friedenstiftende Herzensklugheit Kunnewares, der er dort begegnet, wird ihn schließlich mit seinem Schicksal aussöhnen. Später fügt es sich dann, dass Klamidé und Kunneware den «Brautlauf» zu einem Zeitpunkt vollziehen, als Parzival, der diese Ehe vermittelt hat,10 die Suche nach dem Gral aufnimmt und die Artusrunde in Auflösung begriffen ist. Für Parzival ist der Artushof nur ein früher Durchgangsort auf einem viel weiter führenden, einsamen Schicksalsweg.
Munsalvaesche und der Gral
Vom geistigen Wortsinn
Die nun folgende «Aventüre», die Parzival schon bald nach seiner Vermählung begegnet, ist so außergewöhnlich und geheimnisvoll, dass sie alle bisherigen Abenteuer übertrifft. Haben wir die Bildsprache Wolframs gelegentlich als rätselhaft und «dunkel» erlebt, verdichtet sich die Darstellung jetzt zu einem einzigen komplexen Rätsel: die Gralsburg Munsalvaesche. Leser und Zuhörer – wenngleich von einem auktorialen Erzähler oft angesprochen und lebhaft mit einbezogen – scheinen sich hier in einer ähnlichen Situation zu befinden wie Parzival, der sich in eine unverständliche Bilderwelt versetzt sieht, ohne im Geringsten deren Sinn und Bedeutung zu begreifen. Die Frage ist allerdings, ob in diesen Bildern nicht Hinweise und Ansätze zu finden sind, die uns wenigstens anfänglich einen Sinnzusammenhang erschließen können. Um hier Entdeckungen zu machen, dürfen wir natürlich nicht in die Haltung des jungen Parzival verfallen und die Schilderungen als gewöhnliche Bildvorstellungen, wie Erinnerungsbilder von Alltagserfahrungen, an uns vorüberziehen lassen. Noch mehr als bisher ist es hier nötig, die Darstellung als Chiffren einer imaginativen Bildsprache zu lesen. Wir müssen uns selbst, wie Wolfram es im Prolog fordert, auf den Weg machen und nach Übergängen suchen, nach geistigen Brücken, die uns der Dichter zu dem Geschehen auf Munsalvaesche gebaut hat.
Es gibt verschiedene Gesichtspunkte, unter denen der geistige Sinn der Worte und Bilder erfragt werden kann. Da es sich hier um ein sprachliches Kunstwerk handelt, ist der künstlerische Aspekt bei der Sinnsuche vorrangig. Der dichterische Genius schöpft aus dem Reservoir der Bilder und Klänge, der Metaphern und Symbole, das seinem Geist verfügbar ist – «Phantasie» genannt –, und verwandelt damit die Natur der Dinge, der äußeren und inneren Gegebenheiten, in einen neuen Sinnkosmos. So lässt Goethe im Faust den Dichter verkünden: «Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe, wo es in herrlichen Akkorden schlägt? Wer lässt den Sturm zu Leidenschaften wüten? Das Abendrot im ernsten Sinne glühn? … Des Menschen Kraft im Dichter offenbart.»1 Die dichterische Inspiration – Wolfram nennt sie «Frau Aventüre» – kleidet das bloß naturhaft Gegebene in eine seelisch-geistige Aura und verleiht ihm einen moralischen Sinn.
In unserem Falle ist es allerdings unerlässlich, das mittelalterliche Verständnis vom Wesen der Kunst mit in Betracht zu ziehen. Im Erleben der Kathedrale etwa kommt es besonders schön zum Ausdruck und ist auch heute noch nachvollziehbar. «Das Kunstwerk wird als eine Art Zwischenwelt angesehen», schreibt Rosario Assunto in Anlehnung an eine Beschreibung der Kathedrale von Saint-Denis, «ähnlich den Dingen der Erde, aber gleichzeitig diesen unähnlich, weil es den Himmel vorwegnimmt und die Menschen zum Himmel führt … Dieses ‹Aufsteigen des Geistes vom Sichtbaren zum Unsichtbaren› … ist der überweltliche Endzweck des Kunstwerkes. Es wird nicht als subjektiver Gefühlsausdruck dessen, der es geschaffen hat, angesehen, sondern als ein Gegenstand, der den Beschauer – nach der von den Theologen gebrauchten Metapher – an die Hand nimmt, um ihn aus der Welt hier unten zu der höheren Welt zu führen.»2 In diesem Sinne ist auch das vorliegende Epos keine bloße Unterhaltung, sondern mit seinen sechzehn Büchern einem solchen «zum Himmel führenden» Kathedralbau durchaus ähnlich.
Damit sind wir von der Betrachtung des Kunstwerkes auf einen anderen, einen bewusstseinsgeschichtlichen Aspekt der Suche nach dem Wortsinn gewiesen. Schließlich haben wir es ja mit einem Werk aus dem frühen 13. Jahrhundert zu tun, und bei der Frage nach dem geistigen Sinn des Wortes spielen natürlich Weltanschauung und Bewusstseinsverfassung der damaligen europäischen Menschen eine wesentliche Rolle. Der Mensch des Mittelalters erlebte in der Anschauung der Welt eine andere Wirklichkeit als der heutige. Die Dinge und Wesen, auch was er als sein Inneres wahrnahm, deuteten in seinem Daseinsverständnis über das rein Faktisch-Gegenständliche hinaus auf eine höhere, spirituelle Sinnebene, einen «sensus spiritualis», der ihm, je nach geistigem Bildungsgrad, mehr oder weniger einsichtig war. So erlebte er auch die Bedeutung des gesprochenen und geschriebenen Wortes weniger im logisch-diskursiven Vollzug als vielmehr in einer vertikalen Schichtung von Bedeutungsebenen, in einem mehrfachen Schriftsinn. Ausgehend von der Exegese der Heiligen Schrift des großen Gelehrten und «Kirchenvaters» Origenes (185–254) entwickelte sich die Lehre vom dreifachen Schriftsinn3 – entsprechend der leiblichen, seelischen und geistigen Wesenheit des Menschen – und wurde zum Leitbild der mittelalterlichen Bildung, wie es etwa dem Bildungsgang der Schule von Chartres zugrunde lag.4 So kannte man, als unterste Ebene und als Grundlage des Verständnisses, den «sensus litteralis», den buchstäblichen Sinn, der durchaus schon entsprechende «Sachkenntnisse» erfordert. Sodann den «sensus moralis», den wissenschaftlichen Sinn, der geistige Zusammenhänge aufdeckt, die für die Seele wegweisend sind. Schließlich den «sensus anagogicus», den eigentlich spirituellen Sinn, der in die geistige Welt «hinaufführt» (anagogé = Hinaufführung), der nur dem in die tieferen Geheimnisse der geistigen Welten Eingeweihten zugänglich ist.
Im Kosmos der Bedeutungen ist es allerdings keineswegs so, dass das Wort, das ja nach den Sinnebenen hin offen und nicht an eine gegenständliche Bedeutung gekettet ist, in seiner geistigen Sinngebung definiert und festgelegt wäre. Es macht gerade die Lebendigkeit und Flexibilität dieses geistigen Sinn-Kosmos aus, dass die gleichen Worte in einem sich wandelnden Kontext völlig unterschiedliche Bedeutungen haben können. Ebendies erklärt auch die Schwierigkeit einer exakten Übersetzung, die deshalb stark vom jeweiligen geistigen Umfeld und seiner Interpretation abhängt. In seinem Aufsatz «Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter» schreibt der Mediävist Friedrich Ohly: «Welche Bedeutung das Ding jeweils hat, bestimmt sich nach der in Betracht gezogenen Eigenschaft des Dinges und nach dem Kontext, in dem das betreffende Wort erscheint. Die Wortbedeutung erschöpft sich im Bezug auf das eine Ding. Das Ding aber hat eine Bedeutungswelt, die von Gott bis zum Teufel reicht und potenziell in jedem mit einem Wort bezeichneten Dinge vorliegt. Sie aktualisiert sich jeweils nur in einer durch den Kontext und die am Dinge herangezogene Eigenschaft bestimmten Richtung … Es bedarf auch bei den Dingbedeutungen einer Sinninterpretation aus dem Zusammenhang, um aus der theoretisch beliebigen Zahl von Bedeutungen die jeweils richtige zu treffen. Die Bedeutungswelt, die als Summe geistiger Sinnmöglichkeiten in dem Ding von der Schöpfung her angelegt ist, gilt es dem Mittelalter aufzuschließen, um sie im konkreten Textfall durch Findung der passenden Bedeutung anwenden zu können.»5 In diesem Zusammenhang können auch die vielfältigen Bedeutungen der Phantasienamen Wolframs gesehen werden, aber auch Name und Gestalt des Grals selbst. Ohly kommt zu einem entschiedenen Fazit hinsichtlich der Voraussetzungen sachgemäßer Texterschließung: «Ohne Kenntnis der spirituellen Perspektiven der Bedeutungswelt und des Bedeutungsraumes, welche die Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen ausmessen, dürfen wir nicht erwarten, Dichtung zu verstehen, die solche Kenntnis voraussetzt.»6 –
Im Hinblick auf diese «spirituellen Perspektiven» sollten wir uns bei der Frage nach dem Wortsinn als einen weiteren, dritten Gesichtspunkt vor Augen halten, dass Wolfram nicht nur als Dichter verstanden werden kann, sondern, wie schon in der Einleitung bemerkt wurde und wie es auch der Prolog andeutet, als «ein gründlich Eingeweihter»7, der über wahrhaftige geistige Erfahrung verfügt. Es ist nun einmal das Wesen solcher Erfahrungen, dass sie nicht oder nur entstellt in unserer Alltagssprache und mit den gewohnten, an der physischen Welt gewonnenen Vorstellungen mitgeteilt werden können. Eine wirklich rein geistige Welt ist von solchen Vorstellungen so grundsätzlich verschieden wie die konkrete Wirklichkeit von den Vorstellungsbildern unseres Knaben Parzival. Deshalb ist der Geistesforscher, sofern er von seinen Erfahrungen berichten will, in ständiger Auseinandersetzung mit dem Sprachgeist und unter Umständen gezwungen, Kompromisse einzugehen. «Wer in dieser Art schaut», so schildert Rudolf Steiner solche Erfahrungen, «der entfernt sich in seinem Schauen von dem, was durch die Sprache ausdrückbar ist … Greift er zu Worten, so hat er sogleich die Empfindung, dass der Inhalt seiner Schauung etwas anderes wird. Will er nun doch von seinen Schauungen Mitteilung machen, so beginnt sein Kampf mit der Sprache. Er sucht alles Mögliche innerhalb des Sprachlichen zu verwenden, um ein Bild dessen zu gestalten, was er schaut. Von Lautanklängen zu Satzwendungen sucht er überall im Bereich des Sprachlichen. Er kämpft einen harten inneren Kampf.»8 –
Wenn man das nun Folgende, das Herannahen an die Gralsburg und das Eintreten Parzivals in ein nächtliches geistiges Geschehen, mit jungen Menschen erarbeitet, so empfiehlt es sich, diese Arbeit selbst als eine Annäherung an ein geistiges Erlebnis zu gestalten. Eine jedem zugängliche Möglichkeit hierzu bietet die Sprache, wenn wir uns ihr von der lebendigen inneren Anschauung und vom künstlerischen Empfinden her nähern. Gehen wir beispielsweise von einfachen Worten aus, die eine äußere Bewegung ausdrücken, wie «fließen», «springen», «greifen», «deuten», und machen wir uns sodann behutsam die inneren Gebärden bewusst, die wir vollziehen, wenn wir die auf «Übersinnliches» deutenden Worte gebrauchen: «Einfluss», «Ursprung», «Begriff», «Bedeutung». Der Sprachgeist ist ein großartiger Poet, und falls in dieser Weise schon etymologisch gearbeitet wurde, etwa in einer Poetik-Epoche, kann man hier darauf zurückgreifen. Wir sehen in der Sprachentwicklung eine Kraft der Vergeistigung wirken, die uns ermöglicht, statt abstrakte Begriffe starr an Lautbildungen anzuheften, durch die Seelenarbeit der Bildgestaltung uns empfindend auf die Bedeutungsebene des Gedankens aufzuschwingen und ihn zum Erleben zu bringen. Man kann durch solches Erleben zu der inneren Gewissheit gelangen, dass das Wesen der Sache, auf das die Sprachgebärde hindeutet, eine lebensvolle Wirklichkeit ist, und keine blutleere Abstraktion.
Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und die Gebärde selbst als eine Tätigkeit jenes Sinnwesens auffassen, das sich in unterschiedliche Sprachen kleidet, in jeweils ganz spezifischer Art. Daher können wir mit anschaulichen Sprachbildern im lebendigen Wort auch Geistiges ausdrücken, ohne abstrakte Begriffsdefinitionen zu bemühen. Mit künstlerischem Empfinden lässt sich manches einleuchtend und nachvollziehbar darlegen, ohne dass man sich in philosophische Höhen versteigen muss. – Selbstverständlich kann man solche Betrachtungen auch der gesamten Arbeit voranstellen, allein beim ersten Besuch in der Gralsburg geht es eben gerade darum. Denn Parzival mangelt es an geistig-seelischer Beweglichkeit, sich bewusst in die Gebärden hineinzubegeben, die sich ihm darbieten. So erlebt er nicht ihre Sinngestalt und erkennt in ihnen nicht die Mitteilung. –