Kitabı oku: «Ostexpress in den Westen», sayfa 7
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„Mein Katerchen, du musst deine Träume verlegen“‚ hält Ljuba die Hand ihres Freundes unter der Decke. „Hast du gut geschlafen? – Guten Morgen, Semjon? Guten Morgen, Wasili! Guten Morgen, Martin!“
„Hm.“
„Petra ist wirklich sympathisch.“
„Allen ist sie sympathisch“, antwortet Martin.
„Mit größtem Vergnügen würde ich sie von hinten vernageln.“ „Semjon!“, mahnt Ljuba vergeblich.
„Was ist? Sind kleine Kinder im Raum?“, fragt Sjoma und dreht sich verwundert um. „Ach so! Wowa. Ich habe vergessen.“
Ljuba streicht Wolodja die Haare aus seiner Stirn: „Zieh dich jetzt an, Wowotschka, mein Sternchen, mein Katerchen, ich warte auf dich in der Diele“, zirpt sie und geht aus dem Zimmer.
„Ich hatte mal eine Mieze, die hat beim Vögeln immer wie eine Biene gesummt“, rollt Samwels Satz gegen die eingezogene Tür.
Sehr musikalisch ist Ljuba. Sie hat Musikpädagogik studiert und danach in der Schule Gesang unterrichtet. Sie kennt alle Volks- und Kinderlieder im Kopf – hat nur diese Lieder dort oben. Ihr Mann ist zu Hause geblieben. Rotborstig, mit einer grobhornigen Sechser-Brille auf der russischen Nase, ist er einmal bescheiden nach Moskau besuchsweise gekommen. Wer hätte ihn da schon bemerkt, wenn Ljuba nicht jedem Einzelnen ausdrücklich gesagt hätte: „Mein Mann!“ Er hatte höflich gegrüßt, nach rechts und nach oben – das Filminstitut ist für die Leute in Woronesch eine ganz hohe und ernstzunehmende Sache. Beim Abschied dann hatte er bewegt Ljubas Hand gefasst und ihren kurzen Mund durch seine dick gläserne Brille gesucht.
„Das war mein Gatte. Und nach meinem ersten Film wollen wir Kinder haben. Bestimmt fünf“, sagte sie ausgesprochen melodisch. Ljuba greift immer in Dur: ausgeglichen, allfreundlich, mit den Pädagogen lehrerbezogen. „Mein Pfötchen, es ist jetzt an der Zeit!“ – Wladimir belässt unter der Bettdecke die Hand in der ihren – mehr lässt er ihr nie. „Es ist angenehm, unter einer Frau zu erwachen“, stöhnt er vor Glück. Ljuba indessen sendet „Die Grundlagen der Filmregie“ an ihren Mann: „Viele Grüße von Semjon, Martin und Wladimir.“
In dem Buch steht eine persönliche Widmung von Lew Kuleschow, und sie legt eine Pelzmütze mit hinein ins Paket, die ihr Venka aus Bulgarien mitgebracht hat: „Für dich, liebes Hündchen. – In Bulgarien ist es viel wärmer als in Woronesch. Dafür aber gibt es in Sofia Mützen aus echtem Fell.“
Venka bekommt den Mund nicht ganz zu voller Zähne, und ihre obere Lippe versucht verzweifelt, verspannt dieses Weißgelb zu decken. „Wie ein Hauch. Eine zweite Sarah Bernhardt“, soll der Professor über sie einmal gesagt haben – hat jedenfalls Tretin behauptet. Schließlich hatte er die Bernhardt persönlich gekannt. Und mündig ironisch spitzen die Dilettanten im Kurs ihren Mund: „Venka, das Stummfilmidol.“
„Sie darf beim Rezitieren bloß nicht den Rachen aufsperren“, meint Sjoma. „Dann kann sie sein, wer sie will.“ – Nach der ihr zugeflüsterten Eloge des Meisters gibt sich Venka sehr schön und lässt sich nicht zwei Mal nur bitten. „Sarah-Venka!“, ruft man ihr nach, und ihr Kiefer fällt vor Stolz beinah auf die Treppe. Unten steht Martin und krabbt ihn fast in den Keller: „Der rollt!“ – Hat er nicht mit ihr schon sieben Worte gewechselt? „Ich war noch nie in Bulgarien gewesen.“ – Sie hätte nicht laut lachen gesollt! So ist alles verdorben – die Treppe hinunter. Hinterher wird gesagt, Martin hat sie gestoßen. „Wenn ich doch unten gestanden habe in diesem Moment! Oben stand doch zu diesem Zeitpunkt gerade Kim-Lan.“
Wer weiß genau, wie alt sie ist, wie viel Jahre sie hinter sich hatte? Dreißig? Fünfunddreißig? Noch älter? Altlos, weit an der russischen Sprache vorbei, ist Kim-Lan ein Geheimnis, ein Kriegsgeschenk aus Hanoi. In Dutzenden Filmen hat sie bereits bei sich zu Hause gespielt und wurde ein Ur-Stern über dem Wald, eine vietnamesische Diva. Jetzt wird die Schauspielerin zur Regisseurin geformt, denn der Krieg in Vietnam hat Akteure genug. Unter den Bomben sind die Studios zu Pulver, und das Geld für das Kino wird in die Gewehre gesteckt. Wer aber filmt die Taten der Toten? – Kim-Lan wird einmal Spielfilme drehen. Ihr Mann jedoch bleibt als Flieger am Himmel, den Amerikanern zum Fraß: Wer hat die besten Kanonen? Stets, wenn ein Flugzeug über den Moskauer Himmel pfeift, senkt Kim-Lan ihre unendlichen Haare – sie denkt an ihn, an den Krieg: „Die Ausländer können uns mal!“ – eine leise Unruhe ist dann auf ihrer leicht faltigen Stirne zu lesen, und sie kann darin sogar ein wenig erstarren.
Zwei Jahre ist sie nicht zu Hause gewesen – „Ob es noch geht?“ – und sie hanoit lautlos über die Flure. „Kim-Lan!“ – Wie aus Scham biegt sie den Hals. Sehr schön war sie sicher einmal gewesen – und ist es immer noch heute. Das wenige, welches sie spricht, was sie überträgt aus den sechsgestrichenen Ton-Leitern ihrer eigenen Sprache, will sie nicht sprechen, singt sie, möchte nicht singen, bleibt hängen in ihrem Hals. Eine dunkle Ader läuft dort ihr
darüber, und kleinschrittig huscht Kim-Lan hinaus aus dem Saal: Sie kann keine Kriegsfilme mehr sehen und ist zur Toilette geeilt. Dorthin verfolgen sie die infernalen Sirenen im Sinn. „Du bist traurig, Kim-Lan?“
„No.“ – Sie ergreift die Finger von Martin, beißt sich in sie, so dass er aufschreit, und seine Stimme fast die Höhe der ihren erklimmt. „Glücklich du bist, Martine?“, haucht sie, gibt sie nicht los und schiebt ihre Hand in den Ärmel.
„Ich … weißt du … Wie gefiel dir der Film?“, fragt er unpassend ungeschickt nicht am Platze und fühlt sich in den oberen Wolken, verblüfft.
Ihre Ader schlafft ab, entleert sich, und sie schaut ihn gleichgültig-achtlos nur von der Seite.
„Du bist nicht richtig hier – Damentoilette“, sagt sie in ihrem singenden Ton. – Eine Wunde bleibt Martin zurück, und er saugt sich fest an der Stimme:
„Entschuldige bitte!“ – Sie aber ist plötzlich wieder Kim-Lan, bloß wieder ein Rätsel.
„Ta-Scha, Ta-Scha“, verballhornt Dascha den Jungen, spült das Wasser im Klo und ordnet ihr Kleid.
„Dumme Gans!“, tut Martin verdrießt.
„Tumme Tascha“, macht sie sich her über seine Konsonanten, die weich sind wie schimmliges Obst. „Teine Sprache ist pfaul. Im Teutschen pist tu ein Schwuler mit so einem ‚Tu‘. – Alle Teutschen sint schwul. Tu aper pesonters!“
„Du spinnst! Als würde ich nicht Dascha sagen zu dir, wie die anderen auch.“ – Er reißt ihr wütend die Schleife vom Zopf: „Wenn du noch einmal …!“ – Sie prustet:
„Noch einmal!“, und ergänzt wonnig: „Rasum“ – russisch „Verstand“ – und rollt das „R“ wie eine Säge im Holz, so dass Sarodnick vor Neid sich die Zunge fast schneidend abbeißt. „Du Kind!“ – Sie ist blutneu, blutjung, blutunerfahren.
„Dtdtdascha!“, wiederholt sie ironisch. Ihr Vater hatte ihr die Filmhochschule vorgeschlagen, sie hat eingeschlagen ohne ein Wort: Er ist ein bekannter sowjetischer Filmregisseur. Alles bleibt in der Familie.
„Als wäre es so wichtig, welches ‚D‘ man sich wählt!“ – Wie ein Kreisel tanzt sie um ihn:
„Gehen wir Eis essen ins Café ‚Zu den zwei Rosen‘? – Schnell! Keine Furcht! Ich bezahle.“
„Du kleines Kind.“
„Mit dir bleibt man es natürlich bis in das Grab“, sagt sie und küsst ihn auf den Mund. „Tatjana wartet auf uns.“ – Tatjana studiert im Parallelkurs, und ihr Vater ist der stellvertretende Rektor vom Institut. „Ein Teutscher, ta!“, ruft ihr Dascha von weitem schon zu, „mit tunklen Augen und tunklem Haar – ganz wie der Führer.“ Ein Kind.
Helläugig, rotwangig ist sie, noch grün hinter den Ohren, mit einer kleinen knorpligen Nase; und die vollen Brüste sind auffällig rundbäckig prall schon für ihre kaum sechzehn ein halb. „Die wird mal ein ganz schönes Kaliber!“ – Aber noch – Gott sei gelobt! – ist sie ja ein frischer Kuchen zum Schleckern und Naschen, und Martin folgt ihrem Hintern wie blinde Kuh: „Dascha! Das Eis!“
„Tasch-Eis“, schlenkert sie ihm die Brüste entgegen, und Martin stolpert vor Wut: „Blöde Pute! Geht doch allein. – Was ist schon daran!“ –
Vier Mädchen studieren mit Martin – vier von zwanzig im Kurs. „Man sollte sich vielleicht was Besseres besorgen!“, reflektiert sinnig Sarodnick. „Vier verschiedene – und wer ist die Beste davon? – Bestimmt nicht, bestimmt. Man müsste probieren.“ – Venka ist von der Treppe geschlittert, und wie Sarah Bernhardt steht Kim-Lan stummtaub – ein Dschungel – daneben, als Ljuba am Flügel die Lieder begleitet. Dascha aber ist in den Zirkus gegangen. Sie braucht eine Hand. Die vier Mädchen reichen sich beide.
„Was ist los nur mit Martin?“ – „Alleine nur träumt er davon. Mit den Mädchen ist dies etwas ganz andres.“ – Klein bei geht er zurück in die Probe. Der Professor müsste heute persönlich erscheinen – eine Erscheinung trügt Schein. Die Schüler hoffen mit den Assistenten und die mit der Frau Kuleschows.
„Erst einmal Pause!“
„Mein Mann wird bald wieder gesund.“ – Der neunte Monat ist schon im Gange. Ljuba liest persönlich den Text von dem Mann vor:
„Die Arbeiten meiner Gruppe …“ – Eine fernere Gruppe ist sie, und im Bett urteiltest sich leicht.
„Wir werden ihn morgen besuchen!“
16
„Ich hab es geahnt“, sagt Kletters wagehalsig und flüstert dem Botschaftsrat etwas ins abgestandene Ohr. „Wie viel Male waren Sie schon zu Hause“, rät nun der Mann im Halbdunkel rum.
„Zweimal“, untertreibt Sarodnick seine Antwort. „Das erste Mal und das zweite.“
„Wir haben aber andere Informationen bekommen“, hat die Botschaft gehört.
„Es muss ein Missverständnis vorliegen“, legt Sarodnick nach. „Die andere Zeit war ich krank.“
„Krank?“
„Ja. Eine Verstauchung.“
„Genosse Kletters, was meinst du dazu?“
„Ich? Ja, der Sarodnick … Wir sind gute Freunde“, redet Kletters um Martin herum. „Das Weitere steht im Bericht.“
„Geben Sie mir Ihren Pass!“, verlangt der Botschaftsrat von dem Heimfahrer.
„Den habe ich verloren“‚ rutscht es Sarodnick wie aus der Tasche.
„Was?“ Schreiend erhebt der Mann sich in seiner Stellung. „Verrückt geworden! Da sind doch die ganzen Stempel gewesen.“ – Jeder Stempel ein Flug. „Los, geben Sie uns einmal Ihr Märchen zum Besten!“
Und Sarodnick zählt auf seine letzten Stunden im Leben: „Um 16 Uhr befahl mir Kletters, dass ich sofort mit dem Pass in der Botschaft erscheinen solle. Um 17 Uhr war ich schon auf dem Weg. Um 18 Uhr hab’ ich plötzlich Hunger bekommen, aß eine Kleinigkeit schnell, und um 19 Uhr bezahlte ich an der Kasse fürs Essen. Um 20 Uhr war ich dann bei Ihnen hier.“
„Eine miese Geschichte“, verdrießt der hohe Genosse sich rastlos und glotzt auf das Porträt von dem Ulbricht. „Weiter! Wo ist nun der Pass?“
„Irgendwo zwischen 16 und 20 Uhr.“
„Das können Sie in der Kneipe erzählen!“, schenkt der Mann redekarg aus, und Sarodnick gibt ihm voll Recht:
„Daran habe ich auch gleich gedacht, aber die Kassiererin hat nichts gesehen.“
„Die lügen doch alle hier wie die Reiher!“, vergisst der Mann sich im Land. „Eine Hand klaut die andere.“ Und er haut auf den Tisch. „Wir prüfen die Sache!“ Und zu Kletters gewandt: „Du hättest ihn niemals aus den Augen sollen lassen, Genosse!“
„Ich habe es nicht.“
„Und von 16 bis 20 Uhr? Was war da?“ – Kletters nickt, er hat seine Lücken begriffen.
17
Ein Sommer wie jeder andere. Ein Meer wie jedes. Ein Mädchen wie andere auch. Auf der Rückfahrt vom Sommer, vom Meer und von Petra macht Sarodnick eine Rast. Sie ist kurz und bescheiden, denn der Sommer wollte nicht enden, wie das Meer endet am Strand. Das Auto bleibt auf der Straße, es hat inzwischen das Motorrad ersetzt, hat die Gefahr ein Stück in die Wege gerückt, und die Rast steht vor dem Hause nun auf vier Beinen.
„Grüß dich!“
„Grüß dich!“
„Setz dich, mein Schatz!“
„Oh. Danke.“
„Erzähle von dir.“
„Das ist Petra.“
„Ich kenne sie schon von dem Bahnhof.“
„Petra ist eine Freundin von mir.“ – Monika zerrt an dem Mund: „Weiter, mein Schatz.“
„Wir sind von der Ostsee.“
„Das sehe ich wohl.“
„Wir fahren wieder nach Hause.“
Die Mutter stellt Kuchen: „Meine Tochter hat so viel von Ihnen berichtet.“
„Mutti!“
„Sie studieren also in Moskau?“
„Bitte!“
„Monika hat ja nun ihr Diplom absolviert.“
„Mutti, geh in die Küche!“ –
„Was wirst du jetzt tun?“, fragt Martin und sieht der Mutter hinterher zu der Tür.
„Ich möchte …“, Monika ziert sich zickig im Stuhl, „fotografieren.“
„Ist dies denn möglich?“, fragt Petra aus der hinteren Reihe, doch Monika hat die Frage gar nicht gesehen.
„Ich mache ein Buch.“
„Und worüber?“, staunt Martin.
„Nicht hier!“, flüstert Monika leicht und guckt wie durch die Wand in die Küche und durch Petra hindurch wieder zur Wand. „Wir reden unter vier Augen darüber. – Du hilfst mir dabei?“
„Klar!“, couragiert sie Martin lautstark.
„Ich komme noch öfters nach Moskau.“
„Schön.“ Martin verschluckt sich im Magen und dreht sich geniert zu Petra herum.
„Ich werde da schon aufpassen auf dich“, schäkert Monika, himmelblau in den Augen.
„Wieso aufpassen?“, stellt sich Sarodnick dumm.
„Na, na!“, zieht sie sich hoch. „Keine anderen Mädchen, mein Schatz!“ Und sie schmettert diesen Satz Petra ins Gesicht wie eine Fanfare.
Die Rast geht zu Ende. Jeder Abschied tut weh. Petra sitzt in dem Auto, und Sarodnick schnappt noch ein Foto vom Kuss, den er Monika gibt.
„Ciao! Auf Bälde.“
„Grüß Moskau von mir!“
VON KOPF BIS FUSS
1
Sie hat lange Pechhaare bis zur winzigen Taille, und die Taille ist gleich einem Ring am Gelenk, die sich wiegt wie in einer Muschel am Flusse, leise sich öffnend zum Kiesel – ein südrussischer Stein mit den Mongoloiden von drei Jahrhunderten Joch. Und jochbeinbreit reißt es im Gemüte gleich einem entfesselnden Tiere in der unendlichen Steppe, dass man reinbeißen muss in die Zähne, in die lockenden Milchstreifen am Himmel, in die Milch ihrer Haut. Zum Springen weit dagegen leuchten die Lippen wie die Wildkirschen zur Reife im Fallen, und zum Versinken im Weich sprühen die Augen, diesem Grün der Zeitlose morgens im Tau. Träumt sie noch den Kindschlaf der Jahre?
„Wladimir?“ – Schwebe hält das Gesicht, und wenn es lacht, ist ein leichtes Grübchen darin. „Wladimir.“ – Die Zunge macht einen kleinen Satz auf der zweiten Silbe, und die Lippen verschließen nicht mehr vollständig. Wolodja ist verwirrt, ordnet sein Hemd und steht wie ein gefeierter Jüngling neben dem Bett, mit der Hand die Geste entschuldigend: „Ich bin Wladimir“, und er verheddert sich vor dem Mädchen, das so urplötzlich da steht im Raum. Gleich Samwel, der stetig weiß, was zu tun, oder nie weiß, was wirklich die Sache, und der jetzt durchgedreht, unsicher, kopfscheu gemacht, in ihren Mund starrt und sich verschluckt in der sinnlichen Form. – Das Mädchen stellt ein großes Glas, Papierbogen bedeckt und mit einem gelben Gummi verschlossen, auf den Tisch nahe am Bett: „Von Ihrer Mutter. Ich habe sie auf dem Bahnhof getroffen.“
„Das ist aus dem Garten … Honig. Setzen Sie sich! Ein Wunder! Woher? Und Ihr Name?“
„Larissa“, setzt sie sich fest in den schwingenden Vokalen und lässt die Tür hinter sich angelehnt wie zur Flucht. Aber Samwel – sperrig, ein Wille: „Die oder keine!“ – blockiert ihr den Weg. Er hat seinen Rhythmus gefunden, den Taktstock, den Einsatz:
„Meine Fresse! Das ist nicht zu fassen.“
„Sehr schön Larissa, möchten Sie nicht …?“, kommt ihm Wowa zuvor. Doch der Armenier hat schon ihre Schultern berührt und sucht den Körper in seine Worte zu ziehen:
„Ich bin ganz über von dir, fließe schon aus. O meine Schönheit!“ – Federnd stoppt sie ihren Handrücken an seinem Hals und kehrt sich geschickt ab, weg in die Seite, dorthin, wo Martin liegt auf dem Bett.
„Das ist unser Fritzig!“, folgt Samwel unruhig ihrer Bewegung.
Wie eine noch reifende Mandel huschen die Augen des Mädchens in die dunklen von Martin, und Sekunden starren Augenweiten in -weiden, wird ein Tausend zu ewig, und Welten balancieren im Licht.
„Nachgerade ist sie zu mir doch gekommen“, wehrt Wladimir die Freunde sich ab. Ein wenig herzschwer winkt sie nun ab, sich mit dem Blick an Martin noch klammernd:
„Zu mir …?“, fragt sie lang atmend, um sich alsdann rasch wieder an die anderen beiden im Lachen zu wenden:
„Alles wäre gesagt.“ – Sie zieht an der Tür. –
„Aber warten Sie doch!“
„Du kannst mich doch jetzt nicht so alleine liegen lassen!“ – Noch einmal zeigt sie die Grübchen und geht. Das Schweigen, das Verdutzen bleiben und haben sich durch das ganze Zimmer gespannt.
– Später dann ist Wladimir den Flur hinuntergelaufen, über die Treppe, den Hof und hat auf der Straße einen Treffpunkt von ihr sich erbeten. Dass sie nicht weit von hier im Internat wohne, hat er von ihr nur erfahren.
Am nächsten Tag schlüpft er in die besten Kleider, kauft Blumen, zimtfarben und blattlos und sucht Larissa im angezeigten Studentenwohnheime auf. Nach einer Stunde freilich kommt er wieder zurück, und auch an den anderen Tagen wiederholt sich dieses Spiel ohne Dauer. – So stocken Wochen im Sand, – und Samwel verzieht den Mund bis hinter die Ohren und klirrt:
„Der Sack! Fiedelt mit Liebe wie bei Tolstoi, statt sie einfach zu geigen.“ – Und er rafft sich selbst auf den Weg, um sich die Unruh krönen zu lassen. Mühselig hatte er sich Eintrittskarten besorgt und lädt mit diesen das Mädchen zu einem neuen amerikanischen Film in den exklusiven Kinoklub ein. Nach der Vorstellung indes lässt Larissa ihn stehen und fährt alleine zu sich. Wladimir reibt sich vor Schadenfreude die Hände, kauft wieder zimtfarbene Blumen und sitzt eine Stunde bei Larissa in ihrem Zimmer am Tisch. Er spricht sehr klug über den Dichter Nikolai Gumiljow und dem Leben als große Tragödie schlechthin: „Am gleichen Tag, als man den Dichter erschoss, ist Alexander Blok zu Hause verhungert. Und keiner hatte von dem Tod des anderen erfahren. – Allein, es sind immer die anderen, die alles gewusst haben. Die anderen gehen über die Straße im Blick, und sie finden dort nur die Steine am Rand.“ – Sehr spät kehrt Wladimir nach Hause zurück, ohne dass Larissas Mund sich zu einem „Warte!“ bewegte. Und weiter saugt er die Tage in Harren, ist verschlossen in Gram. – Wie ein Rebhuhn dagegen fliegt Samwel zu ihr, ergreift sie, kniet vor ihr nieder, flucht, sagt die romantischsten, sentimentalsten Dinge und Undinge der Welt und wickelt sie um und ein in ihre Haare:
„Geliebte! Mein Alles! Das Leben verwirkt ohne dich …!“
Hierauf – auf dieser Szene in schwülstiger Luft – kocht Wladimir erneut den Groll in sich auf bis zum Wallen, seinen Ärger hinauf, verbietet, verbittet die Rechte, bittet Respekt seiner Gefühle und tritt trotzdem nur auf dem Flecke. Freilich, auch andere Freier stehen in Lauer, bereit, die ersten zu sein:
„Ich bin vom Film …!“ – „Möchten Sie nicht in meinem neuesten selbst drehen?“ – „Meine persönlichen Möglichkeiten sind kolossal …“ – „Wir könnten zu einer Premiere …“ – „Ins Restaurant …?“ – „Mit dem Auto?“ – „In den Ferien können Sie in meiner Datscha am Meer …“ Wie Wölfe zerren sie hungrig am Fleisch. Larissa aber bleibt ruhig dabei, verschmäht diese Rudel, fegt von der Schwelle die Rage, und überrascht-überraschend verfängt sie sich fernerhin in der Masche Wolodjas und Samwels, obgleich mehr befangen und roh, mehr mit einem leichten Bedauern oder gar Dauern und ohne ganz landwärts zu kommen. Es ist ein Vergeblich – sie zieht ihre Kreise um sich und atmet die Feuchte am Fluss. Irgendwo spielt sie noch in dem Morgen, ist selbst von den in ihren jähen Keimen der Frau ein wenig erstaunt, die ein Sinn, eine Lust für die sind, die unentdeckt, spähend wie Rosen angenehm picken, um plötzlich dann zu wachsen, zu antizipieren. – Schwunglos verreiben sich Wladimir und Samwel. Doch hinter sich die Gegnerschaft fühlend, im Felde, in den eigenen Autos und großen Häusern, aufgeschlossen und pranzend, gedulden sie sich, dulden stolz den schmalen wackeligen Steg, der sich ihnen noch bietet.
„Du bist meine ganz große Liebe!“ – Wowa spricht wieder von Gumiljow: „Vom Todesurteil hatte Lenin erst viel später erfahren. Hätte er an dem Verdikt etwas geändert? Gumiljow hatte er doch selbst niemals gelesen. – Ein schwarzer Rebell. Vielleicht hatte sein Name ihn einfach verraten: ‚Gumiljow‘ – mit solch einem Namen darf man nicht kämpfen, er ist zur ‚Humiliation‘, zur Demütigung prädestiniert – wie der der Zwetajewa – ‚Blume und Farbe‘ – der zum ‚Verblühen‘, zum Frühtod, zum Selbst-Tod nur geeignet wohl war. –
Ein Name ist wie ein Gewitter: ‚La-Ris-Sa‘ – der Hauch einer verspielten Nymphe, die in heimende Wässer entführt.“ –
Manchmal sieht man sie mit Samwel im Club, lässt sich vorstellen, vorzeigen, bewundern, meiden, beneiden – sich und den Mann: schön, weich – eine Daune und Samt. In den Kulissen aber zu zweit wirkt sie nur krallend, rar, unnehmbar und kalt. „Sie segelt wie eine Möwe – über die Wasser und unheimlich hoch.“ Natürlich, Semjon zeigt niemandem seine seelischen Narben, trägt es in sich, hält seinen Ruf – er muss der Mann sein zum Schwindeln in schwindelnder Höhe. Was er fasst, gelingt ihm total. Fast. Und nicht immer. Ausnahmen bestätigen seinen Jammer bloß umso mehr.
Schnell riecht Walodja das Faule, er ist nicht auf seine Augen gefallen, ihre gefallen ihm nur. Es ist nicht das Wort – er verliert zu viele bei ihr, ohne das richtige Wort wirklich zu sagen, hören zu können: Sie bleibt stumm, und stumm kreuzen sich ihre Wege. Mit beiden. Mit beiden und einem. Ungewollt schreibt Martin unbewusst ihren Namen auf einen Zettel im Seminar, und Sjoma grinst witzig-gewitzt: „Du musst zuerst noch die Schalen deiner Eier polieren. Lerne und lerne und lern!“ – Aber lernt Martin nicht weiter? Oder nur mit Gewalt? „Wenn bloß Wolodja das Geschriebene nicht entdeckt! Der hat sich mit Blindheit geschlagen und meint, das wäre die ganz große Liebe.“ – Das Mädchen jedoch macht keinem das Bett, und dies schärft noch die Messer der beiden. „Der Erste verliert.“
Konfus schrickt Martin vor den eigenen Buchstaben fort: „In der Tat! Ihr Name. Ist’s Spielerei?“
„Martin, Martin!“, kneift Semjon ihm in die Backe. „Nimm die Finger davon. Sie ist nicht umsonst. – Schenk lieber Lewon etwas zu seinem Geburtstag!“, fügt er ganz nebenbei noch hinzu.
„Warum?“ – Lewon stammt aus der anderen Gruppe, ist noch ein halbes Kind, ein noch werdender Mann, mit einem mächtigen Bauch, wie ihn die Alten nur haben, einem Bauch, der gemütlich und weich hinter französischen Hosenträgern sich hält und von dort laut wackelt wie ein Gelee.
„Oh, Fritz! Lewon, Ljowa ist doch auch ein Armenier.“ – Damit ist’s formuliert. Armenier sind Freunde, und die Freunde von ihnen sind Freunde. „Mein Freund ist dein Freund, und sein Freund ist der Freund unseres Freundes“. Der Wunsch wird Sarodnick heilig, und er sendet dem neuen: „Alles Gute, Liebe, Jahre, Erfolge …!“ – und schenkt ihm ein französisches Kartenspiel aus Berlin.
Der stattliche Bauchbesitzer grunzt erfreut. Seine Träger hüpfen bunt durcheinander, und die winzigen schmalen Hände schütteln und schütteln zärtlich und weich: „Ich lade dich ein für heut’ Abend zu mir.“
„Mich? – Warum nicht?“
„Und möchtest du nicht jemanden mitbringen?“, fragt das Geburtstagskind ganz ohne Zeremonien.
„Sjoma vielleicht?“
Der Kaukasier kratzt an seiner armenischen Nase – adelig, adlerich, gebogen wie bei den Georgiern auch, bloß mit einer zusätzlichen Krümme nach rechts: „Nein. Eher ein Mädchen. – Wie wär’ es mit Larissa?“ – Die Nase wird schiefrot und zielt auf die Schläfe von Martin.
„Was habe ich mit Larissa zu tun?“ – Straff spannen die zarten Finger Ljowas die Träger, und die weiten Hosen steigen hochwasserhoch:
„Das werden wir sehen!“ – Und der Halter schnalzt auf das Hemd. „Versuchen wir’s einfach!“
Unruhig von Fuß und von Kopf, stehen die zwei vor Larissas Tür, und Ljowa klopft als Erster sachte bis ins Gehör.
„Bitte?“
„Danke.“ – Der Armenier passt zwischen die Tür, Sarodnick in die Angel. „Ich möchte dich zu meinem Jahrestag laden.“
– „Und wer ist noch dabei?“, fragt neugierig das Mädchen.
„Mein Vater, mein Bruder, ich, wie gesagt mein Vater, Martin und du. Alles.“
„Schön. Bis heute Abend!“
Auf der Straße meint Lewon: „Na bitte!“, und ist selbst überrascht.
„Das ist lange aber noch keine Garantie.“
„Aber schon etwas.“ –
„Mein Vater!“ – Er ist das Abbild des Sohnes nur in großem Format, eine Großeinstellung, alles eine Portion weiter, wuchtiger und in Schöpfen gekeilt.
„Ich bin erfreut, dass mein Sohn einen solchen Freund hat.“ Sarodnick aber hatte noch gar nichts gesagt, denn er lauscht der Wohnungsklingel am Pfosten der Tür.
Der Vater bittet ins Zimmer, ins Ein-Zimmer, das er mietet für seinen Sohn. Für den anderen mietet er gleich nebenan. Der Tisch ist gedeckt. Man hat vom schicken Hotel „Budapest“, wo der Vater immer absteigt in Moskau, kommen lassen, was dieser zum Kommen wert hielt. – Die Klingel! Das Herz klopft Sarodnick laut. „Mein Bruder, Aram. Er studiert im MGIMO, wird Diplomat.“ – Nichts geht sich von selbst.
„Einen Kognak? Der beste der Welt.“
„Wir warten noch auf die einzige Dame.“
„Einzigartig! Da lass ich mich überraschen.“
Als dann endlich die Tür sich aufsperrt, ist der Vater der erste bei ihr, und er nimmt Larissa in’ Arm. Seine stattliche Gestalt strebt in die Höhe, und die Augen gleiten ungesehen über das Mädchen. Es ist diese Nie-Gleichgültigkeit, dieses „Zuerst ist man ein Mann“, die Ewig-Erregung des südlichen Herzens vor der gelungenen Form, vor einem Lippenschnitt, der ins Fleisch schneidet und sticht.
„Sie sind die lange Erwartete. Das aber hätte ich bestimmt nicht erwartet: eine Fee aus dem Märchen. Treten Sie ein!“ – Die Söhne, der Freund bleiben im Abseits, sie stauben nur ab.
Das Einhaken des vermeintlichen Vaters erduldend, erzählt sie, erklingt ihre Stimme, zeigt ihren halboffenen Mund, das Schlagen des Pulses auf ihrem so schneeweißen Hals.
Später sitzt man am Tisch zueinander, langt über, nascht von den Bissen und leert die Kognakgläser zum Toast. Mit den Getränken streift die Hemmung sich ab, die Gäste atmen sich frei, reden, erinnern an Nahe, an Ferne, an Freunde. Das wärmste Glas ist für das Mädchen bestimmt:
„Auf die Schönste, die Unnahbarste, die Unberechenbarste – auf die russische Frau!“
„Hast du in Deutschland jemals so ein Mädchen gesehen?“, prahlen die Worte, und Martin versinkt vor Scham in die Erde: „Nein. Ganz ehrlich …“ – Noch einmal schließt der Vater das Mädchen an sich: „Hätte ich Sie doch früher getroffen …!“ – Und ein letztes Mal schwärt ein Funke in ihm. Dann küsst er die Söhne, sagt zu Sarodnick noch:
„Vielleicht besuchen Sie uns demnächst?“ – Es bleibt keine Zeit für die offenen Fragen. Unten fährt das Auto schon vor. Die Kinder sind wieder allein. Endlich, schade, warum eigentlich nicht?
Aram gibt Anekdoten und Halbwahrheiten von seinem Institut für internationale Beziehungen zum Besten: „Eine exquisite Elite wächst bei uns dort hinter dem Zaun.“
„Ausgewählt vom Vater zum Sohn“, bemerkt Sarodnick plötzlich wie aus der Pistole. „Geprüft bis in die Nieren und weiter höher und tiefer auch noch dazu. Ein gutes Gewissen – und kein einziger weißer Fleck darf da sein.“
„Wer da herauskommt, geht in die Annalen der Sowjetunion ein“, verteidigt sich der Armenier.
„In die Parteigeschichte. In die kleinen Geschichten vor allem im Auslandsbüro“‚ kontert ihn Martin bissig. „Er ist der Repräsentant, der nur repräsentiert und belauscht – sonst weiter wohl nichts.“
„Man ist eben UdSSR.“
„Ein Klotz – unbeweglich, unnahbar, hinter dem Zaun –, in die Welt gestampft zum Wohle des Staates, den Zaunpfahl im Auge – je dicker, umso weiter kommt man herum und hinauf.“
„Wenige fangen so an, aber so fängt man gut an.“
„Ausgekocht bis in die Mark geht die Pflicht tief in die Knochen. Für immer – oder für immer vorbei. Aram, du bist die armenische Hoffnung!“ –
„Wir werden von Anfang an schon für bestimmte Länder spezialisiert“, lenkt Aram das Gespräch in geordnete Bahnen. „Ich lerne Türkisch, Persisch, Englisch und ein bisschen Französisch. Die Richtung ist uns natürlich a priori gelegt und der lange Marsch auch noch dazu. – Alle Diplomaten sind grau. Es ist an dir, sich Farbe zu geben.“
„Der Dank schleicht hinter den Hacken – abgelatscht bis zum Wundfuß im Dreck“, sagt Sarodnick wieder sarkastisch, vom Kognak ermutigt. „So lebt man sein Leben ruhig und lange, der Dip-Pass verdeckt das Gesicht.“
„Dafür ist man unter uns und mit uns.“
„‚Unter uns sind wir offiziell. Unter uns muss man sein.‘ – Der Umgang wird dir von oben empfohlen. Der Diplomat brät im eigenen Fett, und das Fett ist Hausmacherkost. Im eigenen Haus aber kocht man nur faul“, widerspricht ihm wieder der Deutsche.
„Man isst eben nicht zu Mittag bei seinen Feinden“, antwortet ärgerlich der Armenier.
„Der Feind ist immer der andere. Für den im Osten – der aus dem Westen, für den im Westen – du und deine Kumpanen. Alle haben schließlich ihre MGIMOs, ihre Gitter, ihre Suppen, ihren Marsch, ihren eigenen Schmalz. Sie sind spezialisiert. Die Spezialisierung ist die Subordination und das Gastrecht missbrauchen. Überall. Der Dip-Pass macht einen legal. Tabu, Taba, Tuba, tutu. In den Häusern mit den fremdländischen Fahnen.“
Witzig wippt die Trikolore am Hosenträger des Jungen. Die Brüder tragen ihn beide – durch dick und durch dünn. Aram ist etwas schmaler geraten. Es weht in seinem Institut schließlich eine andere Kost, und es geht viel sportlicher zu. „Die ‚Marseillaise‘ kann ich sogar im Original singen.“
„Originell“, nickt Martin. „Du fängst sehr gut an.“
„Auf die Franzosen!“, hebt Aram schreiend sein Glas. „Die haben die Hofordnung erfunden“, zelebriert er hoffärtig-höflich und schon ein wenig benommen, „morgen habe ich eine Prüfung, ‚Geschichte des Islam‘. Ich muss mich vorbereiten dazu. Macht’s gut!“ – Er wird sich noch oft vorbereiten müssen dafür,wird noch oft früher gehen müssen als andere.