Kitabı oku: «Öffne mir das Tor zur Welt», sayfa 2

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Ein Ruf aus Alabama

Die Atmosphäre des Dörfchens Brewster am Cape Cod hatte etwas, das Annies natürliche Spannkraft bald wiederherstellte, genau wie Mrs. Hopkins es erhofft hatte. Sie kannte und verstand das Mädchen besser, als Annie ahnte, und wahrscheinlich kam ihr nie wirklich zum Bewusstsein, wie tiefgehend ihre Hausmutter sie beeinflusst hatte.

Sophia Hopkins war in das Perkins-Institut gekommen, weil es ihr größter Wunsch gewesen war, sich ganz und gar für einen Menschen oder eine Sache einzusetzen, etwas zu tun, wozu sie wirklich gebraucht wurde. Ihr Mann, ein Schiffskapitän, war vor Jahren auf einer seiner Fahrten ums Leben gekommen, und ihre geliebte einzige Tochter war vor Kurzem gestorben. Ihre sehr selbstständige und unabhängige Mutter lebte lieber für sich allein, und Sophia war nicht der Mensch, der ein inhaltloses Leben führen konnte. Eines Tages, als sie einige blinde Knaben beobachtete, die am Strand spielten, durchfuhr sie der Gedanke: Hier ist die Aufgabe für mich! Auf ihre Bewerbung hin wurde sie sofort als Gruppenmutter für das Haus engagiert, in dem Annie bereits seit drei Jahren lebte.

In der Schule hatte Annie inzwischen gute Fortschritte gemacht, aber in Bezug auf ihr Gefühlsleben lag noch alles im Argen, sie liebte niemanden und niemand liebte sie. Mrs. Hopkins behandelte alle ihre Mädchen mit gleicher Güte, was ein Grund dafür gewesen sein mochte, dass einige von ihnen sich zu außergewöhnlichen Persönlichkeiten entwickelten. Die kleine Lydia Hayes zum Beispiel wurde Vorsitzende der New Jersey-Kommission für die Blinden. Mrs. Hopkins erkannte sofort, dass sie in Annie Sullivan jemanden gefunden hatte, der sie wirklich brauchte, und so nahm sie das Mädchen unter ihre Fittiche, umsorgte sie liebevoll und wirkte besänftigend auf sie ein, ohne Annies Widerstreben und Eigensinn zu sehr zu beachten. Instinktiv begriff die ältere Frau, dass Annies Ungebärdigkeit und all ihre finsteren Stimmungen nur der Schutzwall waren, den eine verwirrte, verstörte und verschreckte Kinderseele um sich herum errichtete, um keine weiteren Verletzungen zu erleiden; und dass unter all diesen Schichten ein charaktervolles, feinfühliges Wesen darauf wartete, erlöst zu werden. Gerade zu jenem Zeitpunkt war es fraglich, welche Richtung Annies Entwicklung nehmen würde: Würde sie durch ihre Erlebnisse in Tewksbury und die erste schwere Zeit im Perkins-Institut verbittert werden und dauerhaft seelisch geschädigt sein, oder könnte sie gerade aufgrund dieser Erfahrungen ein vertieftes Verständnis für all jene erlangen, die behindert oder krank waren?

«Sie hat die Möglichkeit in sich, eines Tages Großartiges zu leisten», hatte Mrs. Hopkins erklärt, als sie Annie einmal einer Lehrerin gegenüber in Schutz nahm, die über deren unverschämtes Benehmen an einem «Tag der offenen Tür» äußerst aufgebracht war. «Tage der offenen Tür» gehörten zu den Gepflogenheiten des Instituts, Tage, an denen die Schule für Besucher geöffnet war, die nach Belieben von Klassenraum zu Klassenraum wandern und den Unterrichtsbetrieb miterleben konnten. Annie pflegte bei solchen Gelegenheiten häufig aufgerufen zu werden, da ihre raschen, intelligenten Antworten die Wirksamkeit der Perkinsschen Unterrichtsmethode unter Beweis stellten. Aber als an jenem Tag die Lehrerin fragte: «Was war das Beste, das König Johann getan hat?», war Annies lausbübische Antwort: «Das habe ich bisher noch nicht entscheiden können!», und sie weigerte sich hartnäckig, auch nur ein weiteres Wort hinzuzufügen! Kein Wunder, dass die Lehrerin skeptisch war, doch Mrs. Hopkins ließ sich in ihrer Überzeugung nicht beirren.

«Sie hat die Möglichkeit in sich, etwas Großartiges zu leisten», wiederholte sie, «und starke Liebeskräfte – wenn es uns gelingt, an ihr Herz zu rühren.»

So aufsässig und eigenwillig Annie auch war, niemals, ihr ganzes Leben hindurch nicht, war sie unzugänglich gegenüber echter Güte und Zuneigung, und die besaß Mrs. Hopkins in reichem Maße. Noch nie zuvor war Annie geliebt worden, es war eine eigenartige, neue Erfahrung für sie, aber sie freute sich darüber und begann bald selbst, Versuche in dieser Rich-tung zu machen. Sie führte die kleineren blinden Mädchen spazieren, geleitete sie sonntags zur Kirche, half ihnen bei ihren Hausaufgaben und tröstete die Heimwehkranken und Einsamen. Einsamkeit war ja für Annie nichts Unbekanntes! Vielleicht war es in jener Zeit, dass ihre Freundschaft mit Laura Bridgman begann.

Als die Schule im Sommer 1884 ihre Tore schloss, lud Mrs. Hopkins Annie zum ersten Mal ein, die Ferien bei ihr und ihrer Mutter in deren Haus in Brewster zu verbringen. Nie vergaß Annie die jähe, überwältigende Freude, von der sie ergriffen wurde. Bisher hatte man sie im Sommer irgendwo hingeschickt, wo sie für ihren Unterhalt arbeiten musste; und nun eine richtige Einladung – jemand, der sie wirklich bei sich haben wollte!

Und dann Brewster! Bereits in den ersten zwei Wochen verliebte sie sich in den Ort. Der weit geschwungene Horizont; die heimeligen hübschen Häuser, so anders als die massigen, düster aussehenden Gebäude in Boston; die schmalen, gewundenen, sandbedeckten Wege; die duftenden, weiten Felder; die langen, goldenen Sandstrände, auf denen hie und da kleine Büschel steifen Strandhafers wuchsen – alles das ließ Brewster zu einem Ort werden, der Annies leidenschaftliches Sehnen nach Schönheit befriedigte.

Und die Menschen – auch sie stillten eine Sehnsucht in ihr, diese Menschen mit ihrem ruhigen Selbstvertrauen, ihrer tatkräftigen Einstellung zum Leben und ihrem oft unerwarteten, verborgenen Humor. Nie zuvor hatte sie unter völlig normalen Menschen gelebt, die sie ganz selbstverständlich in ihrer Mitte aufnahmen, und so wurde jeder Tag, den sie in Brewster verbrachte, zu einer Quelle reinster Freude für sie.

Auch das Haus Crocker trug zu ihrem Entzücken bei. Mrs. Hopkins’ Vater war, wie schon ihr Mann, Schiffskapitän gewesen, und das ganze kleine Haus, vor allem aber das Wohnzimmer, waren zum Bersten angefüllt mit Andenken, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte. Staubwischen zählte nie zu Annies Lieblingsbeschäftigungen, aber in diesem Wohnzimmer abzustauben, dazu war sie jederzeit nur zu gern bereit. Jede Möglichkeit, das Crockersche Wohnzimmer zu betreten, war wie eine Belohnung!

Annie fühlte jedes Mal eine leise Scheu, wenn sie über die Schwelle dieses Zimmers trat. Zunächst lief sie sorgsam und vorsichtig über den kostbaren Teppich (Teppiche oder Läufer gab es in der Schule nicht), ging zum Fenster, um einige Schlitze des Fensterladens zu öffnen, dann aber geradewegs zu der Etagere, die ihre Lieblingsschätze enthielt: chinesische Porzellanfiguren, zierliche Spieluhren und Elefanten aus glatt poliertem Elfenbein. Von alledem war sie wie verzaubert. An einer anderen Stelle des Zimmers befand sich ein Meer von blauem Porzellan aus Holland, auf dessen einzelnen Teilen man Abbildungen eines Hafens und einer Stadt betrachten konnte, und vorzüglich gearbeitete silberne Kelche aus Portugal sowie ein wunderbarer Kronleuchter. Annies allerliebste Stücke aber standen auf dem Kaminsims: zwei zierliche Porzellanpuppen, die beide einen mit Früchten und Blumen gefüllten Korb trugen. Jedes andere Mädchen hätte von Tante Crocker ermahnt werden müssen, diese Kostbarkeiten nicht unachtsam oder unnötig zu berühren, aber für Annie Sullivan war das bloße Sehenkönnen noch ein solches Wunder, dass es ihr völlig genügte, nur dazustehen und ihre Augen an diesen Schätzen zu weiden. Und wenn sie sie tatsächlich abstaubte, dann berührte sie sie mit der Behutsamkeit eines blinden Kindes, das sie einst gewesen war.

Ihre Eigenwilligkeit aber verlor Annie auch in Brewster nicht. Kurz nach ihrer Ankunft hatte Mrs. Hopkins ihr einen schmalen Pfad gezeigt und ihr gesagt, dass er zu einer schmutzigen Höhle führe, in der ein verrückter alter Einsiedler hause. Diese Ermahnung hätte genügt, um jedes andere fügsame und wohlerzogene Mädchen von jenem Pfad fernzuhalten, aber Fügsamkeit und Vorsicht waren Annies Stärke nicht. Von Neugier wie verhext, folgte sie sobald als möglich diesem Pfad, der sich durch hohes, stacheliges Gras wand, bis er schließlich am glatten Strand einer weit geschwungenen Bucht endete. Dort erblickte sie einen sonderbaren Holzschuppen und einen alten, sehr gepflegten Mann, der sie an Rip van Winkle erinnerte. «Hallo», sagte Annie so lässig wie möglich. Aus seinem Dösen aufgeschreckt, war der Alte nicht gerade überschwänglich herzlich. Er warf ihr einen finsteren Blick zu und erklärte, dass er keinen Besuch brauche und Gesellschaft verabscheue – besonders «Weibervolk». Aber vielleicht spürte er ihre unkomplizierte, aufrichtige Unerschrockenheit, denn er brummte etwas vor sich hin und forderte sie schließlich auf, sich zu setzen. Unter seinen struppigen, grauen Augenbrauen betrachtete er sie neugierig.

«Hast du denn keine Angst vor mir?»

Annie schüttelte den Kopf. «Nein, jetzt nicht mehr, nur zuerst. Aber Sie sind ja gar nicht verrückt.»

«Na so was, besten Dank!» Der Alte machte eine Verbeugung. «Ich weiß zwar nicht, woher du das wissen willst, aber es stimmt schon. Du hast mehr Grips als die anderen. Du bist wohl nicht aus Brewster?»

Annie bekannte, dass das nicht der Fall sei, und der Alte kicherte befriedigt. «’türlich nich’! Hast zu viel Grips!»

Er bot einen malerischen Anblick in seinem verblichenen blauen Overall, mit einem Kranz feiner Falten um seine blauen Augen, dem schneeweißen Bart und nackten, braun gebrannten Füßen. Annies freimütige Bemerkung schien ihn für sie eingenommen zu haben, denn als sie sich verabschiedete, forderte er sie geradezu herzlich auf wiederzukommen.

Und das tat sie. Irgendwie gelang es ihr, Mrs. Hopkins zu überzeugen, dass der Alte zweifellos ein Einsiedler und etwas sonderbar, aber ganz gewiss nicht verrückt sei.

Also durfte Annie trotz Tante Crockers klar und deutlich geäußerter Missbilligung den «Einsiedler von Brewster» besuchen, und nicht nur einmal, sondern viele Male während dieses und des nächsten Sommers. So entwickelte sich eine Freundschaft, an die Annie ihr ganzes Leben dachte – eine Freundschaft zwischen dem jungen Mädchen und dem alten Mann, der wahrscheinlich einsamer war, als er zugeben mochte. Er erzählte ihr Geschichten aus den Tagen seines abenteuerlichen Lebens als Seemann, doch der Frage nach seinem Namen wich er immer aus. Schließlich nannte Annie ihn «Captain Dad», und er sagte «Tochter» zu ihr. Er erwies ihr die Ehre, sie in seinem kleinen Boot mit hinaus aufs Meer zu nehmen, entweder zum Fischen oder um die Felsenhöhlen der Steilküste zu erforschen. Aber das Bild, das ihr am lebhaftesten in Erinnerung blieb, war das von Captain Dad mit seinen «Freunden».

Sie war neugierig, warum jemand, der so intelligent, wach und humorvoll war wie Captain Dad, durchaus als Einsiedler leben wollte. Das fragte sie ihn eines Tages ganz offen. Captain Dad brummte: «Zu viel Geschwätz überall. Zu viele Leute. Weibervolk!» Angewidert stieß er das letzte Wort hervor.

«Aber fühlen Sie sich denn nie einsam?», bohrte das Mädchen weiter. «Brauchen Sie denn keine Freunde?»

«Hab Freunde. Viele. Die haben Federn. Und sind nich’ unzuverlässig wie die menschlichen Freunde. Sind sie nich’, danke! Kommen immer, wenn ich’s will. Brauch’ nur rufen – und sie kommen.»

Annie fühlte, wie ihr Herz vor Aufregung heftig klopfte. Sie ahnte, dass das etwas Einzigartiges sein musste. Eifrig beugte sie sich vor. «Oh, bitte, ich möchte sie sehen, Captain Dad! Können Sie sie nicht mal rufen, wenn ich hier bin?»

Entschieden schüttelte der Alte seinen weißen Kopf. «Nein, sie würden sich vor dir fürchten! Sie sind nich’ an Besuch gewöhnt, vor allem nich’ an Weibervolk. Sie würden sich vor dir zu Tode fürchten!»

«Woher wollen Sie das denn wissen?», fuhr Annie auf, «die haben mich doch noch nie gesehen?»

Captain Dad zog an seiner Pfeife und blickte sie grimmig an. Dann blinzelte er nachdenklich zum Himmel und lachte leise. Wahrscheinlich imponierte ihm ihre Beherztheit, und sie war so ein reizendes kleines Ding, wie sie da auf dem Sand saß mit ihrem vor Eifer leuchtenden Gesicht. Er klopfte seine Pfeife an der hölzernen Bank aus und stand auf.

«Bleib ganz still sitzen, hörst du, was auch immer geschieht. So wie wenn wir fischen!» Annie nickte stumm, ihr Kinn auf die Hände gestützt. Der Alte verschwand in seinem Schuppen und tauchte mit einem Eimer auf, in dem, wie er sagte, «Leckerbissen für seine Freunde» waren, und die bestanden aus Seetang, grobem Mehl und Fisch. Annie erzählte später, wie er dann «seltsam gurrende Laute von sich gab, erstaunlich laut, aber nicht misstönend». Captain Dad brauchte nicht zu befürchten, dass sie sich bewegen würde, denn Annie saß da wie gebannt und beobachtete fasziniert, wie schon beim ersten Laut Tausende von Möwen aus allen Richtungen erschienen, wie sie über ihm ihre Kreise zogen, sich drehten und wendeten, herabstießen und ihm mit ihrem hohen, schrillen Geschrei antworteten; immer weitere kamen herbei, sie ließen sich auf seinem Kopf, seinen Händen, seinen Schultern nieder und suchten seine Aufmerksamkeit zu erringen.

«Wie viele mögen das wohl sein?», flüsterte Annie vor sich hin. Es schien, als seien es viele Tausende. Der ganze Strand war dunkel von ihnen. Captain Dad redete mit ihnen, schalt sie, wenn sie zu gierig waren, und ermunterte die kleineren und schwächeren Möwen, bis schließlich das ausgestreute Futter aufgepickt war und auch die letzte Möwe zögernd ihre Schwingen ausbreitete und über das Meer davonflog.

Noch einige Male danach war es Annie vergönnt, dieses Schauspiel zu sehen, und jedes Mal war sie ergriffen von der Schönheit und Majestät des Anblicks.

Wie Glanzlichter hoben sich die Nachmittage, die Annie mit Captain Dad verbrachte, aus ihren Ferien heraus, obwohl alles, was mit Brewster zusammenhing, sich tief in ihr Herz eingeprägt hatte.

Und dies war nun ihr dritter (und vielleicht letzter!) Sommer am Cape. Als sie eines Nachmittags im August nach ihrem einsamen Bad eilig den Strand entlanglief, wurde sich Annie klar darüber, dass ihr gerade in diesem Jahr der Aufenthalt hier besonders gut getan hatte. Brewster war ein sehr heilsamer Ort für jemanden, dessen Gemüt ein einziges wirres Knäuel aus Fragen und Zweifeln, Furcht und Ehrgeiz darstellte. Nicht dass sie eine Antwort gefunden hätte auf die Frage, was sie tun könnte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber ihre Gedanken wirbelten nicht mehr wie in einem Kaleidoskop herum; es fiel ihr leichter, Mut zu fassen und ihre Gedanken in den Griff zu bekommen, besonders hier am Meeresstrand.

Das Meer! Sie fühlte sich dieser Naturgewalt verwandt, die immer in Bewegung war, immer ruhelos, immer von Neuem schön. Sie betrachtete das Gekräusel der Brandungswellen mit ihrem ständig aufgischtenden weißen Schaum und ließ ihren Blick über die weite, grenzenlose Bläue schweifen. Das Meer in seinen Stimmungen war wie sie, manchmal fröhlich, manchmal sanft und dann wieder grau und von erbarmungslosem Zorn. Und wie herrlich war es, die Wogen an ihren Körper branden zu spüren! Das verlieh ihr wie sonst nichts ein Gefühl von Stärke und Selbstvertrauen.

Und starken Mut und Selbstvertrauen hatte sie jetzt nötig, wenn sie daran dachte, dass zwar das Ende des Augusts in Sicht war, nicht aber eine Lösung für Annie Sullivans Zukunft!

Oh, sie hatte «verschiedene Fische am Köder», wie Captain Dad es genannt hätte. Einer der Lehrer von Perkins hatte geschrieben, er habe von einer Dame gehört, die vielleicht ein Kindermädchen für ihre zwei Kinder brauche, aber das war ganz unsicher. Jemand anderes hatte gehört, dass ein Bostoner Hotel eine Tellerwäscherin suche – bei dem Gedanken daran schüttelte sich Annie! Miss Mary Moore schrieb, dass sie hoffte, Annie könne sich dazu entschließen, Lehrerin an einer normalen Schule zu werden; und Mr. Anagnos hatte hinzugefügt, er wolle versuchen, für diese Ausbildung eine finanzielle Unterstützung zu bekommen. Annie verabscheute die Vorstellung, ihr ganzes Leben ABC-Schützen zu unterrichten, und der Gedanke, Geld borgen zu müssen, war ihr verhasst. Sie hatte schon daran gedacht, von Haus zu Haus zu gehen und Bücher zu verkaufen, aber eine ihrer Mitschülerinnen, die das versucht hatte, überzeugte sie davon, dass dies das Schlimmste sei, was man tun könnte.

Es war ein sehr ernüchtertes Mädchen, das da durch den Garten auf Tante Crockers Haus zuging. Mrs. Hopkins rief ihr von der Küche her zu:

«Hier ist ein Brief für dich, Annie. Ich habe ihn auf den Schreibtisch gelegt. Von Mr. Anagnos.»

Ein Brief von Mr. Anagnos? Aus einem ihr nicht erklärlichen Grund zitterten ihre Hände, als sie den ungewöhnlich dicken Umschlag erblickte. Mit unbeholfenen Fingern öffnete sie den Brief. Zwei weitere Umschläge fielen heraus, die, wie sie sah, an Mr. Anagnos adressiert waren. Endlich gelang es ihr, den beigefügten einzelnen Bogen zu entfalten, aber vor Aufregung konnte sie nur verschwommen sehen, sodass ein paar Minuten vergingen, ehe sie in der Lage war, ihn zu lesen. Ihr Atem flog.

26. August 1886

«Meine liebe Annie,

bitte lies die beiden beiliegenden Briefe sehr sorgfältig und lass mich sobald wie möglich wissen, ob du geneigt bist, das Angebot der Familie Keller, als Erzieherin ihrer kleinen taubstummen und blinden Tochter zu kommen, wohlwollend in Erwägung zu ziehen. Über Ruf und Vertrauenswürdigkeit des Mannes ist mir nichts Weiteres bekannt, als was er selbst von sich schreibt: Aber wenn du dich entschließen würdest, dich um diese Stellung zu bewerben, wird es ein Leichtes sein, nähere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen.

Ich bin, liebe Annie, mit freundlichen Empfehlungen an Mrs. Hopkins,

und besten Grüßen,

M. Anagnos»

Annies Herz schlug wie ein Hammer. Ihre Finger fühlten sich taub an, als sie die beiden Briefe in der Hand hielt, die unterzeichnet waren mit «Arthur Keller, Tuscumbia, Alabama». Sie las sie zweimal. Und als sie sie wieder in die Umschläge steckte, waren die Ängste, die sie seit dem Juni niedergedrückt hatten, und die innere Last verschwunden. Annie hatte ihre Lebensaufgabe gefunden.

Hier kam etwas Neues auf sie zu, etwas Andersartiges, eine Herausforderung!

Aufgeregt wirbelte Annie durch das Haus, in die Küche und in die Arme von Mrs. Hopkins. Sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nur den Brief von Mr. Anagnos vor Mrs. Hopkins’ erstaunte Augen halten. Dann plötzlich lachten und weinten beide gleichzeitig, und Annie sagte immer wieder und wieder: «Das ist etwas, was ich tun kann. Ich weiß, dass ich das kann. Ich weiß es.»

Die Reise nach Tuscumbia

So angestrengt sie auch umherspähte, Annies kurzsichtige Augen konnten Mr. Anagnos’ freundliches, bärtiges Antlitz oder Mrs. Hopkins’ flatterndes Taschentuch inmitten der vielen verschwimmenden Gesichter, die sich da auf dem schneebedeckten Bostoner Bahnsteig befanden, nicht ausmachen; aber sie wusste, dass sie noch da waren und warten würden, bis der Zug abfuhr. Fest umklammerte sie die Armlehnen ihres roten Plüschsitzes und wehrte sich mit aller Gewalt gegen den schier unwiderstehlichen Drang aufzuspringen, durch den Wagen zu eilen, die Trittbretter hinunterzuspringen und zu rufen: «Wartet! Wartet doch! Ich will nicht nach Alabama! Bitte helft mir doch, etwas in Boston zu finden!»

Und dann ruckte der Zug an, und der erste Abschnitt von Annies langer Reise, die sie ihrem Schicksal entgegentrug, hatte begonnen. Plötzlich erschauerte sie trotz ihrer dicken grauen Wollkleidung. Alle Mädchen ihrer Gruppe sowie die gesamte Lehrerschaft hatten sich heute Morgen um sie gedrängt, hatten ihren Mut bewundert und das Abenteuer bestaunt, das vor ihr lag, ebenso wie das – wie Mr. Anagnos sagte – «großzügige Gehalt», das sie bekommen würde, ganze fünfundzwanzig Dollar im Monat! Und Annie hatte mitten unter ihnen gestanden, in ihren neuen grauen Kleidern, mit leuchtend roten Bändern an der grauen Haube, und hatte aufgeregt gelacht. Eine strahlende Vision schwebte vor ihr: Annie Sullivan, die tapfere, junge Kreuzfahrerin, die auszieht, um ein scheues, ängstliches kleines Mädchen aus dem Kerker seines tauben und blinden Daseins, aus seiner Unwissenheit zu befreien. Und dieses strahlende Bild hatte sie weiter vor Augen, während Mrs. Hopkins sie zum Fahrkartenschalter begleitete, um ihr beim Kauf der verwirrend großen Anzahl von Fahrscheinen nach Tuscumbia, Alabama, zu helfen, und Mr. Anagnos den geheimnisvollen Vorgang der Gepäckaufgabe überwachte.

Diese Vision dauerte an, bis sie ihren Platz eingenommen hatte und der Augenblick des Abschieds von den beiden Menschen gekommen war, die Annie die erste Freundlichkeit erwiesen hatten, die ihr in dieser Welt widerfahren war. Dann aber begann Mrs. Hopkins zu weinen, als sie das Mädchen umarmte, und Mr. Anagnos’ Stimme wurde plötzlich verdächtig heiser.

In diesem Moment erst kam ihr zu Bewusstsein, dass sie ja wegging! – über tausend Meilen weit weg von allem, was sie kannte – und dass sie darüber hinaus noch das kühne Versprechen gegeben hatte, etwas in Angriff zu nehmen, was bisher überhaupt nur ein- oder zweimal gelungen war: das innere Wesen eines Kindes zu erreichen, ihm die Welt zu erschließen, von der es durch seine Augen und Ohren keine Eindrücke empfangen konnte. Hätte ihr in diesem Augenblick die Stimme gehorcht, so hätte sie gefleht: «Lasst mich zurückkommen!», aber sie konnte kein Wort hervorbringen. Und Mrs. Hopkins und der Direktor waren verschwunden, noch ehe sie ihre Tränen zurückdrängen konnte. Jetzt blieb ihr nichts weiter übrig, als sich an dem steifen Plüsch festzuhalten und zuzusehen, wie die vertraute Stadt Boston an den Wagenfenstern vorbeiglitt.

Verschwunden war der Traum von einem glanzvollen Abenteuer, das sie in die Ferne lockte, verschwunden auch die hochfliegende Überzeugung, dass sie ihre wahre Aufgabe gefunden habe. An diese Überzeugung hatte sie sich geklammert seit jenem Augustnachmittag im letzten Sommer, an dem sie den Brief von Mr. Anagnos erhalten hatte. Der Überschwang allerdings, mit dem sie ausgerufen hatte: «Ich weiß, ich kann das tun!», war so rasch verschwunden, wie er gekommen war. Annies scharfer Verstand ließ sie durchaus klar sehen, dass ihre Vertrautheit und ihre Freundschaft mit Laura Bridgman, die ihr in vieler Hinsicht für ihre Aufgabe bei Kellers zugute kommen mochte, sie noch lange nicht dazu befähigten, ein Kind wie die kleine Helen Keller zu erziehen.

Schön und gut – sie konnte zwar Laura Bridgman in die Hand buchstabieren und ihre Fingersprache verstehen, wie aber musste man vorgehen bei einem Kind, das zunächst einmal in einer dunklen, lautlosen Welt gefangen war? Und doch hatte sie es nicht gewagt, diese Chance ungenützt verstreichen zu lassen. Annie dachte daran, wie sie in jener warmen Augustnacht wach gelegen und sich den Kopf zerbrochen hatte, auf welche Weise sie sich für diese Aufgabe vorbereiten könnte. Bis ihr plötzlich eingefallen war, wie ihre Lehrer voller Bewunderung von den erstaunlich genauen Berichten und Aufzeichnungen gesprochen hatten, die Dr. Samuel Howe und seine Assistenten über ihre Unterrichtserfahrungen bei den Schülern der Blindenschule, insbesondere bei Laura Bridgman, geführt hatten … Die Berichte! Das war der Schlüssel! Aus ihnen würde sie bestimmt erfahren, was sie wissen müsste.

Annie hatte Mr. Anagnos in einem begeisterten Brief geantwortet – gewiss würde sie die Stellung bei den Kellers gerne in Betracht ziehen, doch habe sie den Eindruck, für diese Aufgabe zurzeit noch nicht genügend qualifiziert zu sein. Ob der Vorstand des Perkins-Instituts ihr wohl gestattete zurückzukommen, um sich durch das Studium der Berichte über Laura Bridgmans Unterricht auf ihre Arbeit vorzubereiten?

Der Vorstand des Instituts war einverstanden. So kehrte Annie im September noch einmal in das altvertraute Haus von Mrs. Hopkins zurück. Alle waren über diese Neuigkeit begeistert. Die Lehrer freuten sich mit ihr und waren sehr entgegenkommend. Ergreifend und schmerzlich zugleich war es, Laura Bridgman zu sehen, die vor Freude geradezu bebte und Annie immer wieder umarmte und küsste.

«Du musst dem lieben kleinen Mädchen vieles beibringen», buchstabierte sie eifrig, «vor allem aber, gut und gehorsam zu sein!»

Die Mädchen ihrer Gruppe waren begeistert. Ein echtes Abenteuer war das, und ihre Annie die Heldin darin – nach Alabama zu reisen, so weit weg! Und so eine hervorragende Stellung!

Annie selbst widmete sich ausschließlich dem Studium der Berichte und Aufzeichnungen von Dr. Howe und der anderen Lehrer, die Laura unterrichtet hatten. Sie versuchte, sich ein Bild zu machen von der Laura, die man 1837 in das Perkins-Institut gebracht hatte, «ein schlankes, zartes, bewegliches Kind», das in Verwirrung geraten war durch den raschen Wechsel seiner Umgebung: Aus einem kleinen, gemütlichen Farmhaus in New Hampshire in das weitläufige, große Gebäude, in dem die Schule zunächst untergebracht war. Sie versuchte, sich den eifrigen und schmächtigen jungen Dr. Howe, den ersten Direktor, vorzustellen, wie er geduldig mit dem Kind gearbeitet hatte: Zunächst klebte er Schildchen mit erhaben geprägten Buchstaben (Laura hatte nie die Brailleschrift gelernt – d.h. die Blindenschrift, bestehend aus einem Zeichensystem von Punkten, die in dickes Papier geprägt werden und durch Abtasten gelesen werden können) auf einzelne Gegenstände, z.B. einen Schlüssel, einen Löffel, ein Buch. Dann tat er die verschiedenen Schildchen in eine Schachtel und gab ihr einen Schlüssel, einen Löffel, ein Buch in die Hand. Sie musste nun die verschiedenen Gegenstände und die entsprechenden Schildchen befühlen. Das dauerte viele Wochen, aber schließlich blitzte der Gedanke in ihr auf, dass die Buchstaben «k–e–y» «key» (Schlüssel) und «b–o–o–k» «book» (Buch) bedeuteten und dass dies auch für alles andere zutraf. Jedes Ding hatte seinen Namen. Endlich veranlasste Dr. Howe eine der Lehrerinnen, das Taubstummen-Alphabet zu lernen, das sie dann Laura beibrachte, indem sie dem Kind die Buchstaben in die Hand buchstabierte.

Das war nicht leicht – keiner dieser Lernschritte war leicht oder einfach –, aber unmöglich war es nicht. Es bedeutete schwere, harte Arbeit, aber Annie Sullivan scheute keine harte Arbeit.

Allein das Lesen der Berichte war für Annie Sullivan mit großer Mühe verbunden. Ein anderer hätte dieses Pensum vielleicht in einem Drittel der Zeit bewältigt. Annies Augen aber rächten sich, wenn sie ohne Pause so viel wie jemand mit normalen Augen las. Nach einem Tag konzentrierten Lesens schmerzten Augen und Kopf, und sie war erschöpft. Sie brauchte sechs Monate, um den Berichten alles das zu entnehmen, was sie zu benötigen glaubte. Während der Lesepausen, die sie einlegen musste, um ihre Augen zu schonen, versuchte sie, einen ungefähren Lehrplan für Helen zu entwerfen, und sammelte einiges Unterrichtsmaterial: drei Lesebücher mit erhabenen Buchstaben, eine Tafel in Brailleschrift, ein paar durchstochene Karten zum Sticken und einige Schachteln mit Holz- und Glasperlen.

Auch die kleineren Kinder der Gruppe wollten teilhaben an dem Abenteuer. «Wir könnten eine Puppe für Miss Annie kaufen, die sie Helen mitbringen kann!», schlug eines von ihnen vor.

«Und wir wollen Miss Laura bitten, Kleider für sie zu nähen!», fügte Lydia begeistert hinzu. Annie war fast zu Tränen gerührt, als die kleinen Mädchen – und Laura – sich um sie scharten und ihr voller Freude ihr Geschenk überreichten. Es war eine wirklich wunderschöne Puppe, erworben mit vielen einzelnen Pennies aus vielen kleinen Sparbüchsen, und sicher gab es keine Puppe mit einer großartigeren Garderobe! Denn Laura Bridgmans Handarbeiten waren Kunstwerke, und diese Puppenkleider hatte sie mit besonderer Liebe und Sorgfalt angefertigt.

«‹Puppe› ist bestimmt das erste Wort, das ich Helen vorbuchstabieren werde», hatte Annie ihnen versprochen.

Sie waren alle so gut zu ihr gewesen. Mr. Anagnos hatte ihr Geld für die Fahrkarte geliehen und ihr einen Granatring geschenkt, und die liebe Mrs. Hopkins hatte angeboten, ihre Kleider für sie zu richten und zu packen.

«Du brauchst dir wegen deiner Garderobe keine Sorgen zu machen, Liebes», hatte sie dem Mädchen versichert. «Ich habe das lavendelblaue Kleid, das ich selbst in deinem Alter trug, für dich geändert, du hast dein Festkleid von der Abschlussfeier – die genügen als Sonntagskleider im Sommer –, und ich habe dafür gesorgt, dass alles andere aus gutem, warmem, solidem Wollzeug ist!»

Welch eine Garderobe für ein Mädchen, das sich im Frühling auf die Reise in den warmen Süden begibt!

Schließlich hatte man, nach schier endlosen letzten Erledigungen, die Kellers von ihrer Ankunft benachrichtigt, und nun saß eine von Panik geschüttelte Annie Sullivan in dem Zug, der sie an diesem Montagmorgen, am 1. März 1887, unerbittlich von Boston forttrug.

Das grelle Licht der Sonne auf dem weiß gleißenden Schnee sowie die rasch wechselnde Szenerie blendeten Annie derart, dass ihre Augen heftig zu schmerzen begannen und sie sie schließen musste. Das Kinn in die Hand gestützt, gab sie sich den Anschein, zum Fenster hinauszublicken – eine Dame konnte nicht gut am frühen Morgen den Eindruck erwecken zu schlafen! Wahrscheinlich rührten die Schmerzen daher, dass ihre Augen seit der letzten Operation noch nicht ganz verheilt waren. Sie hatte in der letzten Zeit solche Beschwerden mit den Augen gehabt, dass Mr. Anagnos darauf bestanden hatte, sie müsse vor ihrer Abreise in den Süden noch Dr. Bradford konsultieren, und so war sie erst vor wenigen Tagen noch einmal operiert worden. Vielleicht hätte sie die Abreise noch verschieben sollen, aber es hatte sich nur um eine kleinere Operation gehandelt, und die Kellers hatten nun schon so lange und geduldig auf sie gewartet.

Wie gut sie alle zu ihr gewesen waren – die Lehrer, Mr. Anagnos, die liebe Mrs. Hopkins, Dr. Bradford, die Kellers; und sie saß doch auch endlich in dem Zug, der sie ihrem ersehnten Ziel – einer gesicherten Stellung – entgegentrug: Warum nur schwanden ihr mit jeder Umdrehung der Räder mehr ihr Selbstvertrauen, ihr Mut, ihr Ehrgeiz?

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