Kitabı oku: «Öffne mir das Tor zur Welt», sayfa 3

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Der Montag war ein entsetzlicher Tag, und in der Nacht fiel auch noch so viel Schnee, dass der Zug am nächsten Morgen mit zwei Stunden Verspätung in Philadelphia ankam. Steif und müde von der langen Fahrt, konnte sie an nichts Gefallen finden. «Philadelphia sieht wie ein riesiger Friedhof aus», schrieb sie an Mrs. Hopkins. Sie musste dort umsteigen, und als sie schließlich in Baltimore ankam, schien die Sonne, und das Wetter war so mild, dass ihre warme Kleidung eine einzige Qual bedeutete.

Auch am Dienstag und Mittwoch war sie in einer jämmerlichen Verfassung.

«Der Mann, der uns diese Fahrkarte verkauft hat, sollte gehängt werden», beklagte sie sich in einem Brief an Mrs. Hopkins, «und ich wäre bereit, den Henker zu spielen. Ich musste viele Male umsteigen, in Lynchburg, Roanoke, Chattanooga und Knoxville.

Unsere erste Station war Lynchburg, ein schäbiger, schmutziger und abscheulicher Ort.»

Und was würde sie in Tuscumbia erwarten? Ob Helen Keller wohl ein hässliches Kind war? Annie verabscheute Hässlichkeit. Ob die Krankheit, durch die sie blind und taub geworden war, auch ihr Gehirn geschädigt hatte? Wie lange würde es dauern, bis das Kind überhaupt reagierte? Wie viel man ihm wohl beibringen konnte? Es waren keine freudigen Gedanken, die Annie Sullivan auf ihrer Reise bewegten. Schließlich verließ sie ihr Mut gänzlich, und sie weinte so verzweifelt, dass ein gutmütiger Schaffner sie besorgt fragte, ob «ihre Leute» gestorben seien, und sie mit Butterbrot und Pfefferminztee zu trösten suchte.

Es war am Mittwochabend um achtzehn Uhr dreißig, als diese trostlose Reise ein Ende fand und Annie mit steifen, verkrampften Gliedern und vor Müdigkeit zitternd auf dem kleinen ländlichen Bahnhof ausstieg. Das also war Tuscumbia, Alabama. Noch ehe ihre übermüdeten Augen irgendetwas erkennen konnten, trat ein junger Mann auf sie zu und nahm höflich den Hut ab.

«Miss Sullivan?» Die gedehnte Sprechweise des Südstaatlers klang fremd in ihren Ohren. «Ich bin James Keller. Geben Sie mir bitte Ihren Koffer. Meine Stiefmutter wartet im Wagen. Wenn Sie so gut sein wollen, hier entlangzukommen …»

Plötzlich schien sie keine Luft mehr zu bekommen, und mechanisch ging sie neben ihm her. Aber als sie der erstaunlich jungen Frau ansichtig wurde, die sich ihr gespannt entgegenneigte, «fiel ein großer Stein von meinem Herzen», bekannte Annie später, «so viel Herzensgüte und Vornehmheit strahlten von ihr aus».

Sollte Kate Keller befremdet oder enttäuscht gewesen sein beim Anblick des hilflos aussehenden, verschwitzten jungen Mädchens mit den verschwollenen Augen, so ließ sie es sich nicht anmerken und erwähnte es nie. Mit herzgewinnendem Lächeln und echter Wärme hieß sie Annie willkommen.

«Wir sind so glücklich, dass Sie endlich bei uns sind, Miss Sullivan! Während der letzten beiden Tage sind wir zu jedem Zug gekommen.»

Als Annie sich in die weichen Kissen zurücklehnte, ließ ihre Anspannung allmählich nach. Die Landstraße, die sie entlangfuhren, war mit blühenden Obstbäumen gesäumt, und über den Feldern lag der kräftige Geruch frisch gepflügter Erde. Nach der langen Reise in dem stickigen, schmutzigen Zug erschien Tuscumbia ihr wie der Himmel auf Erden – ein guter, ein wohltuender Ort, an dem sie ihre Lebensaufgabe beginnen konnte. Die Fahrt durch die Dämmerung des Frühlingsabends besänfigte ihre Nerven, aber als Mrs. Keller auf ein Gebäude zeigte, das am Ende einer langen, schmalen, von Hecken gesäumten Zufahrt nur undeutlich zu erkennen war und dabei sagte: «Miss Sullivan, das ist unser Haus», wurde sie von einer derartigen Aufregung ergriffen, dass ihr Körper sich wie eine zu straff angezogene Saite spannte. Am liebsten wäre sie aus dem Wagen gesprungen, um das gemächlich dahintrottende Pferd anzutreiben. Wie konnte Mrs. Keller nur ein solch langsames Tier aushalten?

Captain Arthur Keller stand bereits wartend im Hof, half ihr aus dem Wagen und drückte ihr herzlich die Hand. «Willkommen – willkommen!»

Es war sicher recht unhöflich, aber Annies Gedanken waren nur auf einen einzigen Menschen konzentriert. «Wo ist Helen?», fragte sie atemlos.

Captain Keller deutete auf die in der Abenddämmerung liegende Veranda. «Dort. Sie weiß schon den ganzen Tag, dass wir jemanden erwarten.»

Annie schritt auf die Veranda zu. Sie konnte ihr Zittern kaum noch beherrschen. Ihr Atem kam in kurzen Stößen. Am Fuß der Treppe hielt sie inne und wagte nicht aufzuschauen. Bitte, lass sie nicht hässlich sein!, betete sie leidenschaftlich. Oh, bitte, lass sie nicht hässlich oder schwachsinnig sein! Und dann blickte sie auf.

Das Kind, das in der erleuchteten Tür stand, hatte ein schmutziges Hängerkleidchen an und wirres braunes Haar. Man sah sofort, dass es blind war. Hässlich war die kleine Helen keineswegs, und obwohl ihrem Gesicht etwas fehlte – Beweglichkeit, Seele –, merkte Annie doch sofort, dass sie intelligent war. Annie atmete tief aus und setzte ihren Fuß auf die unterste Treppenstufe. Als das Kind die Vibration wahrnahm, stürzte es sofort auf sie zu und hätte Annie umgerissen, wenn Captain Keller sie nicht aufgefangen hätte. Eifrig forschende Hände befühlten Annies Gesicht und Kleid und fanden schließlich ihre Handtasche. Annie überließ sie ihr, gespannt, ob sie wohl begriff, was sie da hatte. Das war offensichtlich der Fall, denn sie versuchte, die Tasche zu öffnen. Als sie merkte, dass sie verschlossen war, untersuchte sie sie sorgfältig, um herauszufinden, ob es ein Schlüsselloch gab, und nachdem sie dieses entdeckt hatte, zupfte sie an Annies Ärmel und deutete mit der Hand das Umdrehen eines Schlüssels an. Vor Freude und Erleichterung lachte Annie laut auf. Nein, Helen Keller war gewiss nicht schwachsinnig.

«Sie muss sehr intelligent sein! Das war sehr schlau von ihr.»

«Glauben Sie das wirklich?» Mrs. Kellers Stimme klang wehmütig. Sie griff nach der Tasche und versuchte, sie dem kleinen Mädchen zu entwinden. Sofort lief das Gesicht des Kindes dunkelrot an, es stampfte zornig mit den Füßen und wand und krümmte sich. Annie griff vermittelnd ein, hielt Helen ihre Uhr hin und lenkte dadurch ihre Aufmerksamkeit ab. Der Sturm legte sich. Annie hatte ihre erste Eroberung gemacht.

Zusammen betraten sie das Haus, und Mrs. Keller führte Annie die Treppen hinauf in ihr Zimmer, in dem die Lampen schon brannten. Es erschien dem übermüdeten Mädchen, als habe sie endlich einen sicheren Zufluchtsort gefunden, der Geborgenheit verhieß. Kate Keller, die am Fenster stand und die Vorhänge zuzog, hielt plötzlich inne und warf Annie einen ergreifenden Blick zu.

«Ich hoffe, Sie werden bei uns glücklich sein, Miss Sullivan, viele Jahre lang.»

Helen zerrte an ihrem Rock und bedeutete ihr mit ungeduldigen, herrischen Gebärden, dass sie die Tasche geöffnet haben wollte. Annie schloss die Tasche auf, ließ das Kind darin herumwühlen, beobachtete es dabei genau und begriff, dass es hoffte, etwas zu essen zu finden, wahrscheinlich Süßigkeiten. Ihr Koffer in der Halle fiel ihr ein. Sie ging mit Helen nach unten, legte die eine Hand des Kindes auf den Koffer, die andere auf ihr eigenes Gesicht und machte mit dem Mund die Bewegung des Kauens. Ob das Kind das wohl verstehen würde? Ihrem entzückten Gesichtsausdruck nach tat Helen das sehr wohl. Sie rannte zu ihrer Mutter und machte einige rasche Zeichen. Annie beobachtete sie mit wachsender Erregung.

«Sie glaubt», übersetzte Mrs. Keller, gleichsam um Entschuldigung bittend, «dass Sie in Ihrem Koffer Süßigkeiten für sie haben.»

«Aber ja, das habe ich», rief Annie triumphierend aus. «Genau das versuchte ich ihr mitzuteilen! Und sie hat es verstanden! Sie hat es verstanden!»

Nun wusste sie plötzlich, dass sie an den rechten Ort gekommen war; dass sie und dieses Kind einander verstehen würden.

Annie Sullivan war bereit, der Welt entgegenzutreten.

Phantom in einer Nicht-Welt

Doch als Annie einige Tage später niedergeschlagen eine kalte Kompresse auf ihren blutenden Mund legte, begann sie einzusehen, dass es wahrscheinlich leichter sei, der ganzen Welt gegenüberzutreten als einer einzigen kleinen Wilden, die eigen-willig und unbeherrscht war, die unberechenbare Wutanfälle bekam und gerade bewiesen hatte, dass sie jeden, der sich ihr widersetzte, ernsthaft zu verletzen vermochte. Annie hatte zwei Vorderzähne eingebüßt.

«Sie kann ein richtiger kleiner Teufel sein, wenn sie will!», sagte mitleidig das junge schwarze Mädchen, das ihr weiche Tücher und kaltes Wasser gebracht hatte, und schüttelte den Kopf.

Annie seufzte. Sie konnte das nicht bestreiten. Die ganze Situation in ihrer Widersprüchlichkeit war ihr ein Rätsel. Das Haus der Kellers gefiel ihr. Zwar war es nicht das, was sie sich erträumt hatte: die malerische Südstaatenplantage mit prächtigen Treppen und Säulen und Ballsälen. Es war ein einfaches, solides Haus, gemütlich und bequem, umgeben von Scheunen, Gärten und Feldern, die die Familie reichlich mit Lebensmitteln von ausgezeichneter Qualität versorgten. Auch die Familie mochte sie gern. Captain Keller, ehemaliger Offizier der konföderierten Armee, verhielt sich ihr gegenüber äußerst liebenswürdig und gastfreundlich. Und für Mrs. Keller, eine junge Frau, die nicht viel älter war als Annie selbst, hatte sie von Anfang an eine tiefe Zuneigung empfunden, die sich mit der Zeit immer mehr festigen und ihr Leben lang halten sollte. Die beiden Söhne aus Captain Kellers erster Ehe, James, Anfang zwanzig, und der um einige Jahre jüngere Simpson, hatten sie wenig beeindruckt. Aber das rosige Baby in seiner Wiege, die kleine Mildred, liebte sie bereits innig. Es war eindeutig eine angenehme, kultivierte Häuslichkeit, in die sie gekommen war; umso entsetzter war Annie, als sie bei ihrem ersten Frühstück mit den Kellers entdecken musste, dass man Helen erlaubte, die Teller, die herumgereicht wurden, an sich zu reißen, mit den Fingern darauf herumzusuchen und sich das zu nehmen, worauf sie gerade Lust hatte!

Darüber hinaus erfuhr Annie sowohl von Mrs. Keller wie von Viney, Helens schwarzer Kinderfrau mit dem weißen Turban auf dem Kopf, dass man bei Helen immer häufiger Gewalt anwenden musste, um ihr selbst bei den einfachsten Dingen, wie Haare kämmen oder Schuhe zuschnüren, helfen zu können. Auf Gewaltanwendung jedoch reagierte Helen mit Wutanfällen und tobte so lange, bis sie völlig erschöpft war. Nicht gerade eine vielversprechende Aussicht!

Und dennoch, wenn es gelang, ihr Interesse zu erregen und ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, war sie ein durchaus aufgeschlossenes und ansprechbares kleines Geschöpf. Während Annie ihren großen Koffer auspackte, half sie ihr dabei und ging sorgsam und geschickt mit den Sachen um. Und als sie die Puppe entdeckte, die die blinden Kinder ihr geschickt hatten, ging ein Strahlen über ihr Gesichtchen, das erste Lächeln, das Annie erblickte. Mit flinken, eifrigen Fingern befühlte sie die Puppe und drückte sie an sich. An ihr Versprechen denkend, legte Annie eine Hand auf die Puppe, die Helen im Arm hielt, und buchstabierte langsam «d–o–l–l» (Puppe) in ihre rechte Hand. Ob sie den Zusammenhang erfasste? Um ganz sicher zu gehen, benützte sie das Zeichen, das Helen selbst gebrauchte, wenn sie etwas haben wollte: Sie deutete auf die Puppe und nickte mit dem Kopf.

Helen sah verblüfft aus. Sie betastete Annies geschmeidige Finger und bewegte sie sachte hin und her. Verlangte sie nach mehr? Annie wiederholte die Buchstaben. War es möglich, dass ein erstes, ahnendes Begreifen in dem in Dunkelheit lebenden Geist aufdämmerte? Denn die kleinen Finger – Annie hielt den Atem an – versuchten zögernd und unbeholfen, die Bewegungen «d–o–l–l» nachzuahmen. Helen Keller hatte ihr erstes Wort buchstabiert! Vergessen war der halb ausgepackte Koffer. Annie stand vor Freude ganz starr. Und dann beging sie vor lauter Aufregung einen Fehler. Sie nahm die Puppe an sich. Sofort lief Helens Gesicht rot an, und sie bekam einen ihrer Wutausbrüche, weil sie sich ihres neuen Schatzes beraubt fühlte. Annie kämpfte mit dem Kind, bis es erschöpft war, und plötzlich schämte sie sich ihrer Kurzsichtigkeit, selbst den Anlass zu diesem Ringkampf geliefert zu haben. Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, diesen Fehler wiedergutzumachen.

Sie ließ das zornige Kind allein, eilte die Treppe hinunter und bat Viney um ein Stück Kuchen. Wieder zurück in ihrem Zimmer, versuchte sie Helens Aufmerksamkeit auf den Kuchen in ihrer einen Hand zu lenken, während sie mit der anderen «c–a–k–e» (Kuchen) buchstabierte. Helen wollte den Kuchen an sich reißen, aber Annie hielt ihn fest, während sie ermutigend ihre Hand streichelte. Und noch einmal schien etwas im Bewusstsein des Kindes aufzuleuchten. Rasch wiederholte sie die Buchstaben und aß den Kuchen hastig auf. Dann hielt Annie ihr die Puppe wieder hin und berührte ihre Finger. Was würde wohl jetzt geschehen? Was nun geschah, war ein Wunder. Helen runzelte die Stirn, langsam bewegten sich ihre Finger und begannen «d–o–l» zu buchstabieren. Annie fügte das zweite «l» hinzu und legte ihr die Puppe in den Arm. Helen wandte sich ab und ertastete sich den Weg aus dem Zimmer. Den ganzen restlichen Tag über aber wollte sie mit Annie nichts mehr zu tun haben.

Annie jedoch jubelte innerlich vor Freude, während sie zu Ende auspackte und sich in dem ersten Zimmer, das sie ihr eigen nennen konnte, einrichtete. Sie hatte die Schranken durchbrochen, sie war zu dem Bewusstsein des Kindes durchgestoßen! Mit Sicherheit wusste sie nun, dass Helen Keller nicht stumpf und auch nicht schwachsinnig, sondern ein eifrig bestrebtes Kind war.

Am nächsten Tag holte sie ihr Kindergartenmaterial hervor und brachte Helen bei, eine der kleinen durchlochten Karten zu besticken. Helen freute sich, als sie die kleinen Löcher fühlte, und kreischte vor Wonne, als sie entdeckte, dass sie etwas zustande brachte, was sie ertasten konnte. Das Besticken der Karte gelang ihr erstaunlich gut, und Annie lobte sie, indem sie ihren Kopf streichelte. Dann beschloss sie, es mit einem weiteren Wort zu versuchen. Sie klopfte leicht auf die Karte und buchstabierte das Wort «card» in Helens Hand, wie sie es am Tag zuvor mit «doll» und «cake» getan hatte.

Helen ahmte das «c–a …» nach, hielt inne und neigte den Kopf zur Seite. Dann machte sie ihr Zeichen für «essen», deutete auf die Treppe und stieß Annie zur Tür. Annie lachte, ergänzte die übrigen Buchstaben «k–e» und ging auf die Suche nach einem Stück Kuchen. Wie aufgeweckt doch das kleine Ding war! Den Aufzeichnungen Dr. Howes nach hatte es Wochen gedauert, ehe er die Gewissheit hatte, dass Laura Bridgman den Zusammenhang zwischen einzelnen Wörtern begriff.

Auch mit ihrer genialen Zeichensprache bewies Helen, dass sie ein außergewöhnliches Kind war. Gerade an jenem Morgen hatte Annie beobachtet, wie Helen an dem Kleid ihrer im Haushalt beschäftigten Mutter zerrte, und als sie merkte, dass sie deren Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, machte sie in der Luft die Bewegung, als ob sie einen Griff drehte, und schüttelte sich dann wie in einem Kälteschauer. Ihre Bewegungen waren so ausdrucksvoll, dass Annie auch ohne Mrs. Kellers lachende Erklärung verstand: «Sie möchte Eiscreme zum Mittagessen!»

Und beim Abendessen hatte sie Brot und Butter verlangt, indem sie die vollkommen verständlichen Bewegungen des Brotschneidens und Butteraufstreichens machte.

Doch um beurteilen zu können, in welch erstaunlichem Maße es diesem tauben und blinden Kind gelungen war, in Verbindung mit seiner Umwelt zu treten, musste man es außerhalb des Hauses, im Freien, beobachten, wie es sich langsam, aber gänzlich furchtlos seinen Weg um Scheunen und Ställe, über den Hof und durch den Garten ertastete. Eifrig darauf bedacht, Helens Schlupfwinkel und Gewohnheiten kennenzulernen, war Annie ihr am Tag nach ihrer Ankunft in den duftenden Frühlingsmorgen hinaus gefolgt. (Es war kaum zu glauben, dass sie vor nur vier Tagen im Zug nach Philadelphia fast im Schnee stecken geblieben war!) Und als sie die kleine Gestalt beobachtete, wie sie ihren Weg mithilfe von Hecken, Büschen und Bäumen fand, wurde ihr Erstaunen immer größer. Hin und wieder blieb Helen stehen, schnupperte in die Luft, nickte befriedigt mit dem Kopf und wanderte dann weiter. Mit Annie in ihrem Gefolge tastete sie sich zu der Stelle, wo die Kühe gemolken wurden. Offensichtlich war sie dort keine Unbekannte, denn die Melker zeigten sich nicht überrascht, selbst als sie ihre Hände über die ihr zunächst stehende Kuh gleiten ließ. Ärgerlich schlug das Tier mit dem Schwanz nach ihr, doch sie ließ es sich ruhig gefallen – zu Annies größter Verwunderung. Einer der Plantagenarbeiter nahm Helen bei der Hand und führte sie zum Pferdestall. Er hob sie hoch, und mit sichtlichem Entzücken liebkoste sie eines der Pferde.

Dann verließ sie den Stall und tastete sich an der Buchsbaumhecke entlang, bis sie in den Küchengarten gelangte. Dort machte sie ein anderes Persönchen ausfindig – auf welche Weise ihr das gelang, war ein Rätsel –, ein grinsendes, kleines schwarzes Mädchen mit krausen Korkenzieherlöckchen, das vielleicht ein oder zwei Jahre älter war. Mrs. Keller hatte Annie das Kind schon gezeigt, es war Martha Washington, die Tochter der Köchin, eines der wenigen Kinder, das keine Angst vor Helen hatte und ihre ständige Spielgefährtin war.

Helen schlang die Arme um den Hals des kleinen Mädchens, zupfte dann an ihrem Ärmel, kauerte sich auf den Boden und vollführte mit beiden Händen seltsame Bewegungen. Martha Washington nickte heftig und grinste noch breiter.

«Was sagt sie?», fragte die verdutzte Annie, die vergeblich versucht hatte, den Bewegungen zu folgen.

«Sie sagt, sie will Perlhuhneier suchen gehen», erklärte Martha und machte einen Knicks. «Sie sehen? So …» Sie drückte ihre kleinen, braunen, zu Fäusten geballten Hände in das Gras. «Perlhuhn, es legen gern Eier in hohes Gras, und Helen, sie gern suchen nach ihnen. Ja, Schätzchen, wir gehen!» Instinktiv antwortete sie mit lauter Stimme auf Helens immer hartnäckigeres Zerren.

«Ihre Fäuste bedeuten die Eier im Gras», sagte Annie vor sich hin. «Das ist wirklich schlau.»

«O ja, Madam!», stimmte Martha zu. «Helen ist sehr gescheit!» Sie ist mehr als gescheit, dachte Annie, als sie den beiden kleinen Mädchen durch das hohe Gras folgte. Helen besaß eine Fähigkeit, die den meisten blinden Kindern abgeht – einen unerschrockenen, furchtlosen Geist und einen unermüdlichen Tätigkeitsdrang. Viele blinde Kinder, besonders die kleineren, sind unsicher, ängstlich und verharren gern an immer der gleichen Stelle. Manche blinde Babys haben große Schwierigkeiten, überhaupt laufen zu lernen. Annie hatte in der Schule blinde Kinder erlebt, denen man sogar das Spielen beibringen musste. Und hier hatte sich aus der dunklen, lautlosen Welt des Babys heraus eine kraftvolle kleine Seele entwickelt, die so tatendurstig und unermüdlich, so schelmisch war wie jedes normale sechseinhalbjährige Kind.

Annie lächelte, als sie daran dachte, wie sie geglaubt hatte, «ein bleiches, zartes, schüchternes Kind» vorzufinden. In einem Brief an Mrs. Hopkins hatte sie geschrieben: «Helen ist keineswegs zart. Sie ist groß, stark und gesund und in ihren Bewegungen so ungezügelt wie ein junges Füllen.»

Dann plötzlich erblickte sie etwas, worüber sie laut auflachte. Die kleinen Mädchen hatten offensichtlich ein Nest mit Eiern entdeckt. Sie kreischten vor Entzücken, und Annie bedurfte Marthas Erklärungen für Helens ausdrucksvolle Gesten nicht. Helen teilte nämlich Martha mit, dass sie, Helen, die Eier in ihrem Schürzchen heimtragen wolle. Martha könnte vielleicht stolpern und sie zerbrechen!

Nachdem sie die Eier heil im Haus abgeliefert hatten, setzten sich die beiden kleinen Mädchen auf die Stufen vor der Küchentür und fütterten die Truthühner, die sich laut kollernd um sie drängten. Annie sah, dass die Tiere die Körner direkt aus Helens Händen pickten, und wiederum staunte sie. Dieser Anblick war einfach unglaublich für jemanden, der mit blinden Kindern umgegangen und selbst ein blindes Kind gewesen war. Gewiss war Helen intelligent und furchtlos, aber es kam da noch etwas hinzu. Sie war im Schoße einer wunderbaren Familie aufgewachsen und hatte vor allem eine Mutter, die die Weisheit, die Geduld und die Stärke besaß, ihr kleines Kind frei herumlaufen, die Umwelt erforschen und durch Erfahrungen so lernen zu lassen, wie das jedes gesunde Kind tut; eine Mutter, die es nicht zurückhielt aus Angst, es könne sich verletzen.

Das sprach sie auch Mrs. Keller gegenüber aus, als die beiden zusammensaßen, nachdem Helen ins Bett gebracht worden war. Mrs. Keller schüttelte den Kopf, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte bisher, ehe Annie kam, niemals irgendjemandem gegenüber einzugestehen vermocht, wie schwer Helens Jahre als Kleinkind gewesen waren.

«Sie war so ein schönes Kind, Miss Annie, und hatte solch scharfe Augen! Sie konnte eine Nadel entdecken, die niemand sonst sehen konnte. Und an dem Tag, als sie ein Jahr alt wurde, glitt sie von meinem Schoß herunter und rannte auf einen Sonnenstrahl zu. Sie fing auch an zu sprechen. Und dann, mit neunzehn Monaten, wurde sie krank. Noch heute wissen wir nicht, was es war. Die Ärzte nannten es eine ‹akute Unterleibsund Gehirnentzündung›. Einmal, als ich sie badete, entdeckte ich, dass sie blind war, und später wandte sie nicht einmal den Kopf, auch wenn wir laut schrien. Aber niemals konnte ich glauben, dass auch ihr Gehirn geschädigt wurde – glauben Sie das?»

Annie schüttelte rasch und nachdrücklich den Kopf. «Nein, Mrs. Keller, bestimmt nicht. Ich hatte mit Schwachsinnigen zu tun. Ich weiß es gewiss!»

«Einige unserer Verwandten sagten, sie sei geistig zurückgeblieben, und wir sollten sie in ein Heim geben. Aber eine Cousine von Captain Keller behauptete immer, sie habe mehr Verstand als jeder andere von den Kellers. Wenn es nur einen Weg gäbe, zu ihrem Geist vorzudringen!»

Annie schluckte. «Den gibt es, liebe Mrs. Keller. Das hat man schon einmal erreicht. Ich habe mit Laura Bridgman zusammen gelebt, und sie hat vielerlei Dinge studiert, sogar Geometrie und Naturwissenschaften. Sie ist ein ganz wunderbarer Mensch.»

«Ich habe über sie in Dickens’ Amerikanischen Skizzen gelesen, und da schöpfte ich zum ersten Mal Hoffnung. Aber dann fiel mir ein, dass Dr. Howe gestorben ist und mit ihm vielleicht auch seine Unterrichtsmethode! Etwas später wurde mein Mann von Präsident Cleveland zum Bundespolizeichef von Alabama ernannt, und sein erstes Gehalt benützte er dazu, Helen zu einem Augenarzt in Baltimore zu bringen, von dem wir gehört hatten.» Sie biss sich auf die Lippen. «Es war hoffnungslos, aber er war der Meinung, dass sie bildungsfähig sei, und riet uns, Dr. Alexander Graham Bell in Washington zu konsultieren.»

«Dr. Alexander Graham Bell?», unterbrach Annie, «ich dachte – das Telefon – ich dachte, er sei ein Erfinder!»

Mrs. Keller nickte. «Das stimmt, aber zunächst hatte er Taube unterrichtet. Seine eigene Frau ist taub. Nun, wir fuhren nach Washington, und Dr. Bell – das ist der wunderbarste und gütigste Mann, den ich je getroffen habe.» Bei den letzten Worten versagte ihr die Stimme, und sie schaute weg. «Er setzte Helen auf seine Knie, und sie verstanden einander sofort. Er sagte, sie sei ein sehr aufgewecktes Kind, dass man sie selbstverständlich unterrichten könne, und riet meinem Mann, sich an das Perkins-Institut zu wenden. Und, oh, Miss Annie, es war der glücklichste Tag unseres Lebens, als Mr. Anagnos schrieb, dass Sie zu uns kommen würden.»

Annie spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. Die ganze Verzweiflung all dieser Monate und Jahre hilflosen Wartens und Hoffens sprach aus Kate Kellers Augen.

«Ich will mein Bestes für Sie und Helen tun», versprach sie nüchtern. «Ich habe sie jetzt schon ins Herz geschlossen, und sie lernt rasch.» Sie lachte leise. «Erinnern Sie sich an die Geschichte mit ‹cake› und ‹card› und wie geschickt sie mit den Nähkarten und Perlen umgeht?»

Helens Mutter erkundigte sich nun, wie Annie mit dem Unterricht vorgehen wolle. Und das war eine gute Frage, denn vorläufig waren Annies Pläne noch recht verschwommen und anfänglich. Sie setzte Mrs. Keller auseinander, dass es zunächst am wichtigsten sei, Helen begreiflich zu machen, dass jedes Ding einen Namen habe. Sie beabsichtigte, ihr Gegenstände wie den Kuchen zu geben, vertraute Dinge wie Karte, Puppe, Tasse, Löffel und ihr so lange die dazugehörigen Wörter in die Hand zu buchstabieren, bis Helen das Wort mit dem Gegenstand verbinden und selbst richtig benützen konnte. Sie erklärte, dass die Tauben jeden Buchstaben des Alphabets durch Fingerbewegungen bezeichnen konnten, und demonstrierte das, indem sie den Namen Helen Keller buchstabierte.

Dieses Alphabet könne jeder leicht erlernen, sagte Annie. Später solle Helen die Brailleschrift lesen und schreiben lernen, und auch mit Bleistift müsse sie schreiben lernen. In Braille könne sie rechnen und überhaupt alles lernen.

Kate Keller ließ das winzige Jäckchen für Mildred in ihren Schoß sinken. Hoffnung leuchtete in ihrem Gesicht auf, Hoffnung, die sie fünf Jahre lang begraben hatte.

«Und das alles können Sie wirklich erreichen, Miss Annie? Ich werde wirklich mit meinem kleinen Mädchen sprechen und erfahren können, was sie denkt? Was denkt sie denn?»

Was wohl waren in jener Zeit die Gedanken der kleinen Helen Keller? Sie selbst kann es nicht sagen. Gedanken ohne Worte zu bilden ist schwer. Und Worte hat Helen Keller nicht. Erfahrungen sind es, die in ihrem Gedächtnis leben. Sie erinnert sich, wie sie durch eine Unmenge Papier watet und auf ihren Vater – er ist der Herausgeber einer Zeitung – trifft, der etwas vor sein Gesicht hält, was ihr rätselhaft ist. Sie versuchte, das Ding vor ihr eigenes Gesicht zu halten, und setzte sich sogar seine Brille auf, aber das Rätsel löste sich dadurch nicht. Sie erinnert sich, wie sie und Martha Washington einen frisch mit Zuckerguss überzogenen Kuchen stahlen und ihn, bei den Holzstapeln versteckt, aufaßen. Sie erinnert sich, dass sie wütend wurde, als sie ihr kleines Schwesterchen schlafend in der Wiege fand, die sie für ihre Puppe benützte, und dass sie versuchte, die Wiege umzustürzen. Sie erinnert sich, ihre Mutter in der Speisekammer eingeschlossen zu haben, und wie sie ihre Schürze in Flammen setzte, indem sie sie über ein offenes Feuer hielt. Und sehr lebhaft erinnert sie sich an die Reise nach Baltimore zu dem Augenarzt und dann weiter nach Washington.

Die Leute in den Zügen waren alle sehr freundlich zu ihr. Eine der Mitreisenden gab ihr zum Spielen eine Schachtel voller Muscheln, die ihr Vater durchbohrte, sodass sie sie zu einer Kette auffädeln konnte. Sie durfte sich an den Rockschößen des Schaffners festhalten, wenn er durch den Wagen ging, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Danach gab er ihr sogar seine Lochzange zum Spielen. Das Erstaunlichste auf dieser Reise aber ereignete sich, als ihre Tante ihr eine Stoffpuppe aus Taschentüchern machte – ein ulkiges, schlaffes, formloses Ding. Seltsamerweise waren es nun die nicht vorhandenen Augen, die Helens Aufmerksamkeit erregten. Immer wieder deutete sie auf das Gesicht der Puppe und dann auf ihre eigenen Augen, aber niemandem fiel ein, wie man die Puppe mit Augen versehen könnte. Schließlich leuchtete Helens Gesichtchen auf, sie kletterte von ihrem Platz herunter und tastete sich zu ihrer Tante, unter deren Sitz sie herumsuchte, bis sie den Mantel fand, den die Tante während der Reise getragen hatte. Dieser Mantel hatte einen Besatz aus großen Perlen. Helens kräftige kleine Finger rissen zwei Perlen ab und zeigten dann auf das Gesicht der Puppe. Und als man sie aufgenäht hatte, hüpfte sie vor Freude auf und ab.

Sie konnte von Dr. Chisholms Urteil nichts wissen, auch ahnte sie nicht, welch schweren Herzens ihre Eltern mit ihr nach Washington fuhren. Aber als sie auf Dr. Bells Knien saß, wusste sie, dass da jemand war, der sie verstand. Und abgesehen von ihrer Familie war dies der erste Mensch, mit dem sie sich verbunden fühlte. Später bezeichnete sie ihn als «meinen ältesten Freund».

Welcher Art waren ihre Gedanken während dieser fünf Jahre vollständiger Isolation? Jahre später sagte sie, dass sie «wie ein Schiff in dichtem Nebel war, das seinen Weg ohne Kompass, ohne Lot suchen musste». Und dass sie sich «ihrer selbst innerhalb eines Nichts bewusst war. Ich wusste nicht, dass ich nichts wusste, dass ich lebte, handelte. Ich hatte weder Willen noch Verstand … Ich hatte kein Denkvermögen.» Sie bezeichnete sich auch als «ein Phantom in einer Nicht-Welt».

Was für Gedanken auch immer sie gehabt haben mochte, sie waren schattenhaft und ohne Kontur. Doch sie war sich vieler Dinge bewusst, vor allem wusste sie ganz genau, dass sie anders war als die übrigen Menschen, die keine Zeichen und Gebärden benützten wie sie. Oft stellte sie sich zwischen zwei Personen, die sich miteinander unterhielten, berührte mit den Fingern deren Lippen und bewegte dann ihre eigenen, in dem vergeblichen Versuch, ebenso zu sein wie jene.

Dieses dringende Bedürfnis, andere Menschen zu verstehen, sich mit ihnen zu verständigen, muss der Grund für die heftigen Ausbrüche gewesen sein, von denen sie zu der Zeit, als Annie Sullivan nach Tuscumbia kam, so häufig ergriffen wurde. Wahrscheinlich handelte es sich gar nicht um die Zornausbrüche eines ungezogenen Kindes; vielmehr packten sie Anfälle von Schmerz und Verzweiflung über die unüberwindlichen Schranken, die ihren wachsenden Geist gefangen hielten. War sie dann erschöpft, so tastete sie sich an der Buchsbaumhecke entlang in den Garten, wo sie sich in das Gras und die Blumen warf, deren Kühle und Duft ihren kleinen, wutgeschüttelten Körper besänftigten.

Durch einen dieser Anfälle, in dem Helen mit geballten Fäusten heftig um sich schlug, verlor Annie ihre beiden Vorderzähne. Sie war sehr niedergedrückt an jenem Tag. Ihre Augen schmerzten und waren entzündet. Sie wusste nicht, wie sie mit dieser halsstarrigen kleinen Wilden fertig werde sollte, die noch niemals bestraft worden war und deren Familie sich weigerte, ihre Zügellosigkeit auch nur im geringsten einzuschränken. Sie hatte gehofft, das Kind durch Liebe erreichen zu können, aber Helen war zu wild, zu ungebärdig, sie war für Liebe unerreichbar, sie konnte Liebe nicht erkennen, nicht begreifen. Annie musste einen anderen Weg einschlagen, und zwar bald.

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