Kitabı oku: «Öffne mir das Tor zur Welt», sayfa 4
Vielleicht musste sie an ein anderes blindes, widerspenstiges, unwissendes Kind denken, und wie viel Zeit und Geduld nötig gewesen war, es zu zähmen. Jedenfalls erhob sie den Kopf und beschloss, nicht mehr an den Verlust ihrer Zähne zu denken. Ich muss das Kind von der Familie trennen, dachte sie. Ich will ganz offen mit Mrs. Keller sprechen.
Die erste Sprosse der Leiter
Bereits am nächsten Morgen kam es zu einer plötzlichen und heftigen Krise. Vielleicht lag es daran, dass Annie entmutigt und enttäuscht war, vielleicht fürchtete sie das bevorstehende Gespräch mit Mrs. Keller – den Vorschlag, Helen zeitweilig von ihrer Familie zu trennen –, jedenfalls sah sie mit wachsendem Widerwillen zu, wie Helen auf die herumgereichten Teller grapschte. Als sie ihren eigenen Teller in Empfang nahm, wehrte sie die herandrängenden kleinen Hände ab. Sofort verfinsterte sich das Gesicht des Kindes. Sie zwickte Annie. Annie gab ihr einen Klaps auf die Hand. Und das genügte, um einen von Helens Wutanfällen auszulösen. Sie schrie und langte noch einmal nach Annies Teller, und wieder schlug Annie auf die herumsuchenden Hände, obwohl sie sich nur allzu deutlich der schockierten und missbilligenden Blicke der Familie bewusst war. Mrs. Keller öffnete den Mund, dann schüttelte sie den Kopf, und Tränen rannen über ihre Wangen. Sie erhob sich und verließ das Zimmer. Einer nach dem anderen folgte ihrem Beispiel.
Auch Annie erhob sich, ging aber nur bis zur Tür, um sie zu verschließen. Ihr kamen ebenfalls die Tränen, aber so unglücklich und leer sie sich auch fühlte, sie zwang sich dazu, ihren Platz wieder einzunehmen und das Frühstück fortzusetzen, obwohl sie fast daran erstickte. Was sollte nur werden? So hatte sie es nie gewollt. Sie hatte Helen durch Liebe und Güte gewinnen wollen, doch das war nicht gelungen. Helen betrachtete alles, was man für sie tat, als selbstverständlich. Sie wollte sich nicht lieben lassen. Keines der Familienmitglieder, besonders ihr Vater nicht, konnten sie weinen sehen, deshalb hatte man ihr nie Einhalt geboten, sie nie bestraft. Sie bekam nur dann nicht, was sie wollte, wenn es ihr nicht gelang, sich verständlich zu machen. Das Einzige, was sie zu verstehen und respektieren vermochte, war etwas oder jemand, der stärker war als sie. Annie hoffte, dass sie stärker sein würde. Und da der Kampf nun einmal ausgebrochen war, war sie entschlossen, ihn auch zu Ende zu führen.
Und es war wahrhaftig ein Kampf! Helen hatte sich auf den Boden geworfen, ließ ihr schauerliches Gebrüll ertönen, schlug um sich und versuchte, Annies Stuhl unter ihr wegzustoßen. Annie hielt ihn fest. Schließlich krabbelte das Kind auf die Füße, um festzustellen, was Annie tat, und als sie merkte, dass Annie weiteraß, versuchte sie aufs Neue, ihr das Essen vom Teller zu reißen. Wieder gab Annie ihr einen Klaps. Das Kind tastete sich um den Tisch herum, schien verblüfft wegen der leeren Stühle, kehrte aber zu seinem eigenen Stuhl zurück und begann selbst zu essen – mit den Fingern. Annie gab ihr einen Löffel, Helen warf ihn auf den Boden. Annie zwang sie dazu, ihn aufzuheben, drückte ihr den Löffel in die Hand und hielt ihn eisern fest, sodass das Kind genötigt war, ihn zum Essen zu benützen. Erstaunen malte sich auf Helens Gesicht, aber sie begriff den Zusammenhang und beendete ihr Frühstück friedlich. Der nächste Kampf entbrannte um das Zusammenfalten der Serviette. Nachdem sie zusammengelegt war, schleuderte Helen sie auf den Boden. Annie biss die Zähne zusammen und zwang sie, obgleich sie wiederum brüllte und um sich schlug, die Serviette aufzuheben und noch einmal zusammenzulegen. Dann endlich ließ sie das Kind in den warmen, sonnigen Morgen hinausgehen. Annie zitterte am ganzen Leib, ihr war übel, aber es gelang ihr, sich hinauf in ihr Zimmer zu schleppen, wo sie auf ihrem Bett zusammenbrach und bitterlich weinte, bis ihr vor Erschöpfung endlich die Tränen versiegten.
Oh, es hatte keinen Sinn, sie hatte versagt. Captain Keller würde sie bestimmt auffordern, ihre Sachen zu packen. Und wenn nicht, wie konnte sie, wie konnte überhaupt jemand den Zugang zu einem solchen Kind finden?
Ein tiefer, an Betäubung grenzender Schlaf umfing sie. Irgendwann hörte sie eine sanfte Stimme fragen: «Miss Annie, darf ich hereinkommen?»
Nur mit Mühe gelang es Annie, sich aufzusetzen, und mit einer vom vielen Weinen heiseren Stimme krächzte sie: «J-ja, t-treten Sie ein.» Es war Mrs. Keller, und wahrscheinlich kam sie, um ihr den Beschluss der Familie mitzuteilen, dass sie nach Boston zurückkehren solle.
Kate Keller trat ein, blieb einen Augenblick stehen, und als sie das verzweifelte Häufchen Elend erblickte, setzte sie sich neben Annie auf das breite Bett und legte den Arm um sie. «Oh, meine liebe Miss Annie, es tut mir so leid wegen heute Morgen! Wie können wir Ihnen nur helfen? Wir wollen doch das Beste für unser kleines Mädchen, aber auf welche Weise können wir das tun?»
Annie schluckte, griff nach ihrem durchnässten Taschentuch und nahm dankbar das frische entgegen, das Mrs. Keller ihr reichte. Sie blickte in deren besorgtes Gesicht und begann dann zu sprechen, langsam, tastend, nach den richtigen Worten suchend.
«Ich glaube, sie muss von der Familie getrennt werden – für eine kleine Weile …»
«Getrennt?!» Helens Mutter fuhr zurück.
Annie nickte. «Ja, wenigstens für ein paar Wochen. Oh, Mrs. Keller, können Sie das nicht sehen? Sie – Ihre ganze Familie – haben Helen immer ihren Willen gelassen. Sie hat Sie alle tyrannisiert, auch die Dienerschaft. Wegen jeder Kleinigkeit bekommt sie nun diese Wutanfälle, und um des lieben Friedens willen geben Sie nach. Ich kann ihr weder den Gebrauch der Sprache noch sonst etwas beibringen, solange sie nicht lernt, mir zu gehorchen. Sie muss lernen, sich nach mir zu richten, mir zu gehorchen, mich zu lieben, ehe ich irgendwelche Fortschritte bei ihr erreichen kann. Es hat alles keinen Sinn, solange sie in dem Glauben lebt, bei ihrer Familie alles durchsetzen zu können. Wollen Sie sie nicht bitte mir allein überlassen, nur für eine kurze Zeit?»
Lange schwieg Mrs. Keller. Dem Ausdruck ihres Gesichtes entnahm Annie, dass ein heftiger Kampf sich in ihr abspielte, von dem sie hin und hergerissen wurde. Endlich blickte sie auf und lächelte traurig. «Ich will jedenfalls darüber nachdenken und sehen, was Captain Keller dazu meint, Miss Annie.»
Captain Kellers Stellungnahme war Annie recht fraglich. Aber als sie an jenem Abend gebeten wurde, mit Mrs. Keller zusammen in sein Arbeitszimmer zu kommen, wurde ihr bei seinen ersten Worten ganz schwach vor freudiger Überraschung.
«Ich glaube, dass Sie da einen ausgezeichneten Plan haben, Miss Annie», sagte er herzlich. «Zufällig besitzen wir ein kleines Gartenhaus, etwa eine Viertelmeile von hier entfernt, in der Nähe von Ivy Green, unserer Familien-Plantage. Das können wir für Sie herrichten. Helen ist schon öfters dort gewesen. Sie werden natürlich allein mit ihr bleiben. Aber hätten Sie etwas dagegen, wenn wir jeden Tag einmal zum Fenster hineinschauten, um zu sehen, wie Sie zurechtkommen? Helen braucht von unseren Besuchen nichts zu erfahren.»
«Nicht im geringsten!», war Annies begeisterte Antwort. «Dürfen wir bald übersiedeln?»
«Gut. Ja, ich denke, das lässt sich rasch bewerkstelligen.» Er tätschelte ihre Hand. «Meine liebe junge Dame, wir wissen, dass Sie uns zu helfen versuchen.»
Das kleine Haus, in das sie gebracht wurden, erschien Annie wie ein Stück vom Paradies. Es bestand aus einem sehr großen Raum mit einem gewaltigen Kamin und einem herrlichen Erkerfenster sowie einem kleineren Zimmer, in dem Percy schlafen würde, der kleine schwarze Junge, der die Hausarbeit für sie verrichten sollte. Auch eine geräumige Veranda gab es, die so dicht von Kletterpflanzen und wildem Wein überwachsen war, dass man das Blättergewirr erst beiseite schieben musste, wollte man den dahinter liegenden Garten sehen. Ihre Mahlzeiten sollten vom «großen Haus», Ivy Green, herübergebracht werden, wo Captain Kellers Verwandte wohnten, sodass Annie sich ganz und gar Helen widmen konnte.
So paradiesisch das kleine Haus sein mochte, seine beiden Bewohner befanden sich keineswegs in einem himmlischen Gemütszustand, jedenfalls nicht während der ersten Tage. Von ihrer Familie getrennt und ohne die vertraute Umgebung wurde Helen, angsterfüllt und wütend, von einem wahren Tobsuchtsanfall gepackt; sie schrie und schlug um sich, die einzige Art, auf die sie sich zu äußern vermochte. Hilflos und schweren Herzens stand Annie daneben. Als das Abendessen gebracht wurde, beruhigte sich Helen, ihr Gesicht hellte sich auf, sie langte herzhaft zu und spielte danach mit ihren Puppen. Als Annie ihr klarmachte, dass es an der Zeit war, ins Bett zu gehen, ließ sie sich bereitwillig ausziehen und zudecken. Kaum aber fühlte Helen, dass Annie sich neben sie legte, war es mit der Ruhe schon wieder vorbei. Helen sprang auf der anderen Seite aus dem Bett. Annie hob sie auf und legte sie zurück. Helen ließ sich sofort wieder herausfallen – und so ging es fort, zwei lange Stunden hindurch.
«Ich habe noch nie ein Kind von solcher Kraft und Ausdauer gesehen», schrieb Annie an Mrs. Hopkins, «aber zum Glück für uns beide bin ich doch ein bisschen stärker.»
Schließlich gab Helen klein bei, und ein schluchzendes kleines Mädchen rollte sich am äußersten Rand des Bettes zusammen, während Annie auf ihrer Seite des Bettes, erschöpft an Leib und Seele, von quälenden Zweifeln gepeinigt wurde.
Armes kleines Mädchen, es lag ja nicht an ihr, dass sie ausgeschlossen war von jeglicher Verbindung und Verständigung mit anderen Menschen! Plötzlich fiel Annie ein, was Dr. Howe über Laura Bridgman gesagt hatte: «Sie war wie ein Mensch, der sich allein und hilflos in einem tiefen, dunklen Schacht befindet, und ich ließ ein Seil herab und ließ es über ihr baumeln, in der Hoffnung, dass sie es vielleicht findet, ergreift und daran heraufgezogen werden kann in das Licht des Tages und der menschlichen Gemeinschaft.»
Wann würde wohl Helen das Seil finden, das Annie versuchte, zu ihr herabzulassen?
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zu seinem Büro, schaute Captain Keller durch das Fenster, und Annie begriff nur allzu gut, dass kein Vater das, was er da zu sehen bekam, ermutigend finden konnte. Es war bereits Vormittag, und Helen saß auf dem Fußboden, ein Häufchen Elend, inmitten ihrer um sie herum verstreuten Kleider, da sie jeden Versuch Annies, sie anzuziehen, abgewehrt hatte. Was immer der Vater denken mochte, er verbarg es vor Annie und begrüßte sie nur mit der Höflichkeit des Südstaatlers; Annie krampfte sich das Herz zusammen beim Anblick des abgehärmten Ausdrucks auf seinem Gesicht, als er sich abwandte.
Diesmal schwebte Annie wirklich in Gefahr, als Versager entlassen zu werden, denn Captain Keller unterbrach seinen Weg in Ivy Green und erklärte seiner Cousine: «Leila, am liebsten möchte ich dieses Yankee-Mädchen nach Boston zurückschicken.» Leila Lassiter jedoch hatte die Situation klarer erfasst. «Gib ihr erst einmal die Chance, das, was sie tut, auch unter Beweis zu stellen, Arthur», drang sie in ihn. «Meiner Meinung nach ist sie Helens einzige Hoffnung.»
Helens Stimmung an jenem Tag war gedämpft, alles schien ihr rätselhaft. Sie spielte mit ihren Puppen, ging des öfteren zur Tür, als ob sie jemanden erwartete, berührte ihre Wange – ihr Zeichen, dass sie nach ihrer Mutter verlangte – und schüttelte dann traurig den Kopf. Mit Annie wollte sie so wenig wie möglich zu tun haben.
Wie verlassen muss sie sich fühlen, wie verwirrend muss alles für sie sein, dachte Annie, die sie beobachtete. An ihr lag es nicht, dass diese Trennung notwendig geworden war – ihre Familie hatte sie zu sehr verwöhnt und nie gestraft, und vielleicht konnte man auch den Kellers keine Schuld geben! Denn es ist schwierig, Strafen für ein Kind zu ersinnen, mit dem man sich nicht verständigen kann. Dank der völligen Freiheit, die sie genossen hatte, zeigte Helen – wie Annie an Mrs. Hopkins schrieb – keine der nervösen Schwächen, die bei blinden Kindern so bedrückend sind. Ihr Drang nach Unabhängigkeit, ihre Furchtlosigkeit würden ihr eines Tages sehr zustatten kommen, wenn sie einmal wirklich bewusst am Leben ihrer Umwelt würde teilnehmen können. Aber wie stelle ich es an, ihr Gehorsam und Selbstbeherrschung beizubringen, ohne ihren Geist zu brechen?
Ja, wie? Hier stand sie vor einem Problem, das zu lösen auch einem älteren und erfahreneren Lehrer Rätsel aufgegeben und Kopfzerbrechen bereitet hätte. Und Annie war jung und unerfahren. Knapp einundzwanzig Jahre alt.
Wie und wann es geschah, ist keinem der Beteiligten jemals klar geworden, aber plötzlich dämmerte es in Helens dunklem kleinem Gemüt auf, dass diese Person da bei ihr kein Ungeheuer war, das sie aus irgendeinem grausamen Grund ihrer Familie entrissen hatte, sondern jemand, dessen Hände sanft und freundlich waren, der mehr Dinge wusste als sogar ihre Mutter und der ihr zeigen wollte, wie man sie macht. Da war jemand, dem man vertrauen, nach dem man sich richten und, mehr noch, dem man gehorchen konnte.
Unter Annies Anleitung brachte sie eine Schürze für ihre Puppe zustande, und es war eine gute Schürze. Sie lernte häkeln, und als sie eine Schnur hergestellt hatte, so lang, dass sie durch das ganze Zimmer reichte, lachte sie in sich hinein und drückte sie liebevoll an die Wange. Und Annie konnte Mrs. Hopkins glückstrahlend berichten:
«Mein Herz jubelt heute vor Freude! Das Licht des Verständnisses ist im Geiste meiner kleinen Schülerin aufgegangen, und siehe da, alle Dinge haben ein verändertes Aussehen bekommen. Das wilde kleine Geschöpf von vor vierzehn Tagen hat sich in ein artiges Kind verwandelt. Helen sitzt, während ich schreibe, heiter und fröhlich neben mir und häkelt an einer langen Schnur aus roter Schafwolle … Sie lässt sich jetzt von mir küssen, und wenn sie in besonders zärtlicher Stimmung ist, sitzt sie sogar auf meinem Schoß … Der große Schritt – der Schritt, auf den es ankommt – ist getan. Die kleine Wilde hat ihre erste Lektion ‹Gehorsam› gelernt. Auch die anderen Menschen bemerken schon die Veränderung, die mit Helen vorgegangen ist. Ihr Vater besucht uns jeden Morgen und Abend, sieht sie zufrieden ihre Perlen aufreihen und nähen, und ruft aus: ‹Wie ruhig sie ist!› Als ich ankam, waren ihre Bewegungen derart heftig und ungezielt, dass man stets das Gefühl hatte, sie habe etwas Unnatürliches und geradezu Unheimliches an sich.»
Helen lernte auch weitere Wörter buchstabieren. Wenn Annie ihr Gegenstände gab, die sie zuvor schon in der Hand gehabt hatte, benannte sie sie rasch, aber offensichtlich konnte sie die Wörter noch nicht mit ihren Wünschen verbinden, denn wenn sie Milch oder Kuchen haben wollte, buchstabierte sie nicht die ihr bekannten Wörter, sondern zog es vor, ihre alten Gesten zu benützen. Aber sie liebte das Fingerspiel und gewann eine große Geschicklichkeit darin.
Eines Tages brachte Captain Keller die Setterhündin Belle mit und war gespannt, ob Helen sie erkennen würde. Der Hund verkroch sich in eine Ecke des Zimmers, sodass Annie vermutete, er habe keine allzu glücklichen Erinnerungen an seine kleine Herrin. Helen war gerade dabei, eine ihrer Puppen zu baden; plötzlich hielt sie inne, schnupperte, ließ die Puppe in die Waschschüssel fallen und tastete sich durch das Zimmer. Ganz offensichtlich erkannte sie Belle, denn sie stieß einen kleinen Freudenschrei aus, ließ sich auf die Knie fallen und umarmte sie heftig. Dann beugte sie sich nieder und fing an, mit einer ihrer Pfoten herumzuarbeiten. Weder Captain Keller noch Annie vermochten zu erraten, was in ihrem Kopf vor sich ging, bis sie sahen, dass die kleinen, flinken Finger die Bewegungen der Buchstaben «d–o–l–l» ausführten.
Helen versuchte, ihrem Hund das Buchstabieren beizubringen!
W–A–T–E–R !
Zwei Wochen lang blieben sie in dem kleinen Gartenhaus, obwohl Annie sich einen längeren Aufenthalt gewünscht hätte. Aber Captain Keller sagte, er glaube, dass Helen Heimweh habe. In Wirklichkeit war es wahrscheinlich umgekehrt: die Eltern hatten Sehnsucht nach Helen!
Alle stellten voller Freude fest, welch große Fortschritte das Kind gemacht hatte. Ihr Gesichtchen wurde mit jedem Tag ausdrucksvoller; die Wutanfälle verschwanden; sie benahm sich zutraulicher. Sie hatte zwar noch Schwierigkeiten, die Wörter richtig anzuwenden, aber es war deutlich zu bemerken, wie intensiv ihr Geist arbeitete. Eines Tages, als sie im Garten spielte, gewahrte Annie voller Erstaunen, wie sie ein Loch buddelte und ihre Puppe eingrub. Mit ihren eindrucksvollen Gebärden bedeutete sie Annie, die Puppe solle wachsen und so groß wie Annie werden! «Sie können sich nicht vorstellen, wie klug sie ist!», hieß es in einem Brief an Mrs. Hopkins.
Annie war nun zuversichtlich, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen habe. Ihre Erfolge im Gartenhaus hatten bei den Kellers tiefen Eindruck gemacht, und so ließen sie ihr in ihrem Vorgehen völlig freie Hand. Helen schlief auch weiterhin bei Annie; das Kind sollte sich ganz und gar auf sie verlassen, und außerdem:
«Ich finde es viel besser, sie nicht zu festgesetzten Zeiten zu unterrichten, sondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit … Den ganzen Tag hindurch buchstabiere ich ihr alles, was wir tun, in die Hand, obwohl sie noch nicht begriffen hat, was dieses Buchstabieren bedeutet.»
Dann aber, an einem köstlichen, duftigen Frühlingsmorgen, genau einen Monat und zwei Tage nach ihrer Ankunft in Tuscumbia, am 5. April 1887 – weder Annie noch Helen konnten jemals diesen Tag, dieses Datum vergessen –, ereignete sich etwas, das eine glückselig aufgeregte Annie in ihr Zimmer eilen ließ, wo sie ihre Schreibmappe mit derart zitternden Fingern öffnete, dass Schreibpapier und Briefmarken in allen Richtungen zu Boden flatterten. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie sich niederließ, um Mrs. Hopkins ihre Freudenbotschaft mitzuteilen:
«Ich muss Ihnen heute Morgen eine Zeile schreiben, denn etwas sehr Wichtiges hat sich ereignet. Helen hat gelernt, dass jedes Ding einen Namen hat und dass das Fingeralphabet der Schlüssel zu allem ist, was sie zu wissen verlangt.
In einem früheren Brief schrieb ich Ihnen, dass die Wörter ‹mug› (Becher) und ‹milk› (Milch) Helen mehr Mühe machten als die übrigen. Sie kannte das Wort für trinken nicht, sondern machte die Pantomime des Trinkens, so oft sie ‹mug› oder ‹milk› buchstabierte. Als sie sich heute früh wusch, fragte sie nach dem Wort für ‹Wasser› … Ich buchstabierte es und dachte bis nach Beendigung des Frühstücks nicht mehr daran. Dann fiel mir ein, dass ich ihr vielleicht mithilfe dieses neuen Wortes die ‹mug-milk›-Schwierigkeit entwirren könnte. Wir gingen hinüber zum Pumpenhaus, und ich ließ Helen ihre Hand unter den Wasserstrahl halten, während ich pumpte und ihr ‹w–a–t–e–r› in die freie Hand buchstabierte. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten, über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt. Ihr Gesicht leuchtete auf. Sie buchstabierte das Wort ‹water› mehrere Male. Dann kauerte sie sich nieder, berührte die Erde und fragte nach deren Namen. Sie deutete auf die Pumpe, das Gitter, dann wandte sie sich plötzlich um und fragte nach meinem Namen. Ich buchstabierte ‹teacher› (Lehrerin). Gerade in diesem Augenblick brachte die Kinderfrau Helens kleine Schwester in das Pumpenhaus, Helen buchstabierte ‹baby› und deutete auf die Kinderfrau.» Auf dem ganzen Rückweg zum Haus war Helen sehr erregt und voller Freude. Sie berührte jeden Gegenstand in ihrer Reichweite und zupfte an Annies Ärmel, um seinen Namen zu erfragen. Annies Finger zitterten derart, dass sie die Wörter kaum zu buchstabieren vermochte. Atemlos berichtete sie Mrs. Keller von dem wunderbaren Ereignis und stürzte dann die Treppe hinauf, um ihren Brief an Mrs. Hopkins zu schreiben. Helen Keller hatte das Seil gefunden, das sie «aus ihrem tiefen, stummen, finsteren Schacht herauf in das Licht der menschlichen Gemeinschaft» ziehen würde.
Während Annie schrieb, flitzte Helen mit vor Freude strahlendem Gesicht im Zimmer umher, berührte die vertrauten Gegenstände und buchstabierte die neu gefundenen Namen rasch in die Luft: «Tür», «Bett», «Süßes» und schließlich immer wieder das Wort ‹teacher›, das ihr das liebste aller Wörter werden sollte. Sie trat nahe an Annie heran und berührte zart ihr Haar und ihre Wangen, während ihre Finger immer wieder die Buchstaben ‹t–e–a–c–h–e–r› wiederholten. Annie ließ ihre Feder sinken und drückte das Kind fest an sich.
Es war ein wunderbarer Tag. Helen konnte nicht genug bekommen an neuen Wörtern. Wohin sie auch ging – was immer sie anfasste, stets rührte sie fragend an Annies Hand, und wenn Annie ihr das Wort vermittelt hatte, schien der ganze kleine Körper des Kindes vor Glück zu beben. Außer den Substantiven begriff sie nun auch die Bedeutung von Verben – ‹rennen›, ‹sitzen›, ‹laufen› – und von Befehlen wie ‹geh›, ‹komm›, ‹gib›. So durstig wie Wasser an einem heißen Tag trank Helen Wörter in sich hinein.
Als es Abend wurde, waren Annies Finger zwar müde, doch empfand sie diese Müdigkeit als angenehm, vor allem beim Anblick von Kate Kellers Antlitz, als Helen auf ihren Schoß kletterte und ‹Mutter› buchstabierte.
Es war deutlich zu spüren, wie die ganze Atmosphäre des Hauses von Freude durchzogen war. Selbst die Dienstboten grinsten von einem Ohr zum anderen und bestaunten Helen geradezu ehrfürchtig. Ihr Vater aber folgte seiner kleinen Tochter auf Schritt und Tritt, und seine Augen weideten sich an ihren winzigen Fingern, die sich so flink bewegten.
Als Annie an diesem Abend aufstand, um Helen zu Bett zu bringen, und der Familie gute Nacht sagte, erhob Captain Keller sich von seinem Stuhl und trat auf sie zu. Er versuchte etwas zu sagen, doch die Stimme versagte ihm, und auch Annies Stimme wollte ihr kaum gehorchen, als sie mit einem ‹Danke, Sir!› seinen krampfhaften Händedruck beantwortete.
An jenem Tag war Annies Freudenbecher bis an den Rand gefüllt. Endlich einmal, so dachte sie, als sie sich anschickte, zu Bett zu gehen, blieb nichts mehr zu wünschen übrig! Jedoch ihr Brief an Mrs. Hopkins enthielt am nächsten Morgen noch eine Nachschrift:
«Als ich gestern Abend zu Bett ging, schmiegte Helen aus eigenem Antrieb sich in meine Arme und gab mir zum ersten Mal einen Kuss. So voller Freude war mein Herz, dass ich glaubte, es müsse springen!»
Und Helen selbst schrieb später über diesen Abend: «Es gab wohl kein glücklicheres Kind als mich am jenem Abend, als ich am Schluss dieses ereignisreichen Tages in meinem Bett lag und an die Freuden dachte, die mir zuteil geworden waren, und zum ersten Mal sehnte ich den kommenden Tag herbei.»
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