Kitabı oku: «Das Alphabet der Kindheit», sayfa 2
Anders sein
»Kinder ertragen absolut keine Unterschiede. Sie lehnen sie ab, weil sie darunter leiden.«
Aldo Naouri
Seltsame, vertrackte Welt. Manche Kinder sind anders. Manche Kinder fühlen sich anders, und manche wollen anders sein als sie sind. Wie soll man sich da zurechtfinden?
Mir geht das Mädchen Muriel nicht aus dem Kopf. Ich traf sie im Sommer 1990. Muriels Vater stammt aus Ghana, ihre Mutter aus Berlin. Muriel war acht Jahre, ihre dunkle Haut samtweich. Ihr Körper vibrierte vor Bewegung, und ihr Lachen steckte alle an. Zum Sommerfest trug sie Blumen im Haar, hatte Glanz in den Augen. Doch ihre Mutter erzählte mir, dass sie abends, wenn keiner sie sah, Penaten-Creme unter ihrem Kopfkissen hervorholte und sich die weiße Paste ins Gesicht schmierte, um weiß zu sein wie die anderen.
Kinder, die sich wie Muriel durch Haut- oder Haarfarbe, durch Sprache und Verhaltensweisen spürbar vom Rest der anderen unterscheiden, sind exponiert. Ihre Umgebung begegnet ihnen mit Neugier und Faszination, die allerdings unvermittelt in ihr Gegenteil umschlagen können. Dann nämlich, wenn sie die Rolle des niedlichen und gefälligen Fremdlings verlassen, wenn sie eigenwillig oder gar zornig werden. Kinder spüren dies. Sie genießen die Zuwendung, aber insgeheim ersehnen sie ein Leben in Normalität, nicht aufzufallen und unter den anderen »zu sein wie sie«.
Zwanzig Jahre später hat sich viel geändert. Wer heute am Zaun eines Schulhofs steht, entdeckt gerade in Großstädten eine viel größere kulturelle Buntheit. Sprachen purzeln durcheinander, und niemand wundert sich über Kinder, die anders aussehen, andere Feste feiern und anderes Schulbrot essen.
Aber das Problem des Andersseins ist nicht vom Tisch. Es bedarf durchaus nicht dunkler Hautfarbe oder fremdartigen Aussehens, dass sich Kinder auch heute anders und damit infrage gestellt fühlen. Eine große Anzahl von Jungen und Mädchen nehmen sich deutlich anders als die sie umgebende Gruppe wahr, und sie durchleben damit einen tief menschlichen Konflikt: Schon das Kind sehnt sich danach, seine Individualität auszuleben, mit all seinem Begehren, seinen Macken und Fantasien. Und zugleich fürchtet es, damit anzuecken oder gar ausgestoßen zu werden. Aus dieser Angst heraus nimmt es sich oft in seiner Individualität zurück und sucht Schutz in der Konformität der Gruppe, es taucht ganz einfach unter zwischen den anderen. Die Schriftstellerin Cordelia Edvardson, Tochter einer christlichen Mutter (Elisabeth Langgässer) und eines jüdischen Vaters, beschreibt die Spannung, die sie als Kind während der Nazizeit aufgerieben hat: »Das Mädchen selber war hin und her gerissen zwischen dem Stolz darüber, ›anders‹ zu sein, einem Stolz, der immer zweifelhafter wurde, und dem hoffnungslosen Wunsch, dazuzugehören, so zu sein ›wie alle anderen‹«.23
Nicht nur Muriel wünschte sich in eine andere Haut. Erstaunlich viele Kinder wollen ohne offensichtlichen Grund anders sein: klüger, hübscher, musikalischer, sportlicher. Sie ersehnen sich einen anderen Körper, andere Augen oder andere Haare und mitunter auch ein anderes Wesen, vielleicht auch ein anderes Geschlecht. Und beängstigend viele Kinder neigen dazu, sich über den Mangel zu definieren, über das ihnen vermeintlich Fehlende, über das, was sie eigentlich sein wollen oder glauben, sein zu sollen.
Warum definieren sich Kinder über den Mangel? Warum glauben sie, anders und besser sein zu müssen? Die Antwort darauf ist nicht leicht, sie führt uns zurück in die früheste Lebenszeit des Kindes. Die ersten Wochen und Monate des Lebens sind die prägende Phase, in der das Kind schrittweise Vertrauen in seine Welt entwickelt. Wenn das Kind von Vater und Mutter vorbehaltlos angenommen wird, wenn ihm durch Sprache und Verhalten vermittelt wird: »Ja, du bist das Kind, das wir uns gewünscht haben«, dann ist dies die nährende Basis für das spätere Selbstgefühl und Vertrauen in die Welt. Dann ist das Kind richtig und muss nicht danach trachten, anders zu sein. Das kleine Mädchen muss nicht der ersehnte männliche Stammhalter sein, um sich akzeptiert zu fühlen. Der kleine Junge muss kein Genie sein, um den Vater stolz zu machen. Das Kind muss nicht anders sein, als es ist. Der Tiefenpsychologe Erik H. Erikson bezeichnet dieses besondere Gefühl des Kindes mit der schönen Formel Urvertrauen.24 Ein starkes Wort und eine gute Vorstellung. Ein Kind, das sich seiner selbst sicher ist, wird es später nicht nötig haben, in die Haut eines anderen schlüpfen zu wollen – es sei denn als Schauspieler.
Wenn Kinder sich wünschen, anders zu sein, erfahren die Eltern dies nur selten und Lehrer so gut wie nie. Kinder halten diese Sehnsüchte lieber geheim, weil die damit verbundenen Gefühle hoch empfindlich sind und sie zu Recht befürchten, dass die Erwachsenen ihre Fantasien zerstören könnten.
Mit dem Wunsch zum Anderssein verdichten sich so viele Geheimnisse, so viele Lebensrätsel. Und alle kreisen nur um die eine nach Antwort drängende Frage: »Warum bin ich anders?«
Eine klassische Lösung – und damit Erlösung für das Kind – ist die Erklärung, dass es womöglich aus einer anderen Familie stammt und vielleicht nur durch Zufall hierher geraten ist: »Ich bin das Kind eines (einer) anderen.« Im Märchen würde es heißen: »Ich bin das Kind eines Königs«, als Zeichen der Erhöhung, denn nach Erniedrigung sehnt sich das Kind wohl kaum, wobei auch dies möglich ist. Sigmund Freud bezeichnet solche Fantasien als Familienroman.25
Demnach erdichten sich zahlreiche Kinder, die sich in ihrer eigenen Haut, beziehungsweise in ihrer Familie, nicht zu Hause fühlen, ihre eigene, für sie stimmige Geschichte, um sich selbst zu beschwichtigen und zu versöhnen. Typisch für diesen Familienroman ist immer, dass das Kind ihn für sich als Geheimnis bewahrt. Niemand, wirklich niemand, darf daran rühren.
Fassen wir zusammen. Jedes Kind ist ein einzigartiges Wesen. Jedes Kind entwickelt unter vielen Wachstumsschmerzen sein eigenes Ich. Und je intensiver dieser Prozess sich vollzieht, desto deutlicher nimmt das Kind seine Einzigartigkeit auch als Andersartigkeit wahr. Es gibt Wachstumsschmerzen, die wir unseren Kindern nicht ersparen können, das müssen wir als Erwachsene ohne Schrecken und ohne Schuldgefühle akzeptieren. Das irritierende Gefühl, anders zu sein als die anderen, gehört dazu.
Angst
»Als Kind: meine Liebe äußerte sich als Angst.«
Peter Handke
Ich muss damals neun gewesen sein. Meine Mutter hatte kurz vorher ein zweites Mal geheiratet, den Lehrer meines Bruders, und natürlich war dies ein aufregendes Ereignis für unsere Familie. Allerdings liegt all das, die Hochzeit, das Vorher und Nachher in meiner Erinnerung ganz im Dunkeln. Nicht aber die folgende zeitgleiche Szene: Meine Eltern besuchten mit meinem Bruder und mir einen Zirkus in einer nahe gelegenen Stadt. Spaßeshalber versteckten sich die drei ganz plötzlich hinter einem Zirkuswagen – und ich war wie verloren. Nie werde ich den Schrecken, diese Mischung aus Ohnmacht und Traurigkeit vergessen, wie ich mutterseelenallein inmitten des Zirkusgetümmels ins Leere schaute, nicht wissend, in welcher Richtung ich suchen sollte. Merkwürdig, viele meinen, dass es stets große, dramatische Ereignisse sind, die das Kind ängstigen. Dabei kann schon die geringste, scheinbar banale Begebenheit das Kind in Angst und Schrecken versetzen – nämlich wenn es sich allein gelassen fühlt. Dann verliert es den Boden unter sich.
Die Hauptangst des Kindes besteht darin verlassen, vergessen, ausgesetzt zu werden, also die (An-)Bindung zu denen, die es liebt, zu verlieren. Alles andere, was wir gemeinhin Kinderängste nennen, sind im Grunde nur unterschiedliche Grade und Erscheinungsweisen dieser Urform der Angst.
Zur menschlichen Grundausstattung gehört die Angst, sie begleitet uns von Beginn an und nicht selten bis zum letzten Atemzug. Angst ist nicht nur ein mentaler, sondern ein durch und durch körperlicher Zustand: Angst lässt uns in die Hose machen, sie lässt unser Herz rasen und reißt uns schweißnass aus dem Schlaf. Angst essen Seele auf, wie ein bekannter Filmtitel sagt.26
Das Grundmuster aller Ängste ist tatsächlich schon in der Geburt angelegt: Angst kommt von Enge, und beim Durchgang durch den Geburtskanal, getrieben von den mütterlichen Wehen, erfährt das Kind erstmals und im wahrsten Sinn des Wortes jenes Gemisch aus Enge und Angst. Gleichzeitig jedoch erlebt es – und dies ist das eigentliche Wunder der Geburt – die Auflösung der Enge, die Befreiung. Wir wissen nicht genau, wie weit die Erinnerungsspuren an dieses frühe Erlebnis heranreichen, aber ich bin überzeugt, dass diese ersten Angsterfahrungen körperlich in den Zellen gespeichert werden und uns lebenslang begleiten.27
Im Idealfall wird das neugeborene Kind sofort liebevoll aufgenommen, das Geburtstrauma durch Zuwendung, Wickeln und Muttermilch aufgefangen. Doch dies ist nicht immer gegeben. Auch heute noch sterben Kinder, weil sie medizinisch schlecht versorgt werden. Und in der Vergangenheit war es gang und gäbe, dass Kinder während der Geburt oder sofort danach starben. Ungewollte Kinder wurden (und werden auch heute noch) lieblos beiseite gelegt, niemand geht mit ihnen eine Bindung ein.
Neugeborene haben möglicherweise eine instinktive Ahnung davon, dass sie Glück haben, wenn sie bei der Geburt freundlich aufgenommen werden, wenn die Mutter sie bedingungslos annimmt. Und es ist ab sofort ihr Lebens- und Leitmotiv, diese Bindung zu erhalten. Die Allgegenwart der Mutter oder der Erwachsenen schlechthin schützt das Kind vor der Angst. Wo sie fehlt, ist das Kind bedroht. Krieg, Flucht, Zerstörung und andere Turbulenzen können die Kinder oft erstaunlich gut ertragen, solange sie die Hand von Vater oder Mutter halten und solange sie selbst gehalten werden. Sie sind zwar erschreckt und verwirrt, aber sie fühlen sich nie verloren. »Ich war während des Angriffs auf Dresden an der Hand meiner Mutter«, sagt eine Frau, »und erstaunlicherweise habe ich gar nicht geweint.« Geht der schützende Kontakt jedoch verloren, bricht Panik aus. Dann trägt nichts mehr, und das Kind wird von Angst überflutet.
Ängste kommen und gehen. Sie kommen angerollt wie Gewitter, sie treten auf in Gestalt von Hexen, Geistern oder Raubtieren, die das Kind angreifen und in Stücke zu zerreißen drohen. Doch verschwinden Ängste auch wieder und lösen sich wie böse Träume auf. Es nützt wenig, das Kind zu mahnen und seine Angst dumm oder peinlich zu nennen. Dann rächt sie sich, erscheint in anderem Gewand und will erst recht die kleine Seele aufessen.
Ja, Angst ist unsere Begleiterin, sie gehört wesensmäßig zu uns. Und sie ergibt manchmal sogar Sinn, dann nämlich, wenn sie uns vor drohenden Gefahren warnt. Vielleicht sollten wir ihr offener begegnen, wie einem Besucher aus einem fremden Land, der uns etwas zu sagen hat.
Archetyp Kind
»Kleiner als klein, doch größer als groß.«
C. G. Jung
Die meisten von uns leben auf irgendeine Weise real mit Kindern. Wir sehen sie, hören sie, unterrichten oder heilen sie und freuen uns an ihnen. Einige haben aber Gründe, keine Kinder um sich haben zu wollen und stattdessen mit Hunden, Katzen oder Vögeln oder ganz allein zu leben. All das ist möglich – doch niemand kann auf die Kinder in seiner Umgebung nicht reagieren.
Daneben aber – weit über dies Reale hinaus – tragen wir alle ein Bild vom Kind in uns, welches oft wenig bewusst und mitunter sogar ganz unbekannt ist. Dieses Bild existiert völlig unabhängig von unseren eigenen individuellen Kindheitserfahrungen – als Urbild, als Archetypus vom Kind.
Der Begriff Archetypus stammt von Carl Gustav Jung und ist ein Grundpfeiler seiner Tiefen-Psychologie.28 Und in die zeitlichräumliche Tiefe führt dieses Denken tatsächlich. Nach Jung tragen wir Menschen nämlich nicht nur die Nachwirkungen unseres eigenen, individuellen Erlebens in uns – und dies ist schon viel –, sondern wir haben darüber hinaus menschheitsgeschichtliche Ablagerungen gespeichert. Wie die Ringe alter Bäume tragen wir die Erinnerungsspuren unendlich vieler vorhergehender Generationen in uns. Die Sprache dieser Erinnerungsspuren zu entschlüsseln fällt uns nicht leicht. Aber die alten Bilder leben in uns und werden wirksam in unseren Träumen, in Ängsten und Visionen und in Momenten besonderer seelischer Wachsamkeit.29
Der Kindarchetypus birgt viele Aspekte. Am aufregendsten erscheint mir das Motiv »kleiner als klein, doch größer als groß«, wie Jung es benennt, jene krasse Polarität und die dazugehörige gefahrvolle und gleichzeitig lustvolle Bewegung zwischen diesen beiden Seinszuständen.
Das neugeborene und gar das ungeborene Kind: Ist es nicht kleiner als klein? Ist es nicht unendlich fragil und bedroht von Anfang an? Und gleicht es nicht einem Wunder, wenn es trotz dieser Bedrohtheit und durch sie hindurch überlebt und seinen Weg findet? Das Wunder ist tatsächlich so groß, dass wir es kaum angemessen in Sprache fassen können. Wie matt sind Worte, wenn es um das Überleben geht, das den meisten von uns als selbstverständlich erscheint.
Deshalb brauchen wir starke Bilder, die über Worte hinausreichen. Deshalb brauchen wir Mythen und Märchen, die das Wunder des Großwerdens unter Gefahren immer wieder neu beschwören und die den Segen betonen, der darin liegt, heil daraus hervorgegangen zu sein. Da wird ein Kind als Däumling geboren, als Dummling oder gar als Tier (»kleiner als klein«), und es wächst doch heran, allen Widrigkeiten zum Trotz wird es doch »größer als groß«: Es wird zum Menschen. Das im Korb ausgesetzte und todgeweihte Moses-Kind wird zum Befreier seines Volkes. Die Söhne und Töchter von Bauersleuten, also kleiner Leute im Sinne der sozialen Hierarchie, bestehen Prüfungen und werden zu Königen und Königinnen erhoben und damit doch »größer als groß«.
Der Archetypus meidet das mittlere Maß. Er liebt die Extreme. Und er schöpft aus dem tiefen Brunnen der menschlichen Erfahrung: Die Bedrohung des Lebens und die darauf folgende Errettung ist wohl die dramatischste existenzielle Erfahrung, die ein Mensch durchleben kann, zumal wenn sie (s)einem Kind widerfährt.
Was den Archetypus des Kindes für uns so faszinierend, gleichwohl so schwer fassbar macht, ist seine Offenheit nach allen Seiten hin. Offen hinsichtlich der zeitlichen Dimension umfasst der Kindarchetypus alles Vergangene, alles Gegenwärtige und alles Zukünftige. Kindheit ist ein fließender Strom, darin kreuzen sich Kinderschicksale millionenfach, und auch zukünftig werden Kinder die Erde bevölkern und ihr menschliches Potential entfalten. Dabei unterstreicht Jung vor allem den Zukunftscharakter des Kindarchetypus, wenn er sagt: »Das Kind ist potentielle Zukunft.«30 Vielleicht ist dies überhaupt der für uns kostbarste Aspekt des Kindarchetypus, das Kind als Repräsentant von Zukunft und damit Hoffnung – und für manche sogar Heil (»Denn euch ist heute der Heiland geboren«).
Offen ist der Kindarchetypus auch hinsichtlich der menschlichen Möglichkeiten, denn diese sind gewissermaßen unendlich. Das neugeborene Kind trägt alle Möglichkeiten in sich: Es kann Briefträger werden, Mathematiker, Raumfahrer oder Opernsänger. Im Kindarchetypus ist dieses unendliche Potential voll existent; letztlich entscheidet die Biografie darüber, wie das Kind es in seinem Leben umsetzt.
Was wir soeben über den Archetypus sagten, seine Verknüpfung mit menschheitsgeschichtlichen Erinnerungsspuren, seine Zukunftsbezogenheit und sein Alternieren zwischen den Polen »kleiner als klein« und »größer als groß« – all dies sind innere Bilder. Wir sollten sie als solche begreifen und wertschätzen und ihnen großzügig Raum in uns geben. Leben ist Leben. Bilder sind Bilder. Und Archetypen sind Archetypen. Und dennoch: Alles ist eins.
Atem
»Die Atemzüge dieser Kinder, all dieser Kinder, und das soll uns nicht retten?«
Elias Canetti
»So können wir den kreativen Impuls als etwas Eigenständiges betrachten, das natürlich notwendig ist, wenn ein Künstler ein Kunstwerk erschafft, das aber auch bei jedem anderen vorhanden ist – sei es nun ein Kleinkind, ein Kind, ein Jugendlicher, ein Erwachsener oder ein Greis. Im augenblicksbezogenen Leben eines Kindes, das sich am Atem erfreut, ist es ebenso vorhanden wie in der Inspiration eines Architekten, dem plötzlich einfällt, wie er etwas bauen kann.«31 Dies schreibt Donald W. Winnicott in seinem Buch Vom Spiel zur Kreativität. Dass da jemand wie er, als gestandener Psychoanalytiker und Kinderarzt, den Atem nicht als passives Geschehen, sondern als »kreativen Impuls« eines Kindes deutet, ist, zumindest in unserer Kultur, außergewöhnlich.32 Wir nehmen den Atem des Kindes als derart selbstverständlich gegeben an, dass wir uns seiner Schönheit, seines Rhythmus, seines Klangs, seines Geruchs und seiner Vibrationen gar nicht wirklich gewärtig sind. Wir würden in Gesellschaft anderer Erwachsener leicht lächerlich erscheinen, wenn wir offenbarten, wie sehr uns der Atem unseres Kindes fasziniert. Stattdessen unterhalten wir unsere Mitmenschen – oder sie uns – mit Geschichten über PolypenOperationen und Zahnspangen.
Dabei ist doch gerade der Atem das Kostbarste und Wunderbarste, was das Kind in sich trägt. Ohne Atem kein Leben. Atem ist Leben, und das wissen wir (theoretisch) alle. Warum begegnen wir diesem Wunder so wenig achtsam?
Für den Atem fehlt uns, ebenso wie für die vielschichtigen Vorgänge des Körpers oder einzelner Organe im gesunden Zustand, meist die Sprache. Erst wenn ein Teil des Körpers aussetzt, wenn wir uns krank fühlen, finden wir Worte. Erst wenn der Atem spürbar schwer wird, wie beim Asthma, wenn er ins Stocken gerät oder wenn er zu rasen beginnt wie etwa in einem epileptischen Anfall, nehmen wir ihn bewusst wahr und können ihn benennen. Und erst wenn der Atem plötzlich versagt wie beim plötzlichen Kindstod, offenbart sich seine existenzielle Bedeutung.
Heute gibt es nur noch selten Hausärzte oder gar Mütter und Väter, die, den Kopf an den Leib des Kindes gepresst, seinen Atem abhorchen. Dabei wäre es aufschlussreich, etwas über die Atemtätigkeit des Kindes zu erfahren – nicht nur an kranken, sondern auch an gesunden Tagen. Oder in Momenten, in denen das Kind Stimmungen ausgesetzt ist, die es allein nicht mehr regulieren kann. Wie atmet eigentlich das erregte Kind? Oder gar das hyper-erregte? Wie atmet das traurige Kind oder das depressive? Wie atmet das Kind, das nicht in den Schlaf findet? Lässt sich über den Atem lenkend eingreifen, wenn das Pendel in die eine oder andere Richtung ausschlägt? Mit anderen Worten: Lässt sich der Atem besänftigen? Lässt sich der Atem – und damit das Kind – erheitern, lebendiger, mutiger machen?
Tatsache ist, dass bei Kindern, stärker noch als bei Erwachsenen, der Atem auf alle Handlungen und Seelenregungen sensibel reagiert und mitschwingt:
– ein Schock verschlägt dem Kind den Atem,
– aus Angst muss es den Atem anhalten,
– nach einer schweren Anstrengung muss es erst einmal tüchtig durchatmen,
– beim Lernen in der Schule braucht es immer wieder Atempausen
– und die Eltern verlangen von ihm, dass es, wenn es etwas gründlich lernen will (wie beispielsweise ein Musikinstrument), einen langen Atem haben muss.
Überall in der Menschwerdung ist der Atem präsent, ganz konkret und ebenso stark im übertragenen Sinne. Im antiken Mythos entspricht Atmung dem Akt der Zeugung selbst, eine Vorstellung, die sich gleichfalls in manchen Märchen widerspiegelt, wenn etwa der Atem eines Tieres ein junges Mädchen zu schwängern vermag.33 Auch der Wind hat Zeugungskraft, und so verschmelzen im Unbewussten der individuelle Atem mit dem großen Atem der Erde selbst. Wie recht hatten doch die alten Rabbiner im Talmud Sabbat, wenn sie davon sprachen, dass die Welt nur aus dem Hauch (ruach) der kleinen Kinder bestehe!