Kitabı oku: «Das Alphabet der Kindheit», sayfa 3
Autismus
»Der Schlüssel zum Autismus ist der Schlüssel zum Wesen des Menschen.«
L. Wing
Dieses Kapitel ist das einzige innerhalb des Alphabets der Kindheit, das sich mit einem psychiatrischen Krankheitsbild befasst. Dabei ist meine Wahl keineswegs zufällig. Wir müssen manchmal, um die sogenannte normale, gesunde Entwicklung des Kindes besser zu verstehen, Umwege machen, und zwar Umwege über Abweichungen, über Extreme, über Krankheit gar. Dem Normalen gegenüber sind wir hin und wieder betriebsblind. Wir sehen es einfach nicht. Wir öffnen die Augen erst für die Abweichung. Hier horchen wir auf, hier reagieren wir. Und aus dieser Perspektive begreifen wir bisweilen das Wesen dessen, was wir gemeinhin als normal wahrnehmen. Thomas Mann bezeichnet die Pathologie als ein anthropologisches Erkenntnismittel ersten Ranges.34 Nehmen wir hier den Autismus als Pathologie, so gibt er uns tatsächlich eine besondere Möglichkeit, zu verstehen – und zwar in vielerlei Hinsicht:
Erstens: Wir können erkennen, wie unendlich nahe Gesundheit und Krankheit liegen. In Wirklichkeit sind die Grenzen überaus fließend. Schauen wir zunächst auf die Merkmale, die dem autistischen Kind allgemein zugeordnet werden. Wichtigstes Leitmotiv ist das schwach ausgeprägte Ich-Gefühl und entsprechend keine wirkliche Vorstellung von einem Du. In der Sprache haben autistische Kinder unterschiedlich ausgeprägte Defizite (Umkehrung von Worten, Echolalie oder auch völliger Sprachausfall). Ihr Schlaf ist häufig gestört und ebenso ihr Essverhalten. Viele der Kinder leiden an körperlichen Ticks, bizarren oder auch stereotypen Gebärden mit den Händen, den Armen und Beinen und/oder dem gesamten Körper. Fast alle schwanken extrem in den Stimmungen. Es fällt ihnen schwer, symbolisch wahrzunehmen, und gleichzeitig fallen einige durch außergewöhnliche, meist einseitige intellektuelle, zeichnerische oder musische Begabungen auf. Ganz generell sind sie »einfach anders in die Welt gestellt«.35
Wenn wir uns diese Merkmale im Einzelnen anschauen, sind all diese Erscheinungen in abgeschwächter Form bei einer Vielzahl von Kindern zu beobachten. Welches Kind hat nicht, zumindest temporär, Essstörungen oder Schlafprobleme? Welches Kind schwankt nicht in seinen Stimmungen und ist zeitweise ganz auf sich selbst zurückgeworfen – ohne Beziehung und ohne Einfühlung in das Du? So gut wie alle diese autistischen Züge gehören zum Bild und ebenso zum schwankenden Selbstbild der allermeisten Kinder.
Damit Autismus Krankheitswert erhält, müssen diese Merkmale so stark ausgeprägt sein, dass sie das betroffene Kind in seinem Wachstum ernstlich behindern und stören und dadurch auch seine Umgebung in Mitleidenschaft gezogen wird. Selten ist es das Kind selbst, das an seinem Sosein leidet, es sind die anderen, die es als autistisch wahrnehmen und es sein Anderssein spüren lassen, und oftmals schafft erst dies das eigentliche Leiden des autistischen Kindes. Auf die Frage »Ray, bist du autistisch?« antwortete der Rain Man im gleichnamigen Film: »Ich glaube nicht. Nein. Definitiv nicht.«36
Zweitens: Wir können erkennen, wie irritierend und zugleich fragwürdig
Diagnosen und Krankheitszuweisungen sind.
Es versteht sich, dass im Fall einer gravierenden Einschränkung des Kindes – dann nämlich, wenn es nicht wirklich sein Ich entwickelt, wenn es gar nicht in die Sprache hineinfindet und wenn es nicht in der Lage ist, soziale Kontakte mit anderen aufzubauen – Psychologen und Psychiater zu Hilfe geholt werden. Sobald die Eltern Anzeichen von Autismus bei ihrem Kind spüren, verlangen sie nach Diagnose und Rat.
Genau hier beginnt das Dilemma. Da das Spektrum der Syndrome so extrem breit gestreut ist und sich häufig mit anderen Entwicklungsstörungen oder psychiatrischen Krankheitsbildern kreuzt beziehungsweise überlagert, fallen die Diagnosen für kindlichen Autismus extrem unterschiedlich und bisweilen willkürlich aus. Unterschiedlich sind sowohl die Instrumente der Diagnostik37 als auch die theoretischen Standpunkte der Diagnostizierenden.
Die wissenschaftliche Forschung ist seit der fast zeitgleichen Entdeckung des Autismus als eigenes Krankheitsbild durch den Amerikaner Leo Kanner (1943) und den Österreicher Hans Asperger (1938) bis heute systematisch fortgeschritten und wird auffallend kontrovers diskutiert.38 Verschiedene Disziplinen konkurrieren mehr oder weniger unerbittlich um ein tieferes Verständnis der Krankheit – Genetik und Epigenetik, neurobiologische und neurochemische sowie psychologische Theorieansätze39 –, teilweise unter Einbeziehung, teils unter strikter Ausblendung psychoanalytischer Befunde und Erfahrungen.40 Und seit einigen Jahren registriert man überdies einen »rätselhaften Anstieg«41 der Diagnosestellung Autismus (beispielsweise eine Verdoppelung der Fälle zwischen 2000 und 2010). Rätselhaft ist allerdings die Frage, ob die Krankheit mit ihrer ganzen Schwere wirklich derart um sich gegriffen hat, oder ob nicht die Theorien und Methoden zur Erfassung der Störung derart inflationär missbraucht werden, dass die Statistiken kaum mehr aussagekräftig sind.
Und drittens: Wir können erkennen, dass Krankheit (auch) ein Spiegel der Gesellschaft ist.
Rätselhaft bleibt weiterhin, ob tatsächlich – wie oben vermutet – nur die Diagnosestellung Autismus extrem zugenommen hat oder ob nicht doch die Kinder derzeit wesentlich leichter und häufiger autistisch krank werden. Man muss nicht kulturpessimistisch sein, um unter den Menschen Phänomene und Verhaltensweisen zu entdecken, die man deutlich als autistisch gefärbt erkennen kann: Elternpaare, die aneinander vorbeischauen; stillende Mütter am Notebook; Familien, die nicht zusammen essen; Menschengruppen, in denen wenig oder gar nicht gesprochen wird; Techniksucht; Fühllosigkeit und Mangel an Empathie; Zahlenfetischismus; roboterhafte Bewegungen. Die Liste autistisch gefärbten Verhaltens ließe sich mühelos erweitern. All dies sind Botschaften einer Gesellschaft, die sich, in tausend Gewändern verkleidet und chronisch verabreicht, in der unendlich porösen und plastizierbaren kindlichen Seele niederschlagen und diese nachhaltig prägen.
Eine Gesellschaft produziert nicht nur körperliche Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Herzleiden, sondern auch seelische Leiden, Depressionen, Süchte, und womöglich auch die verschiedenen Ausformungen von Autismus. In vielen Verhaltensweisen autistischer Kinder kann man, gleichsam wie in einem Spiegel, Zerrbilder des typischen Habitus unserer (westlichen) Gesellschaft entdecken.
Nein, Krankheiten, auch Kinderkrankheiten, fallen nicht vom Himmel. Die wissenschaftliche Forschung soll durchaus weitergehen. Die eigentliche Forschung steht aber da an, wo wir uns als gesellschaftliche Subjekte immer wieder neu fragen müssen, in welche Welt wir unsere Kinder eigentlich entlassen. Welchen Nährboden bereiten wir ihnen, damit sie gut wachsen können? Welches Immunsystem schenken wir ihnen von Anfang an? Wo liegt unser aller Beitrag – jenseits der Gene –, dass so viele unserer Kinder autistisch erkranken?
B
»Wer A sagt,
muss auch B sagen.
Er kann aber
auch erkennen,
dass A falsch war.«
Bertolt Brecht
Baum
»Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden und tauscht bei ihnen seine Seele um.«
Erich Kästner
Früher pflanzte man zur Geburt eines Kindes im Garten einen Baum. Am liebsten einen Apfelbaum. Ein schöner Brauch. Jeder weiß, dass Kinder ganz anders wachsen als Bäume, und dennoch tragen wir tief in uns die Überzeugung, dass es eine Analogie zwischen beiden gibt, dass das Kind doch ein bisschen dem Baum gleicht und umgekehrt. Und selbst wenn man diese Überzeugung nicht teilen will, so wird doch jedermann leicht nachvollziehen können, dass es da eine Nähe gibt, eine Anziehung, vielleicht sogar Liebe zwischen Kind und Baum.
Natürlich ist kein Kind so töricht, laut und offen davon zu sprechen. Wie so viele andere Dinge, die dem Kind heilig sind, hält es sein Wissen lieber geheim. Erst als Erwachsener schreibt deshalb der spanische Dichter Federico García Lorca diese Zeilen über die Pappeln seiner Kindheit: »Ich spreche heute zum ersten Male davon. Es hat immer nur mir allein gehört. Es war etwas so Intimes, Privates, dass ich es nicht einmal selbst analysieren wollte. Als Kind lebte ich inmitten der Natur. Wie für alle Kinder hatte auch für mich jedwedes Ding, jedes Möbel, jeder Gegenstand, Baum oder Stein, eine Persönlichkeit. Ich sprach mit ihnen und liebte sie. Im Hof unseres Hauses standen Pappeln. Eines Nachmittags kam es mir so vor, als wenn die Pappeln sängen. Der Wind zwischen den Zweigen erzeugte ein Geräusch aus verschiedenen Tönen – mir klang es wie Musik. Und ich begleitete das Lied der Pappeln oftmals viele Stunden mit meinem Gesang. Einmal hielt ich verblüfft inne. Da sprach jemand meinen Namen, jede Silbe für sich, als buchstabierte er: ›Fe-de-ri-co.‹ Ich sah mich um, aber da war niemand. Und doch zirpte mir jemand weiter meinen Namen ins Ohr.«42
Der Baum besitzt seine reale Gestalt und gleichzeitig gibt er Raum für Projektionen aller Art. Jedes Kind sucht und findet in ihm genau das, was seine Seele braucht. Für Pippi Langstrumpf ist die Baumhöhle der Ort, an dem man die schönsten Schätze findet. Im Märchen vom Fundevogel wird das entführte Kind in einer Baumkrone versteckt, aber auch glücklich wieder entdeckt. Für manche Kinder ist der Baum das Objekt erster naturwissenschaftlicher Neugierde, es sammelt Bucheckern und Blätter, schnitzt sich Stöcke und zählt die Jahresringe. Kein Kind, das sich nicht danach sehnt, in einem Baumhaus zu thronen, und kein Kind, das nicht gierig ist nach den Früchten der Bäume, nach Äpfeln, Birnen und Nüssen.
Wir Erwachsenen vergessen leicht und müssen uns immer wieder zurückerinnern: Als Kind waren wir eins mit der Natur. Alles war in ihr lebendig. Wenn ein Baum gefällt wurde, dann spürten wir die Schmerzen körperlich, und manchmal weinten wir sogar. Heute gibt es nur noch wenige Familien, die zur Geburt des Kindes einen Baum pflanzen, und wenige Familien mit Gärten, auf deren Bäume die Kinder klettern können. Aber Bäume gibt es überall, an jeder Straßenecke, in jedem Park, an fast jedem Bahnhof oder städtischen Platz.
Eine Berliner Kindergruppe kam kürzlich auf die Idee, dass jedes Kind sich einen Patenbaum sucht, seinen Baum, der durchaus auf einem öffentlichen Gelände stehen kann. Jedes Kind darf mit seinem Baum irgendetwas Besonderes anstellen, ein Vogelhaus oder Schmuck an einen Ast hängen, Blumen pflanzen an seiner Wurzel. Manche haben ihren Baum gemalt oder fotografiert oder ihm einen Namen gegeben, kurz: Sie alle haben den Baum zu ihrem persönlichen Freund gemacht. Alles ist ein Spiel der Fantasie, aber diese Kinder sind nicht die ersten, die sich auf ihre Weise mit Bäumen verbinden. Schon in der Bibel finden wir sie, diese innere Nähe zu den Bäumen. Da gibt es die Geschichte von der Heilung des Blinden. Als dieser nach Jesus’ Handauflegen die Augen öffnet, sagt er staunend: »Ich sehe Menschen gehen, als sähe ich Bäume.«43
Bindung
Elliott: »E. T.! Bleib bei mir!
Bitte, bleib mit mir zusammen!«
Steven Spielberg
In Steven Spielbergs Film E. T. sucht ein kleiner Junge Freundschaft, Trost und Vertrauen bei einem Außerirdischen. Hier glaubt er das zu finden, was er in seiner eigenen Familie verzweifelt entbehrt: Bindung. Dieser Film aus dem Jahre 1982, ursprünglich als Kinderfilm konzipiert, hat seine erwachsenen Zuschauer nicht weniger angerührt als die jungen. Das lag sicher nicht nur an Spielbergs Regiekunst, vielmehr spürte jeder Kinobesucher, ob groß oder klein, dass die dramatische Geschichte um E. T. eine tiefe, universale Wahrheit vermittelt: Kein Kind auf Erden kann und will aus freien Stücken allein sein. Jedes Kind will zusammen sein, in Bindung sein: mit einem Menschen, mit einem Tier, mit seiner Facebook-Freundesschar – und notfalls mit einem Außerirdischen. Das ist die Botschaft des Films, und das hat die Menschen, als sie E. T. im Kino sahen, zum Weinen gebracht.44
Die Erklärung für diese Botschaft liegt nahe. Bindung ist, vom Anfang unseres Lebens an, eine absolute Notwendigkeit. Das Neugeborene muss vom ersten Augenblick an angenommen, gefüttert, gewärmt und versorgt werden, um zu überleben. In einem sensiblen, über Wochen und Monate währenden Einigungsdialog45 weben Mutter und Kind das erste Band, welches das Muster für alles spätere Bindungsverhalten abgibt.46 Im Normalfall sind die Mutter und auf seine Weise der Vater von sich aus auch gern bereit, diese Bindung mit dem Kind einzugehen, es zu nähren, zu schützen, und sie werden dafür reichlich belohnt.
Was ist das Wesen der Bindung? Wie können wir sie begreifen, fernab all der wissenschaftlichen Definitionen, in denen man sich so leicht verlieren kann? Vielleicht sollten wir beginnen mit dem, was Bindung nicht ist. Bindung ist nicht automatisch gleichzusetzen mit Liebe und Glück. Interessanterweise – oder sollten wir etwa sagen klugerweise? – bindet sich das Kind anfangs an jeden, der es versorgt und schützt, selbst wenn dies ohne Zeichen von Liebe geschieht und ihm dabei Leid oder Schmerz widerfährt. Es bindet sich auch an Tiere, wie die Geschichten der sogenannten Wolfskinder beweisen. Die Hauptsache ist, in Bindung zu sein, im Schutz und Teil einer Gruppe zu sein. Liebe, Glück und Wohlbehagen sind zwar die erfreulichen und auch häufigsten Beigaben, aber sie sind trotz allem nicht unerlässlich, nicht lebensnotwendig. (Dies ist übrigens der Grund, weshalb im Erwachsenenalter viele Menschen sich an Personen, Orte und Situationen klammern, selbst wenn sie ihnen schaden oder sie gar in Lebensgefahr bringen.)
Lebensnotwendig ist die Bindung selbst. Und da ist es sinnvoll zu unterscheiden zwischen jener Urbindung, der in der Mutter-Kind-Beziehung angelegten Matrix einerseits und dem daraus resultierenden Bindungsverhalten andererseits. Die Bindung ist für das Auge unsichtbar – wie farbloser Klebstoff –, aber höchst wirksam. Sichtbar ist hingegen das wechselnde Verhalten. Bindung erscheint in den unterschiedlichsten Gewändern, sie äußert sich in Sprache, in Gesten und in Taten.
Jede Bindung hat ihre Zeit. Und wenn diese Zeit vorbei ist, müssen alte Bindungen aufgelöst und durch neue eingetauscht werden – ein überaus empfindsamer Prozess für beide Seiten. In den seltensten Fällen geht die Auflösung eines bestehenden Arrangements reibungslos vor sich, ja, die Reibung ist geradezu ein Zeichen dafür, dass eine alte Bindung überholt ist. Wenn dieses seismografische Spüren versagt, wenn Bindungen nicht gelöst werden, kann dies lebenslange und sogar krankmachende Folgen haben.
Zum Glück ist das Kind auch selbst aktiv. Es fordert uns dauernd heraus. Und auch ohne die unmittelbare Gegenwart von Menschen kann es sich in Bindung einüben. Wenn man es lässt, erschafft es sich im Spiel und in der Fantasie ganz ungeahnte Formen von Bindung. Denken wir nur an Christopher Robin, der seinen Bären Pu schuf – mal ungeachtet der Tatsache, dass es der eigene Vater war, der die Geschichte niederschrieb.47 Oder an Anne Frank, die sich, allein und abgeschnitten von Vergangenheit und Zukunft, ihre Brieffreundin Kitty erdichtete, zu der sie in ihrem Amsterdamer Versteck die tiefste und offenherzigste Bindung pflegte. Dass Annes Tagebuch ein so überwältigender Erfolg war, verdankt es sicher nicht nur den tragischen Verhältnissen, unter denen es entstand, sondern vor allem dieser Kraft, gegen die Hoffnungslosigkeit anzuschreiben.48 Anne Frank wollte die Bindung zur Welt niemals aufgeben.
Vielleicht ist es uns jetzt auch leichter, Elliotts Sehnsucht nach seinem E. T. besser zu verstehen: »Bleib bei mir! Bitte, bleib mit mir zusammen!«
Blind
»Die Blindheit ist zwar ein Hemmnis, doch zum Unglück wird sie nur durch den Unverstand.«
Jacques Lusseyran
Der Junge namens Elias kommt mit seinen Eltern in das Kindheitsmuseum.49 Ich hole aus einem Glasschrank die winzigen bleiernen Spielzeug-Tiere. Pferde, Kühe, Schafe, Hasen und darunter – als originelles Unikum – eine Muttersau mit neun säugenden Babys. Elias hält die Schweinegruppe in seiner rechten Hand, streift mit der linken über die Bleifigur, angespannt tastend nach Antwort, was er da in der Hand hält. Das braucht Zeit. Die Mutter, ungeduldig wie manche Mütter sind, will helfen, spricht das Wort aus. Elias schlägt nach ihr. Er will entschieden keine Hilfe. Er will selbst sehen, selbst begreifen.
Wie oft habe ich solche und ähnliche Szenen mit blinden Kindern erlebt. Ach, wenn man sie doch nicht so gnadenlos in die Welt der Sehenden zerren wollte! Wenn man ihnen doch ihre Sichtweise, ihr eigenes Sehen ließe! Die Blindheit, sagt der französische Schriftsteller Jacques Lusseyran, der mit acht Jahren das Augenlicht verlor, »ist zwar ein Hemmnis, doch zum Unglück wird sie nur durch den Unverstand«50, und sicher meint er den Unverstand der Erwachsenen.
Zugegeben: In einer Welt wie der unsrigen, die so stark auf Visuelles ausgerichtet ist, auf Sehen und Gesehenwerden, auf Räume und Raumdurchwandern, fehlt dem blinden Kind etwas Wichtiges. Aber das gesunde blinde Kind besitzt ein ungeheures Potential, diesen visuellen Mangel auszugleichen. Es schafft sich seine eigene kleine Welt, indem es seine übrigen Sinne, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken, auf wunderbare Weise einsetzt und damit alles verzaubert: »In wenigen Monaten«, schreibt Lusseyran, »war mein persönliches Universum zu einem Farbatelier geworden … Ich war nicht Herr über jene Erscheinungen. Die Zahl Fünf war stets schwarz, der Buchstabe L hellgrün, das Gefühl des Wohlwollens zartblau.«51
Im Grunde ist das blinde Kind andauernd damit beschäftigt, sich die äußere, sichtbare Welt nach innen hin zu übersetzen. Das beginnt mit Geräuschen: Ein kleines Mädchen hört das Knarren eines Sessels und fragt die im Zimmer anwesende Frau: »Bist du müde?«52 Es hat gelernt, über winzig kleine, für die anderen Menschen kaum wahrnehmbare Laute Auskunft und Orientierung zu erlangen, und meistens folgt es dabei seiner eigenen Logik.
Wir Sehenden nehmen nur das Äußere einer Stimme wahr, die Höhe, die Tiefe, vielleicht die Modulation. Das blinde Kind jedoch hört und erspürt in der Stimme des anderen dessen tiefe innere Schichten, die wahre Gestimmtheit. Es erlebt Sympathie und Antipathie, Anteilnahme oder Desinteresse, und normalerweise täuscht es sich in der Stimme nicht.
Hinzu kommt noch der Geruch. Weil dem blinden Kind die Vergleiche aus der Bilderwelt der Sehenden fehlen, kann es nur auf seine innere Erfahrung zurückgreifen. Der Geruch steckt in allem. Nichts, gar nichts in der Welt existiert ohne Geruch, und sei er auch noch so fade. Für die Sehenden ungewohnt, klammert sich das blinde Kind an Gerüche, fühlt sich von ihnen angezogen, getröstet, beheimatet, abgeschreckt oder abgestoßen. Der Geruch eines Menschen ist wie sein Fingerabdruck, unverwechselbar. Er enthält alles Wesentliche über ihn. Deshalb beriecht das blinde Kind so gern die Menschen um sich, und es teilt sie ein nach dem Muster »du riechst gut – ich mag dich« und seinem Gegenteil.
Gegenstände erschnuppert das blinde Kind: die Wand, das Kissen, die Tür, die Tasse und den Waschlappen – alles hat seinen eigenen, unverwechselbaren Duft. Kaum ein Sehender kann sich in die Feinheit der Welt der Gerüche hineinversetzen. Wir sind verwöhnt von Rosen-, Vanille- und Bratenduft, vielleicht auch angezogen von frisch gegossenem Teer oder Leder, aber unsere Nase ist viel zu grob, Porzellanelefanten, Blechdosen und Leinenhosen zu erriechen.
Das Schmecken ist noch als Steigerung des Riechens zu begreifen. Wie selbstverständlich führen blinde Kinder bekannte und unbekannte Gegenstände immer zuerst in den Mund: Hier geht es um die Substanz. Das Kind lernt unterscheiden: Süßes, Wärmendes, Nährendes – und auf der anderen Seite Bitterkeit, Säure und sogar Giftiges. Viele Erzieher fühlen sich genervt durch das dauernde Schmecken und Riechen der blinden Kinder. Sie mögen es nicht, sich an Haaren, Gesicht oder Bauch beriechen oder ablecken zu lassen, und sie versuchen, den Kindern diese vermeintliche Unart auszutreiben beziehungsweise abzuerziehen. Sie ahnen nicht, wie feindlich sie damit dem Kind begegnen. Das blinde Kind braucht das Hören, das Riechen und Schmecken als zentrales Erkenntnismittel, es braucht sie gleichsam als Schlüssel zur Welt. Nicht zufällig sind dies die Wahrnehmungskategorien, die sowohl das Kind im Mutterleib als auch die Menschheit in ihrer Entwicklungsgeschichte jeweils vor dem Sehen entwickelten, und in diesen Tiefendimensionen der Wahrnehmung steckt bisweilen mehr Wahrheit als im Sehen selbst. Nicht zufällig sind die großen Seher der frühen Vergangenheit oft blind. Und nicht zufällig lässt der französische Dichter Jacques Prévert in seinem Gedicht Sonntag das blinde Kind als hellsichtig erscheinen: »… nur ein blindes Kind bleibt mit deutendem Finger stehn.«53