Kitabı oku: «Das Alphabet der Kindheit», sayfa 7
Ferien
»Meine Schulkameraden und ich, wir haben uns tolle Sachen erzählt: was wir alles machen wollen in den Ferien. Aber dann hat Chlodwig gesagt, er rettet wieder jemand, der ertrinkt, wie voriges Jahr – so’n Quatsch! Ich habe gesagt, er lügt, nämlich ich hab ihn doch im Schwimmbad gesehen und er kann ja gar nicht schwimmen.«
René Goscinny
Das Schönste an den Ferien ist, dass sie mit Sicherheit wiederkehren. Ferien sind ja per se nicht immer nur glückserfüllt, doch sie sind das pure Gegenteil von Schule und deshalb so begehrenswert. Kein frühes Rausreißen aus den Träumen, kein Gedrängel im Schulbus, keine Klassenarbeit, kein Nachsitzen – frei sein von all dem. Man gehe nur einmal an einem letzten Schultag vor den Sommerferien auf einen beliebigen Schulhof: Das Gekreische der Kinder gilt nicht (nur) den Ferien selbst, sondern der Befreiung von der Schule.
Was die Ferien anbelangt, so ist es ein bisschen wie Weihnachten. Entweder sie gestalten sich rundum kinderfreundlich, das heißt die wie auch immer zusammengewürfelte Familie verbringt diese Zeit auf intensive Weise und zur Zufriedenheit aller gemeinsam – und dies am liebsten auf Reisen. Oder aber die schon bestehenden Risse und Nöte einer Familie brechen, jenseits von Arbeits- und Schulroutine, in den Ferien offen und destruktiv auf und bedrängen alle – und eben auch das Kind. Nicht wenige Kinder in Trennungs- oder Scheidungsfamilien beispielsweise spüren gerade jetzt die Entfremdung der Eltern doppelt und müssen komplizierte Ferienarrangements über sich ergehen lassen.87
Bisweilen ist Reisen auch Prestigeangelegenheit. Deshalb quälen sich Kinder aus sozial schwachen Familien häufig und fühlen sich beschämt, wenn die anderen von fantastischen Ländern erzählen, sie selbst derweil zu Hause oder bei der Oma blieben. Da bleibt als Ausweg, sich selber Reiseabenteuer auszudenken. Viele Jungen und Mädchen sind darin Meister. Sie erlügen sich originelle Feriengeschichten, um mit den schillernden Schilderungen der anderen mitzuhalten (kürzlich erfuhr ich von einem Jungen, der sogar eine »Bombe vor dem Hotel« erlog). Das allerdings spricht nicht gegen diese Kinder, sondern eher für ihre lebendige, kreative Fantasie.
Nicht selten erlebt man auch, wie Eltern sich zielgerichtet um Fremdunterbringung der eigenen Kinder bemühen (Organisation von Ferienlagern, Ausland-Austausch und anderes), um in den Ferien entlastet zu sein oder aber ihrer Arbeit nachgehen zu können. Familienferien mit Kindern sind oft aufreibend und deshalb nicht jedermanns Sache.88 Und so erlaubt denn auch die Weise, wie eine Familie ihre Ferien plant89 und schließlich real durchlebt, Rückschlüsse auf die Art des familiären Umgangs und Zusammenhalts generell. Schließlich sagt die Feriengestaltung viel über Bildungsbeflissenheit einer Familie aus. Manche Eltern wollen jeden freien Moment ihrer Kinder für deren kulturelle, musikalische und sportliche Weiterbildung nutzen und finden reichlich attraktive Angebote dazu.
Ich halte dieses Zwischenreich der Schulferien für eine große Chance, dass die Kinder sich wenigstens vorübergehend erholen dürfen von dem dauernden Müssen, von dem dauernden Gefordertsein, von dem Eingespanntsein in Zeitfenstern. Kinder brauchen rhythmisch wiederkehrende Pausen und Freiräume, um Impulse auszuleben, die während der Schulzeit niedergehalten werden müssen.
Plötzlich, ganz ohne Schule, beginnt das Kind nämlich überraschend zu experimentieren, es findet und erfindet Ungewohntes und Unerwartetes – bisweilen auch unter Gefahr. Es verläuft sich, es verirrt sich, es verwundet sich, es spielt auch mal verrückt – es geht an die Grenzen. Allein oder mit anderen. Und nicht zufällig ereignen sich in diesem Reich der Freiheit dann auch spontan aufregende Dinge: Das Kind fährt plötzlich Fahrrad. Es raucht seine erste Zigarette. Es erlebt die ersten Küsse und durchleidet Liebeskummer. Nie werde ich vergessen, wie sich mein jüngster Sohn, damals kaum zehn, in das Zirkuskind Betty verliebte, das jeden Abend mit Federn bekleidet auf einem Kamel ritt. Eine Woche lang hat er den Zirkus begleitet, Abend für Abend, und ich bin sicher, er hat damals, als er Betty irgendwann aus den Augen verlor, eine erste und tiefe Ahnung von Liebeskummer und Liebesverlust durchlebt.
Eine Kinderregel: In der Schulzeit lernt das Kind Rechnen und Schreiben. In den Ferien darf es Buchstaben und Zahlen vergessen und lernt das Leben selbst. Und das Heilsame daran ist der zuverlässige Wechsel von beidem.
Film
»Was ist bewegender als eine Liebesgeschichte mit einem Kind?«
Roberto Benigni
Ich kenne eine Frau, die den Film Ronja Räubertochter siebenmal im Kino gesehen hat. Es musste Kino sein! Nirgends, so meint sie, gibt es einen so ekstatischen Frühlingsschrei wie in diesem Film. Nicht einmal im wirklichen Leben selbst. Warum muss eine erwachsene Frau, Pfarrerin, Mutter von Töchtern, ins Kino gehen, um sich diese Sehnsucht nach dem archaischen Frühlingsschrei zu erfüllen? Warum genügt es nicht, das wunderbare Buch von Astrid Lindgren zu lesen? Warum muss es Kino sein?
Die Antwort ist einfach: Gute Filme gehen unter die Haut. Filmemacher haben ein sensibles und gleichzeitig scharfes Sensorium für den Menschen und was ihn umtreibt. Sie wagen sich vor und erspüren den Zeitgeist oft früher als andere. Und gleichzeitig wissen sie auch, dass die Seele des Menschen konservativ ist und sich deren Urbilder über die Zeiten hinweg immer gleichen. In diesem Spannungsfeld werden hochwertige Filme gemacht, und was das jeweils Besondere ausmacht, ist die Mischung dieser beiden Pole – abgesehen von der technischen und ästhetischen Qualität der Kamera.90
Hinzukommt, dass Filmemacher eine besondere Wahrnehmungsart haben, die Dinge der Welt zu sehen, beziehungsweise nicht nur zu sehen, sondern auch innerlich aufzunehmen. Cineasten haben eine coenästhetische Wahrnehmung – wie Clowns, Musiker, Maler, Flieger, Akrobaten – und eben wie Kinder! Dem Psychoanalytiker und Kinderarzt René Spitz verdanken wir eine nähere Beschreibung dieser besonderen Art des Aufnehmens von Sinneseindrücken, die er als das früheste Kommunikationssystem des Menschen überhaupt beschreibt. Darin finden sich gebündelt »Gleichgewicht, Spannungen (der Muskulatur und andere), Körperhaltung, Temperatur, Vibration, Haut- und Körperkontakt, Rhythmus, Tempo, Dauer, Tonhöhe, Klangfarbe, Resonanz, Schall und wahrscheinlich noch eine Reihe anderer, die der Erwachsene kaum bemerkt, und die er gewiss nicht in Worte fassen kann«.91 Das sind die Zeichen und Signale, innerhalb derer sich das neugeborene Menschenkind bewegt – das ist seine Sprache. Und das ist die Sprache der oben genannten Menschengruppen (Clowns, Musiker usw.) und die der modernen Filmemacher und Schauspieler. (René Spitz hat Letztere leider unterschlagen, dabei musste ihm zumindest Charlie Chaplin gut vertraut gewesen sein). Gerade sie wollen den Betrachter nicht (nur) auf der rationalen, sprachlich geordneten Wahrnehmungsebene erreichen, sondern auch in den tieferen Schichten der Emotionen. Hier einige Beispiele:
Kein Buch über Liebe und Bindung zwischen Vater und Kind berührt uns wie Charlie Chaplins Der Vagabund und das Kind (The Kid, 1921). Keine Abhandlung über Scheidung lässt uns so mitleiden wie der Film Kramer gegen Kramer (Kramer vs. Kramer, 1979). Im französischen Film Sie küssten und sie schlugen ihn (Les 400 coups, François Truffaut, 1959) erfahren wir alles über schlechte Eltern, ignorante Lehrer, Kinosucht und die Notwendigkeit von Kinderlügen.
Die Verlassenheit und die Angst eines Kindes durchlebt man bei Oliver Twist, und zwar sowohl in dem alten englischen Meisterwerk von 1948 als auch in Roman Polanskis Verfilmung von 2005. Ein Gespür und zugleich Erschauern über die Folgen frühkindlicher Traumatisierung – hier die abrupte Trennung von den Eltern – vermittelt uns Orson Welles’ Meisterwerk Citizen Kane aus dem Jahre 1949. Eine Ahnung, wie ein nicht-erzogenes, sogenanntes wildes Kind fühlt – ja: fühlt –, bekommen wir angesichts der Regenszene in Der Wolfsjunge (L’enfant sauvage, François Truffaut, 1970).
Die Lust eines Kindes, das sich durch keine Moral- und Erziehungsregeln der Welt an seiner Entdecker- und Fragefreude einschränken lässt, erleben wir in Zazie (Zazie dans le métro, 1960) von Louis Malle. Und derselbe Regisseur bringt uns zum Weinen mit seinem Film Auf Wiedersehen, Kinder (Au revoir les enfants, 1987).
Wir erleben die grenzenlose Tiefe der Vatersehnsucht in dem brasilianischen Filmkunstwerk Station Central (Central do Brazil, 1998) von Walter Salles. Wir begeben uns in die Abgründe der hoffnungslosen und verirrten Jugendlichen in den Megastädten in Luis Buñuels Klassiker Die Vergessenen (Los Olvidados, 1950). Und schließlich sind wir zerrissen zwischen Lachen und Weinen in Roberto Benignis anrührendem Film Das Leben ist schön (La vita è bella, 1997).
Der französische Dichter Jacques Prévert, der auch Drehbücher verfasste – unvergesslich vor allem Die Kinder des Olymp92 –, beschreibt einmal die Aufregung seiner sonntäglichen Kinobesuche mit seinen Eltern, die fast einem Ritual glichen.93 Das Kino hebt, anders als das Fernsehgerät zu Hause, aus dem normalen Zeitgefüge heraus und hinein in ein anderes Zeit- und Raumgefühl. Und wirklich wertvolle Filme ähneln ein bisschen den Märchen. Sie enthalten Botschaften für jede Generation. Alt oder jung, jeder nimmt sich aus dem Film, was er für sich braucht, was seinem Geist und seiner Seele Nahrung gibt. Die Befürchtung mancher Erwachsener, Kinder könnten noch nicht alles verstehen, ist falsch. Sie holen sich genau das, wofür sie gegenwärtig empfänglich beziehungsweise reif sind. Für sie Unverständliches lassen sie beiseite, überhören und übergehen es und orientieren sich an dem, was für sie stimmig ist. Später dann, wenn diese Kinder herangewachsen sind, kann es durchaus sein, dass sie die Filme längst vergessen haben. Nicht jedoch die langen Nachmittage, an denen sie Seite an Seite mit ihren Eltern, mit Großeltern, Geschwistern oder Freunden – oder womöglich auch ganz allein – auf den roten Samtsesseln in einer anderen Welt versunken waren. Mag sein, dass sie am Ende einzig das Rot erinnern. Aber was für ein Rot!
Fliegen
»Der Wind hat Spiele, das Kind seine Ziele, es wittert das Fliegen.«
Theodor Däubler
Die neunjährige Josephine erzählt von ihrem wiederkehrenden Traum: »Wirklich, ich konnte fliegen. Und ich konnte die Menschen verzaubern, dass sie auch fliegen konnten. Ich habe sie mit meinem Finger berührt, und schon flogen sie los.« In einem Traum wie diesem geht es ganz sicher nicht um Flugzeuge und Flugmaschinen. Es geht um das elementare Gefühl, aus eigener Kraft abheben zu können – wie ein Vogel, wie ein Schmetterling oder irgendein Zauberwesen. Und fast ebenso faszinierend ist es für das Kind, von Großen an Armen und Beinen kreisend durch die Luft gewirbelt oder geschleudert zu werden. Die Erfahrung, abzuheben und sicher wieder aufgefangen zu werden, ist überaus wichtig, und das Kind muss sie unzählige Male wiederholen, damit sie wirklich unauslöschlich im Körperinnern verankert ist.
Der Traum, fliegen zu können, ist vielleicht so alt wie die Menschheit selbst. Die Sage von Ikarus ist nur ein, allerdings besonders faszinierendes, Dokument dieser Sehnsucht.94 Der Mythos zeigt, dass der Wunsch zu fliegen viel mehr als nur ein normales Begehren unter anderen ist. Er kann übermächtig sein und sogar zur Sucht werden: Immer höher, weiter, schneller soll es gehen: »Mehr, mehr!«, ruft der kleine Häwelmann in der gleichnamigen Kindergeschichte von Theodor Storm.95 Er kann nicht genug bekommen von der Himmelsreise in seinem Kinderbettchen.
Warum diese Sehnsucht nach Fliegen? Warum dieser Ruf nach mehr? Und warum dieser Thrill? Der Traum vom Fliegen rührt womöglich an einen tief existenziellen Widerspruch, dem Antagonismus von Schwere und Schwerelosigkeit, dem wir als Menschen ausgesetzt sind. Vorgeburtlich lebten wir als schwimmendfliegende Wesen außerhalb der Schwerkraft. Unser Sensorium war reines Körperempfinden oder, wie René Spitz es formuliert, coenästhetische Wahrnehmung.96 Nicht mittels Sprache und Zeichen fühlten wir damals, sondern mittels einer bis in die Zellen gehenden und alle Sinne umfassenden Tiefensensibilität.
Nach einer Phase von nur wenigen Wochen und Monaten – und für die meisten Eltern viel zu schnell – beginnt das Sich-Aufrichten des Säuglings, der Kampf gegen die Schwerkraft. Zuerst ist es der Kopf, der sich erhebt, dann der Oberkörper; das Kind lernt sitzen, und irgendwann nach dem ersten Lebensjahr beginnt der aufrechte Gang. Das viele Fallen beim Laufenlernen weist das Kleinkind ein in die Regeln der Schwerkraft. Es gibt kein Zurück.
Außer beim Fliegen! Ähnlich wie beim Schwimmen im Wasser werden die Gesetze der Schwerkraft auf den Kopf gestellt. Plötzlich ist alles leicht, man hebt ab, die Luft, die Wolken, der Wind oder die Gänse tragen. Und sie tragen sicher – jedenfalls in den (meisten) Kinderträumen.97
Sobald das Kind dagegen in die Erziehungsinstitutionen eintritt, ist für solche Kinderträume nicht mehr viel Platz. Die individuellen Vibrationen der Kinder stören den Ablauf in Kita und Schule, wo es um Arrangements in der Gruppe geht, um Gleichklang, Ordnung und Disziplin. Hier soll das Kind Realität und deren Spielregeln lernen: »Auf der Erde steh ich gern«, singen die Kinder gemeinsam vor dem Unterricht. Es würde die Schulordnung verwirren und ad absurdum führen, sängen die Kinder stattdessen: »I believe I can fly.«
Irgendwann lassen die meisten Kinder ihre Fliege-Fantasien hinter sich. Sie vergessen oder verdrängen sie. Aber das Verdrängte lässt sich doch nie vollends verschütten oder gar abtöten. So ist es kein Wunder, wenn später im Erwachsenenalter in Phasen besonderer seelischer Empfindsamkeit, bei Trauer oder in Hochstimmung, unter Drogen oder natürlich in Träumen die Sehnsucht nach dem vorgeburtlichen Schwebezustand immer wieder durchbricht.
Manche Erwachsene sind sich ihrer Sehnsucht nach Fliegen bewusst und werden ganz real Pilot oder Flugbegleiter. Andere wiederum brauchen gar nicht die Realität eines fliegenden Berufs. Als Musiker, Dichter, Maler oder Tänzer dürfen auch sie schweben, allerdings im übertragenen Sinne. Und zum Glück gibt es die Schriftsteller, die den Kinderträumen und -sehnsüchten sehr nahe sind: Astrid Lindgren (mit Hans vom Dach und Mio, mein Mio), Selma Lagerlöf (mit Nils Holgerssons wundersamer Reise), Joanne K. Rowling (mit Harry Potter), Gerdt von Bassewitz (mit Peterchens Mondfahrt) und Michael Ende (mit seiner Unendlichen Geschichte). Sie alle haben ein tiefes Wissen, dass »die Kunst des Fliegens real und jederzeit für jeden erlernbar ist, dem der Sinn danach steht«.98
Fragen
»Wenn dich dein Kind morgen fragen wird, …«
5. Mose 6,20
Ich liebe Kinder, die viel fragen. Zum Beispiel: »Was heißt bewundern?«; »Was ist eine Weisung?«; »Was heißt vergänglich?« Besonders direkt und gleichzeitig bohrend fragt der kleine Prinz bei Saint-Exupéry. Und er fragt stellvertretend für alle Kinder. Nichts ist gegeben. Gar nichts versteht sich von selbst. Oft sind es Welten, die das fragende Kind von den großen Leuten trennt. Und je sicherer die Antworten der Erwachsenen ausfallen, desto provozierender fragt das Kind weiter. Es möchte alles wissen. Wohlgemerkt: alles. Es will wissen, wie es auf die Welt kam – dies vor allem! Und woher die Berge kommen, das Meer, die Flüsse und die Tiere, und warum es Mörder gibt. Es will sich durch sein Fragen die Welt aneignen, auf seine eigene Weise.
Seine ersten Fragen richtet das Kind an Mutter und Vater. Sie dürfen nicht ins Leere gehen. Sie müssen wie ein Ball aufgefangen werden, damit das Fragen und Antworten zur Gewohnheit wird. Damit der Dialog nicht versickert und nicht entgleist.99 Wo nämlich der Austausch von Frage und Antwort endet, wo die Fragen der Kinder ins Leere gehen, da hört das Kind häufig auf, weiter zu erkunden. Es begnügt sich mit dem Gegebenen, so wie es ist, und irgendwann interessiert es sich nicht mehr, warum etwa Menschen und Tiere sterben müssen. Es verliert den brennenden Impuls, hinter die Dinge zu schauen – zu transzendieren.
Denn auch darum geht es: das Geschaute und offensichtlich Gegebene zu hinterfragen und damit hinter seine Geheimnisse zu gelangen. Die äußere Realität der Dinge nimmt jedes Kind mit seinen Sinnen deutlich wahr – es sieht, es hört, es riecht und tastet –, aber dem Wesen der Erscheinungen muss es durch Fragen nachspüren: Wie sind wir entstanden? Wie bin ich entstanden? Wer hat uns Menschen gemacht? Wer hat mich gemacht?
Die meisten Eltern und Lehrer sind dankbar für die Fragen der Kinder, ist es doch ein Zeichen dafür, dass das Kind lernen will und sich der Welt öffnet. Manchmal stehen wir als Erwachsene staunend vor solchen Fragen, die wir in dieser Radikalität nie hätten stellen können. Ich erinnere mich an einen damals zehnjährigen Jungen in einem Gespräch über die Beziehung zwischen Mensch und Tier. Er fragte mich: »Warum essen wir das, was wir am meisten lieben?«
Ein faszinierendes Beispiel von Fragelust gibt der Knabe Jesus im Tempel. Der Zwölfjährige fiel den Priestern und Gelehrten damals nicht durch seine Frömmigkeit, sondern durch seine kluge, wissbegierige Art des Fragens auf: »Der Knabe sitzt inmitten von gelehrten Theologen, und das lebendigste Gespräch fließt in die Fragen und Antworten herüber und hinüber. Die Lehrer können nicht genug staunen über die Fülle von Wissen und Weisheit, die sich in den Fragen und erst recht in den Antworten des Knaben offenbart. Sie fühlen hier ihre eigene Weisheit weit übertroffen«, schreibt Emil Bock in seinem Buch über Kindheit und Jugend Jesu.100 Als die Eltern ihren drei Tage lang vermissten Sohn wiederfinden, rechtfertigt er sein Verschwinden mit einer Frage: »Muss ich nicht sein bei dem, was meines Vaters ist?«
Ja, es ist immer wieder ein Vergnügen, lebendig fragende Kinder zu erleben. Lebendig fragend heißt: unbeeinflusst von gesellschaftlichen Konventionen. Konventionen, die uns schon früh diktieren wollen, was man fragen darf und vor allem was nicht. Kinder fragen normalerweise unverblümt, direkt: »Oma, wann stirbst du? Warum hast du keinen Mann? Warum sieht die Frau so komisch aus?« Sie haben ein brennendes Interesse, auf diese sehr persönlichen, körpernahen Dinge eine Antwort zu bekommen. Die Zeitangabe »irgendwann« – bezogen auf den Tod der Oma – sagt ihnen gar nichts.
Schnell fahren wir Erwachsenen ihnen über den Mund: »Das fragt man nicht!« Dieser Satz sitzt. Viele Kinder werden durch diesen Satz nachhaltig geprägt. Sie stellen nur noch brave und angepasste Fragen über irgendwelche Sachverhalte oder Funktionsweisen der Dinge. Das Brennende, das Aufwühlende, das dem wirklichen Erkenntnisinteresse des Kindes zugrunde liegt, verschwindet.
Wir Erwachsenen haben es am eigenen Leib erlebt. Ich erinnere mich haarscharf an die Fragen meiner Kindheit und Jugend. Und ich erinnere mich genau, wie unsere Erzieher antworteten. Mit zehn wollte ich wissen, wie Kinder gemacht werden. Als Antwort schenkte man mir eine Babypuppe. Als wir dreizehn-/vierzehnjährig, aufgeweckt durch die Lektüre von Anne Franks Tagebuch, unsere ersten Fragen über den Holocaust stellten (wir benutzten damals dieses Wort noch nicht), wurden die Gesichter der Mütter blass und die Lehrer wandten sich ab. Alle Fragen gingen ins Leere – ins peinliche Niemandsland. Die Erwachsenen ließen uns mit unseren Fragen, mit unseren kleinen Körpern und unseren großen Fantasien vom Krieg allein. Dieses Schweigen, dieser kollektive Entschluss, auf die Fragen der Folgegeneration nicht zu antworten, war eine der schwersten Hypotheken für die Nachkriegsgeneration. Die tatsächliche gesellschaftliche Sprengkraft der Studentenbewegung lag nicht zuletzt darin, dass wir Studenten damals die Antworten auf unsere Fragen erzwingen wollten. Ulrike Meinhof sagte in einem Interview mit Marcel Reich-Ranicki, sie habe andauernd nur eine einzige Frage bewegt, nämlich: »Wie konnte das geschehen?«101
Aber es kann auch anders laufen. Wenn man es nämlich zulässt, dass das Kind seine Fragen frei stellen darf, wird es bald vorwärtsdrängen und immer mehr und immer neue Fragen stellen, die weit über die Erklärung der realen Welt hinausgehen. Es will dann nicht mehr nur wissen, wie es geboren wurde, sondern auch warum: »Warum bin ich ich? Warum bin ich kein Reh?«102 Und eine ganze Reihe weiterer Fragen über die Erschaffung von Mensch und Tier und Kosmos, über das göttliche Prinzip beginnt zu fließen. Für mich als Hochschullehrerin waren die lebendigsten, die fruchtbarsten und glücklichsten Momente jene, wenn die Studierenden vorbehaltlos fragten. Und die trostlosesten, wenn ein Thema kommentarlos – und das heißt fraglos – geschluckt wurde. Wirkliches, lebendiges Lernen ist wie das Fragen selbst: ein hoch dialogischer, dialektischer Prozess. Die Lust des einen, der fragt, erzeugt geradezu die Lust des anderen, der antwortet. Das ist die Kunst des Sokratischen Gesprächs, ja, der Sokratischen Lehre selbst, dass der Dialog durch ständiges Fragen inspiriert und in Gang gehalten wird. Wie, wenn wir unsere Kinder nur ungebremst und frei fragen ließen – vielleicht würden sie dann lauter kleine Philosophen.