Kitabı oku: «Das Mädchen und die Nachtigall», sayfa 6

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Marcel

Das Abtauchen in die Bewusstlosigkeit hat einige Bilder aus meinen ersten Stunden in Villefranche und seiner Umgebung tief in meiner Erinnerung verankert: den Verlauf der Nationalstraße vom Bahnhof an, die Rue Saint-Jean bis zum Bergfried, den Platz vor der Kirche, den Rundweg auf der Befestigungsmauer … die Besucher, die nacheinander in Marthas Küche erschienen, kamen als Dekoration dazu. Natürlich war dieser Trubel nicht gerade ideal für eine Kranke, aber es bedeutete für mich nichts anderes als eine Wiederholung dessen, was ich in Tarragona gekannt hatte. Wir wohnten über Papas Werkstatt, und seine Kunden, meine Onkel und Tanten, ihre Kinder und die Nachbarn trafen sich bei uns, um zu reden und zu scherzen. Zu scherzen? Ja, bis die Nationalisten Katalonien angriffen. Auch dieser Bedrohung, die durch den Krieg in die Gespräche Einlass fand, begegnete ich in Villefranche wieder. Wir erlebten das, was als ›seltsamer Krieg‹ bezeichnet wurde, den Zweiten Weltkrieg vor der Invasion in Frankreich im Mai 1940. Frankreich und England hatten Deutschland nach dessen Angriff auf Polen den Krieg erklärt, doch der Schauplatz der Kampfhandlungen war weit weg, auf dem Balkan, in Finnland, in Dänemark …, und damit hatten sie etwas Unwirkliches an sich: All das hatte nichts mit dem offenen und schrecklich nahen Krieg zu tun, den ich in Spanien erlebt hatte. In Villefranche gab es keine Gefechte und Bombardierungen. Es herrschten lediglich einige Versorgungsengpässe, und man war verpflichtet, das Licht der Glühbirnen abzudämpfen oder diese zu bemalen, um zu vermeiden, dass man vom Feind ausfindig gemacht werden konnte.

Ende Januar bestätigte die Regierung offiziell die Absetzung der kommunistischen Abgeordneten, die den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und Moskaus Pro-Hitler-Politik nicht ausdrücklich verurteilt hatten. Die Unterzeichnung des Paktes hatte im vorangegangenen Sommer stattgefunden; inzwischen war Deutschland mit Unterstützung der Sowjetunion in Polen eingefallen und hatte es annektiert, doch die Kammer hatte sich mit der Beratung und dem Abwägen des Für und Wider Zeit gelassen. Der Präfekt der Ostpyrenäen hatte nicht gezögert und den kommunistischen Bürgermeister von Villefranche im Monat nach der Unterzeichnung des Paktes abgesetzt.

Der Krieg stand im Mittelpunkt aller Unterhaltungen, er stellte alle gewöhnlichen Themen in den Schatten. Jeden Tag wurde am Tisch der Puechs darüber gesprochen. Émile las uns die Bekanntmachungen des L’Indépendant vor, und jeder äußerte seine Prognose, wer als Nächstes zur Zielscheibe der Wehrmacht wurde.

Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass der Krieg der Fronten vorbei war, dass die Maginot-Linie zum Gespött der deutschen Generäle geworden war. L’Illustration veröffentlichte Fotos von kleinen Wägen, die zehn bis zwanzig Meter unter der Erde gelegene Gänge durchfuhren, »uneinnehmbare« Festungen, Berge von Granaten »so weit man blicken konnte«. L’Indépendant zeigte die Fließbandproduktion eines hochmodernen Gewehrs namens ›Le mousqueton‹. In den Briefen der Einberufenen war großspurig von der sofortigen Einnahme Berlins die Rede. Doch Deutschland verlor keine Zeit, unterirdische Gänge auszuheben oder Granaten zu stapeln; es nahm Österreich, Polen und die Tschechoslowakei ein.

Eines Morgens gegen zehn Uhr waren unbekannte Schritte auf der Treppe zu hören, und ich wusste sofort, dass es so weit war: Die Faschisten hatten mich eingeholt. Sie waren zu zweit, groß und imposant in ihren blau-roten Uniformen der nationalen Gendarmerie. Sie bauten sich auf der Türschwelle zur Küche auf, und der Regen, der von ihren Mänteln tropfte, bildete zwei kleine Lachen auf den Fliesen, die sich bald zu einer großen vereinen würden.

»Maria Soraya?«

»Was will man von ihr?«, fragte Martha.

»Nichts. Ein einfaches Verhör bei der Brigade. Reine Routine.«

»Ist sie das?«, fragte sein Kollege und zeigte auf mich. »Zieh dich an, wir nehmen dich mit.«

»Sie mitnehmen? Das würde mich wundern. Seit sechs Wochen hat sie sich nicht vom Fleck gerührt.«

»Das sagen Sie.«

»Das sage ich? Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie Dr. Durand. Oder Dr. Puig. Die behandeln sie beide.«

»Das stimmt«, bekräftigte Madame Puech, die aus dem Schlafzimmer herunterkam. »Seit ihrer Ankunft hat sie das Bett nicht verlassen.«

»Wir ernähren sie bald zwei Monate dafür, dass sie keinen Finger rührt«, fiel Monsieur Puech ein, der gerade dazukam, »und jetzt trifft es uns schon wieder. Ich habe es dir gesagt, Félicie, das wird alles ein bitteres Ende nehmen.«

Doch die Gendarmen hatten einen Befehl, und über einen Befehl wird bei den Gendarmen nicht verhandelt.

Vom Esszimmer aus, in dem Martha mich anzog, verfolgten wir das Gespräch in der Küche: »Ein Handstreich von Pétain«, murmelte einer der Männer.

»Der Marschall? Was hat der damit zu tun?«, fragte Monsieur Puech.

»Franco hat Barcelona am 26. Januar eingenommen, Frankreich hat dies am 27. Februar anerkannt, und am 2. März war Pétain in Madrid. Botschafter von Frankreich in Madrid, bitte schön. Seitdem machen sie ihre kleinen Geschäfte unter Freunden, Franco und er, und wir erhalten Anweisungen.«

»Ich dachte, Franco marschiert mit Hitler, und Hitler führt Krieg gegen Frankreich.«

»Ja, für dich und mich ist es so, absolut einfach, aber in der Politik läuft alles komplizierter, als man denkt. Zu kompliziert für uns, wenn du meine Meinung hören willst.«

Wir kamen aus dem Esszimmer, und ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Diese beiden Gendarmen sahen gutmütig aus, und vielleicht hatten sie jahrelang in Villefranche die Schulbank gedrückt, doch sie würden mich anderen Gendarmen übergeben, die niemand kennen würde, und von einem Gendarm zum nächsten würde ich schließlich wieder in Argelès-sur-Mer landen oder irgendwo in Spanien in einem nationalistischen Gefängnis. Keine Sorgen, keinen Ärger, hatte Dr. Puig gesagt. Davon waren wir weit entfernt.

»Du musst nur die Dumme spielen«, flüsterte mir Arlette, die unseren Aufbruch begleitete, in der Aufregung zu.

»Das wollte ich dir auch raten«, sagte Martha, als sie mich in die Arme schloss, »spiel die Dumme, und alles wird gut, du wirst sehen.« Sie lächelte, als ich den Kopf hob und sie anschaute, doch tief in ihrem Blick schimmerte etwas Sorgenvolles.

Die Gendarmen waren mit dem Zug gekommen, also mussten wir zum Verhör bei der Brigade auch mit dem Zug nach Prades hinunterfahren. Wir verließen die Bäckerei, bogen nach links in die Rue Saint-Jean ab und gingen dann zur Place du Génie. Die Leute wichen zur Seite, als wir kamen, einige drehten sich nach uns um, andere taten so, als würden sie mich nicht kennen. Es war ein trostloser Tag: Der Himmel war verhangen, ein feiner, eisiger Regen fiel. Die Wolken zogen eilig zwischen den Dachvorsprüngen vorbei, und durch den Wind rieselte mir der Regen stoßweise ins Gesicht. Der Wind, der Regen, die kalte Luft – ich fragte mich, wie ich ohne sie hatte leben können.

Als wir die Place du Génie erreichten, erblickte ich die Gestalt von René Levêque unter der Überdachung der Porte de France. Er hatte keine Schärpe mit den Farben der Tricolore umgelegt (war der Präsident der Sonderdelegation befugt, dieses Attribut des Bürgermeisters zu tragen? Ich war mir nicht sicher), ich hatte ihn seit unserer ersten Begegnung am Weihnachtsabend nicht wiedergesehen und erinnerte mich weder an sein Gesicht noch an seine Körperhaltung, aber es fiel mir überhaupt nicht schwer, ihn zu erkennen. Groß, schlank, fast elegant in seinem beigefarbenen Gabardinemantel und seinen hellen Lederschuhen, strahlte er Autorität und Sicherheit aus. Ein Soldat auf Mission. Sein Nachrichtendienst hatte ihn über eine verdächtige Aktion in seinem Sektor informiert, er hatte den Vorfall eingeschätzt, einen strategisch günstigen Ort auf der Route des Feindes ausgewählt und wartete dort mit der Sicherheit, im Vorteil zu sein.

»Was ist los, Marcel?«, fragte er, als wir an ihm vorbeikamen. Er stand unter der Überdachung des Tores, an der äußersten Grenze des Bauwerks, sodass der Gegner den Elementen ausgesetzt war.

»Ein Verhör«, entgegnete der Gendarm zu meiner rechten Seite. »Wir bringen sie zur Brigade.«

»Kann ich mal sehen?«

»Natürlich«, antwortete der andere und suchte in den Tiefen seiner Manteltasche nach der Vorladung.

Das nahm etwas Zeit in Anspruch, die Monsieur Levêque nutzte, um den Blick in meine Richtung zu wenden. Du hast nichts zu befürchten, sagten seine Augen, ich werde mir das von diesen Tölpeln nicht gefallen lassen; ein wenig Geduld, und du wirst schon sehen. Ich erinnerte mich weder an seinen millimetergenau gestutzten Schnurrbart noch an die von seiner Person ausgehende Sicherheit, und so schaute ich ihn wie zum ersten Mal an. Er griff nach dem Stück Papier, das der Gendarm ihm hinhielt, und nahm sich die Zeit, es zu lesen und wieder zusammenzufalten.

»Nicht einverstanden«, sagte er schroff. »Dieses junge Mädchen steht unter der offiziellen Vormundschaft einer Familie von Villefranche, also unter meiner Verantwortung. Als Präsident der Sonderdelegation kann ich es nicht verantworten, eine Kranke gehen zu lassen. Vor allem nicht bei diesem Wetter. Wenn ihr etwas zustoßen sollte, wird es auf mich zurückfallen. Es gab schon Bürgermeister, die für weniger als das im Gefängnis gelandet sind, dir muss ich das nicht sagen, Marcel.«

»Na ja, aber was soll ich tun? Ich habe die Anweisung.«

»Sag mir doch, von wem die Anweisung kommt«, entgegnete Monsieur Levêque und nahm den anderen beiseite.

»Weisungen aus Paris«, antwortete er halblaut. »Innenministerium, so scheint es. Auf Vorschlag unseres Botschafters in Madrid. Der Befehl, alle Flüchtlinge mit Sympathien für die Republik an die spanischen Behörden zu übergeben.«

»Ach ja? Und ›die spanischen Behörden‹, wie du sagst, was werden sie mit diesen Flüchtlingen machen, die Frankreich ihnen so zuvorkommend übergibt? Deiner Meinung nach?«

»Das geht mich nichts an. Jedem seine Arbeit.«

»Das geht dich vielleicht nichts an, aber ich werde es dir dennoch sagen.«

»Ich verlange nichts von dir, René.«

»Die spanischen Behörden bringen diese Unschuldigen in das erstbeste Gefängnis, und man hört nie wieder etwas von ihnen, verstehst du? Nie wieder. So läuft das. Du kannst nicht damit rechnen, dass ich das unterstütze, Marcel, das sage ich dir ganz deutlich. Dieses Mädchen bewegt sich nicht von hier fort. Wenn man dich fragt, was geschehen ist, sagst du, dass du sie krank und nicht transportfähig vorgefunden hast. Das ist sowieso die Wahrheit. Falls nötig, hätte ich zweihundert Leute, die das bezeugen. Seit ihrer Ankunft hat sie das Bett nicht verlassen, verstehst du? Das ist die Wahrheit.«

»Ich verstehe«, sagte der Gendarm seufzend.

»Jetzt werde ich dir unter uns sagen, was du nicht in deinen Bericht schreibst, aber trotz allem wissen kannst: Derjenige, der versucht, hörst du, nur versucht, dem Mädchen ein Haar zu krümmen, wird es mit mir zu tun bekommen.«

Ich stand direkt daneben. Und beobachtete die Wirkung von Renés Worten und seinem Tonfall auf Marcels Gesicht. Es ist immer seltsam, sein Schicksal aus den Gesichtern der Männer des Gesetzes zu erraten, in deren Händen es liegt. Doch ich hatte keine Angst und frage mich nur, ob ich nicht an jenem Tag im Regen vor der Porte de France gelächelt habe. Irgendetwas sagte mir, dass René sein Leben gegeben hätte, um meines zu retten, und dass dieser Elan, gestützt auf seine Autorität als Präsident und den Ruf, absolut integer zu sein, ihm so etwas wie einen kleinen Vorteil gegenüber einem Gendarmen verschaffte, der es eilig hatte, die Sache zu Ende zu bringen und nach Hause zu gehen. Abgesehen davon hatte ich bei meinem ersten Ausgang Besseres zu tun, als einer Unterhaltung zwischen einem Präsidenten und einem Polizisten zu folgen, selbst wenn es um mich ging. Die Porte de France, die Place du Génie, das Postgebäude … mein Dorf umgab mich in Sichtweite. Natürlich hatte ich mir ein Bild davon gemacht, wenn ich die Menschen in Marthas Küche davon erzählen hörte. Aber ich wurde gewahr, dass diese Vorstellung nicht an die Realität heranreichte: Sogar im Regen und bei verhangenem Himmel, mit der Befestigungsmauer, dem Tor, dem Rauschen des Cady direkt dahinter … sogar in diesem Moment wurde mir klar, dass das Schicksal mich wahrhaftig an einen außergewöhnlichen Ort geführt hatte.

Die Gendarmen kehrten ohne mich zurück, doch am nächsten Tag teilte der Briefträger in Villefranche drei Briefe in offiziellen Umschlägen aus. Der erste trug ganz offensichtlich den Stempel der Präfektur der Ostpyrenäen: Monsieur René Levêque, Präsident der Sonderdelegation, wurde noch am selben Tag um Punkt sechzehn Uhr von dem Präfekten erwartet. Der zweite Brief mit dem bischöflichen Wappen kündete Pfarrer Raynal, dem hauptamtlichen Priester der Gemeinde Villefranche-de-Conflent, den Besuch seines Vorgesetzten, des Priesters von Prades, für den Nachmittag an. Der letzte Brief mit dem Stempel der französischen Armee war von Charles. Sein erster Brief seit meiner Ankunft und vielleicht seit seiner Abreise an die Front. Es liefe alles gut, schrieb er. Wenn die Deutschen verrückt genug wären, anzugreifen, würden sie schneller bis Berlin zurückgedrängt werden, als man davon berichten könnte.

Bei Einbruch der Dunkelheit schaute René Levêque auf dem Rückweg von Perpignan bei uns herein. Ich war gerade hochgegangen, öffnete aber meine Zimmertür und spitzte die Ohren, sodass ich in groben Zügen dem Gespräch folgen konnte.

»Sie wollen das Mädchen ausliefern, das ist zumindest sicher. Im Moment haben sie nichts, was sie ihr vorwerfen können, aber sie werden etwas finden. Darauf kannst du dich verlassen.«

»Und was wollen sie von uns? Haben sie es dir gesagt?«

»Lagrasse ist für Franco. Das sagt alles.«

»Lagrasse?«

»Der Präfekt, der Präfekt Lagrasse.«

»Der dich zum Präsidenten der Sonderdelegation ernannt hat?«

»Das macht dich stutzig, nicht wahr? Genau das habe ich mir auch erklären lassen. Wenn man sich schon zur Präfektur begibt … Es scheint, als hätte er sich auf mein Ansehen bei den Spahis verlassen. Ich hätte rebellische Umtriebe abgewehrt, meint er zu wissen.«

»Spahis abgewehrt, du?«

»Lagrasse steht Pétain nahe, wie es scheint. Als Franco 1938 seine Offensive gegen Katalonien startete, hat er begriffen, dass es an der Grenze brenzlig würde, und sich für Perpignan beworben. Die Elendslager, die Schließung der Grenzen vor den Augen der Flüchtlinge, die Spanier im Schnee, das ist er.«

»Verstehst du das?«

»Dass er sich für einen heißen Posten bewarb? Ja, vollkommen. Wenn es bei der Armee irgendwo heiß hergeht, ist da immer ein Offizier, der in der ersten Reihe auf sich aufmerksam macht. Für Ruhm und Ehre, weil er vorwärtskommen will, weil er …«

»Gut, und was haben wir mit all dem zu schaffen?«

»Das ist entschieden.«

»Was ist entschieden?«

»Lagrasse wird mich absetzen und Marie zu seinem Kollegen nach Barcelona schicken.«

»Aber warum? Was hat er davon?«

»Warum? Um ein Exempel zu statuieren, um zu zeigen, wozu er fähig ist, um sich bei den Leuten in Francos Umkreis einen Namen zu machen und das Vertrauen seines Freundes Pétain zu gewinnen. Er positioniert sich für eine Stellung als Botschafter, als Minister, verstehst du?«

In diesem Moment waren Schritte auf der Treppe der Bäckerei zu hören. Auf Monsieur Puechs verlegenes Schweigen folgte die Stimme des Priesters: »Nun?«

»Nun«, erwiderte Monsieur Puech mit näselnder Stimme, die er bei Menschen annahm, die er nicht mochte. »Das Mädchen wird zur Folter geschickt und René in die Salzminen.«

»Warum muss es gerade uns treffen?«, sagte er ein wenig später, als Monsieur Levêque den Bericht von seiner Unterredung auf der Präfektur wieder aufgenommen hatte. »Es gibt zweihundert Gemeinden im Departement, sechshundert oder siebenhundert in den gesamten Pyrenäen, und es muss ausgerechnet uns treffen.«

»Villefranche liegt im Fadenkreuz der Rechten«, sagte der Pfarrer, »da erzähle ich Ihnen ja nichts Neues.«

»Nach zehn Jahren mit kommunistischer Mehrheit musste man wohl damit rechnen.«

»Das ist das eine, und zum anderen ist es das uralte Misstrauen der Mächtigen gegenüber allem Originären«, antwortete der Priester mit einem Nachdruck, als würde er eine Ansprache über die Wahrheit halten. »Bedenken Sie, dass Villefranche die einzige Siedlung des Departements ist, die noch in ihren ursprünglichen Mauern lebt, wie zu Zeiten ihrer Gründung …«

»Und was haben wir davon …«

»Bedenken Sie, dass unsere Einwohner quasi immer nur auf der Durchreise sind. Zu Zeiten der Grenzzitadelle waren sie Soldaten, Minenarbeiter bei der Erschließung der Eisenfundstätte, Eisenbahner bei der Errichtung der Bahnlinie der Cerdagne. Ein Soldat, ein Minenarbeiter, ein Eisenbahner, die bleiben nicht. Die arbeiten eine Zeit lang, nehmen ihr Geld und gehen wieder fort.«

Ich sah die Szene natürlich nicht, aber ich stellte mir sehr wohl die Gesten des Pfarrers vor, wie er den Eisenbahner mimte, und die Faszination der Zuhörer. Die Leute waren immer wie gefesselt, wenn er sich in Erklärungen erging.

»Kennen Sie viele Dörfer in den Pyrenäen oder irgendwo anders, wo Familien keine Wurzeln gefasst haben? Nein. Nun ja, wie man weiß, ruft so etwas Beunruhigung hervor, es irritiert. Bedenken Sie auch, dass Villefranche niemals einen Vertreter im Generalrat des Departements oder einen Abgeordneten oder einen Senator hatte. Niemals. Und warum? Weil dafür große Familien nötig sind, ein Netzgeflecht, ein Beziehungsgefüge durch die Generationen hindurch, um einen Mann auf diese Stufe der Macht zu bringen. Alles in allem sind wir atypisch und deshalb auch ohne Vertretung. Das ist ungefähr die Definition eines Sündenbocks. Wenn man einen braucht, trifft es uns. Unweigerlich.«

»Na gut. Würden Sie uns vielleicht erzählen, wie es bei dem Priester von Prades war?«

»Marie ist es untersagt, im Chor mitzusingen, das Harmonium zu spielen und das Gemeindehaus zu betreten … Es fehlte gerade noch, dass man mich gebeten hätte, ihr den Zutritt zur Kirche zu verwehren.«

»Und?«

»Was und?«

»Nun, was haben Sie gesagt, mein Gott?«

»Ich habe nichts gesagt, und außerdem: Monsignore wird es zum jetzigen Zeitpunkt wissen. Ich werde wahrscheinlich im Verlauf des morgigen Tages meine Versetzung erhalten.«

»Dann sitzen wir im selben Boot, wir beide«, murmelte Monsieur Levêque.

»Wir könnten versuchen, in dieselbe Gegend versetzt zu werden, wollen Sie?«

»Ich werde mir das nicht gefallen lassen, das sage ich Ihnen geradeheraus«, brummte Monsieur Puech. »Ich habe ganz regulär ein Lehrmädchen angenommen, habe mich bemüht, es auszubilden, und ich sehe nicht ein, mit welchem Recht man es mir wieder wegnimmt.«

»Bemüht, es auszubilden«, sagte der Priester lachend, »welch wahnsinnige Mühe haben Sie sich gegeben, Marie auszubilden. Und Sie vergessen eine Kleinigkeit: Nicht Sie sind ihr Vormund, sondern Ihre Frau.«

»Nun, du bist doch meiner Meinung, Félicie, oder?«

»Darüber muss ich erst noch nachdenken.«

»Ah, sehen Sie!«, sagte der Pfarrer. »Zählen Sie jedenfalls nicht auf die Unterstützung meines Nachfolgers. Sie werden sicherlich einen Griesgram, einen Nörgler oder einen Priester vom alten Schlag berufen, der Sie mit allem Möglichen ärgern wird.«

»Ich sehe nicht, wen sie an meiner Stelle einsetzen könnten«, warf Monsieur Levêque ein. »Als der Präfekt mich angeworben hat, gab es keine Kandidaten.«

»Eigenlob ist das beste Lob, du hast recht.«

»Das wollte ich nicht sagen, ihr habt mich schon verstanden. Und das angesichts meiner jetzigen Lage.«

»Du bist gar nicht so schlecht dran, worüber beklagst du dich?«

»Worüber ich mich beklage? Du würdest nicht so reden, wenn du Reservist wärst. Wenn es das Schicksal will, ist mein Einberufungsbefehl schon unterwegs, und morgen bin ich im Kugelhagel.«

In diesem Moment zog ein Knacken des Fußbodens meine Aufmerksamkeit auf sich, dann das Knistern von Stoff. Jemand ging an den Schlafzimmern vorbei den Flur entlang und erreichte die Treppe. Martha! Ich erkannte Marthas Schritt wieder.

»Es wäre besser, sie würde eine Zeit lang verschwinden«, sagte sie, als sie die Küche betrat. »Ehe sie sie holen kommen.«

»Was tust du hier?«, fragte Monsieur Puech überrascht.

»Was ich hier tue? Also sag mal, Émile, ich bin hier in meinem Haus, soviel ich weiß, und mit euren Diskussionen hindert ihr mich daran, zu schlafen. Seht ihr nicht, dass es um das Mädchen geschehen ist, wenn wir sie von hier fortgehen lassen?«

»Vielleicht. Aber was können wir tun?«

»Sie verstecken.«

»Sie verstecken? Und was wirst du sagen, wenn sie ihretwegen kommen?«

»Dass sie mich an ihrer Stelle mitnehmen sollen.«

»Wenn Lagrasse, so wie ich vermute, ein Exempel statuieren will und wenn wir Widerstand leisten, dann werden wir es zu spüren bekommen«, erwiderte René, ohne seine gewöhnliche Gelassenheit zu verlieren. »Wir haben Krieg, zwanzig Kilometer von der Grenze entfernt. Im Mittelalter hätte man eine Stadt für weniger als das dem Erdboden gleichgemacht.«

»Im Mittelalter? So weit müssen Sie nicht zurückgehen«, erwiderte der Pfarrer, »zur Zeit von Vauban …«

»Und heute: Guernica, Granollers, Tarragona …«

»Villefranche zerstören – ich kenne welche, denen das recht wäre.«

Es herrschte betretene Stille, und ich erinnerte mich, wie Agnès am Weihnachtstag berichtet hatte, dass im Zuge der Diskussion über den Verlauf der Nationalstraße Stimmen laut geworden waren, welche die vollkommene Zerstörung der Befestigungsmauer verlangt hatten.

»Wir könnten sagen, dass ihr Onkel gekommen wäre und sie zurückgefordert hätte.«

»Dass sie in der Têt ertrunken wäre.«

»Vor allem könnten wir schlafen gehen«, schloss Martha schroff. »Anstatt weiter Dummheiten von uns zu geben …«

»Schlafen wir eine Nacht darüber«, bekräftigte der Priester und erhob sich.

»Genau, geht ihr mal alle ins Bett. Für mich ist es Zeit zu arbeiten«, sagte Monsieur Puech müde.

Die Pendeluhr in der Küche schlug gerade Mitternacht. Ich glitt aus dem Bett und schloss ganz leise meine Zimmertür. Doch ich lag noch lange wach und lauschte auf die Geräusche im Haus. Würden sie in dieser Nacht kommen und mich festnehmen, ehe Martha mich verstecken könnte?

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