Kitabı oku: «Das Mädchen und die Nachtigall», sayfa 4
Die Stadtmauer
Monsieur Puech zog den Kopf ein und machte sich nicht einmal die Mühe, vom Stuhl aufzustehen, doch seine Frau begegnete dem Besucher mit Achtung für zwei: Sie erhob sich, nahm rasch ihre Schürze ab und verlangte eine Tasse mit Untertasse. Sie nahm die Zuckerdose mit und kam mit einigen elegant angeordneten Häppchen in einer hübschen Schale und einem Silberlöffel zurück, den sie von wo auch immer hergeholt hatte. Währenddessen murmelte sie mehr denn je vor sich hin. Man sprach über den Krieg, über diesen Winter, der keiner war, über Weihnachten. Nicht ein Wort dagegen über die Episode mit dem Harmonium, die so sehr auf Madame Puechs Seele lastete und bei der ich mich immer noch fragte, wie sie davon erfahren hatte. Es war kein Drama, einige Töne auf dem Harmonium der Gemeinde zu spielen. Bei uns zu Hause hätte niemand etwas dagegen gesagt, und niemand hätte überhaupt davon gewusst. Doch hier war alles so anders, die Reaktionen so unvorhersehbar!
Sie sprachen über Gott und die Welt, dann erhob sich der Priester plötzlich und sagte einen komplizierten Satz auf Französisch, dessen Sinn mir entging.
Die Unterhaltung geriet ins Stocken, und die Blicke richteten sich auf einmal auf mich.
»Ich entführe Sie«, sagte er und wandte sich mir zu. »Wir werden uns auf den Weg machen, um Ihr neues Dorf zu erkunden.«
Und da ich stumm blieb und nicht wusste, was ich tun sollte, fügte er hinzu: »Warten Sie ab, Sie werden es nicht bedauern.«
Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass ein Priester sich für etwas anderes als die Messe interessieren könnte, eventuell noch für die Unterstützung der Armen. Das war es, dem sich der Pfarrer und seine Vikare in unserer Gemeinde in den Bergen widmeten. Der Pfarrer traf mich also unvorbereitet, und die Puechs waren scheinbar nicht weniger überrascht. Konnte ein junges Mädchen allein mit einem Priester eine unbekannte Stadt erkunden? Ziemte es sich wirklich, dass sie ihm auf die Befestigungsmauer oder in die Wachräume folgte? In Spanien auf keinen Fall. Der Priester wäre zur Ordnung gerufen und das junge Mädchen in ein Kloster eingesperrt worden. Und in Frankreich? Woher sollte ich wissen, was die Barriere der Pyrenäen für Veränderungen bei den Sitten und Gebräuchen mit sich brachte? Madame und Monsieur Puech schwiegen, Arlette war geflüchtet.
»Könnte Agnès uns begleiten?«, fragte ich auf gut Glück.
»Gute Idee!«, antwortete der Pfarrer und setzte sein Birett auf. »Wir werden sie auf dem Weg abholen. Es ist allerdings nicht sicher, dass sie mitkommt«, fügte er hinzu, als wir hinausgingen. »Über die Befestigungsmauer kann ich ihr nicht mehr viel Neues erzählen, aber wir können sie auf jeden Fall fragen.«
»Die Befestigungsmauer? Kennt sie die Befestigungsmauer so genau?«
»Ja, fast genauso gut wie ich … Ich mag Agnès sehr«, murmelte er ein wenig später so leise, dass ich es gerade noch verstehen konnte.
Wo war ich gelandet? Was war das für ein Dorf, in dem der Priester junge Mädchen in der Sakristei empfing, sie mit auf die Befestigungsmauer nahm und ganz offen die Bewunderung bekundete, die sie ihm einflößten?
Ich war gleichermaßen überrascht und verblüfft von dem, was ich seit dem Vorabend beobachtete. Die Spanier hatten zu jener Zeit eine hohe Meinung von Frankreich, als Land der Freiheit, der Demokratie und als Republik. Obwohl ich politisch nicht sehr bewandert war, kannte ich die großen Errungenschaften des Front populaire: die Vierzig-Stunden-Woche, Urlaubsgeld, Tarifverträge … Zeitschriften, Filme und die Wochenschau im Kino zeigten uns geschminkte Frauen in kurzen Kleidern (immerhin bis unter das Knie) und elegante Männer, die in Traumautos stiegen, um mit hundert Stundenkilometern auf ganz geraden Straßen dahinzusausen, oder aber hochmoderne Fabriken, Mähdrescher, Gymnastikwettbewerbe. Natürlich passte Villefranche nicht ganz in dieses Bild: Hier gab es weder Cabriolets noch Männer in dreiteiligen Anzügen, und die Puechs waren so gekleidet wie spanische Bäcker, nicht besser und nicht schlechter.
Tatsächlich versetzten mich die Befestigungsmauer und die kleinen verwinkelten Straßen eher ins Mittelalter zurück. Und deshalb erstaunten mich Agnès und der Priester umso mehr. Sie unterschieden sich völlig von den entsprechenden Spaniern, zumindest von denjenigen, die ich kennengelernt hatte, und für mich symbolisierten sie vom ersten Tag an die französische Modernität.
Vor allem Agnès. Als sie uns an jenem Tag ankommen sah, ging ein Leuchten über ihr Gesicht. Sie lehnte mit dem Rücken an einem der kleinen Bäume auf dem Platz zwischen dem Kirchentor und dem Eingang zum Vauban, dem Café, das ihr gegenüberlag. Sie beobachtete zwei Jungen von ungefähr acht und zehn Jahren, vielleicht passte sie auch auf sie auf. Ihr Mantel öffnete sich über einem schönen weißen Kleid. Erst dann sah ich, dass sie ein Bein angewinkelt hatte und sich mit der Schuhsohle am Stamm abstützte. Eine ihr eigene Haltung, die ich in der kommenden Zeit noch oft sehen würde. Sie lächelte, als sie uns erblickte, machte jedoch keine Bewegung in unsere Richtung. War sie es gewohnt, dass die Leute, bis hin zum Gemeindepfarrer, sich um sie bemühten?
»Warum nicht?«, sagte sie einfach, als der Priester ihr vorschlug, uns zu begleiten.
Sie verließ ihren Platz, wechselte einige Worte mit den Kindern und ging zu einer Tür voran, die sich rechts der Kirche in der Befestigungsmauer öffnete.
»Die Pforte«, sagte sie zu mir gewandt. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie dann ganz sanft mit ihrer schönen Stimme und hakte sich bei mir wie am Abend zuvor unter.
»Es geht«, murmelte ich mit Tränen in den Augen.
Agnès, der Pfarrer, die Kunden in der Bäckerei … da war auf einmal so viel Wohlwollen um mich herum.
An jenem Tag verstand ich nicht viel von den Erläuterungen des Priesters über die militärische Architektur des 17. Jahrhunderts, trotz Agnès’ Übersetzungen mal ins Katalanische, mal ins Spanische. Kurtine, Burgwarte, Ausfallpforte, Pechnase … Ich würde einige Zeit brauchen, um das geläufige Vokabular der Bürger von Villefranche zu beherrschen, und Monate, um zu begreifen, dass Kurtinen von Schießscharten durchbrochene Mauern sind, die die Türme miteinander verbinden, dass die Wassergräben am Fuße der Mauern dazu dienen, den Feind im Schlamm stecken bleiben oder ertrinken zu lassen, dass die Ausfallpforte eine geheime Tür im Mauerwerk ist und die Pechnase ein Vorsprung auf der Mauer, von wo aus die Verteidiger Steine, Pfeile, heißes Pech und andere Delikatessen auf die Angreifer hinunterwerfen.
Sofort entwickelte ich eine Schwäche für die Burgwarten: Wächterhäuschen, die sich an den Mauerecken befanden und ein wenig überhingen, von wo aus der Wachposten den Fuß der Befestigungsmauer nach zwei Seiten hin kontrollierte. Warum diese Zuneigung zu den Burgwarten? Weil sich das Wort so schön anhörte und die entsprechenden Bauteile so elegant waren? Wegen der Verbindung von rotem Backstein und grauem Marmor? Weil sie im Licht auf dem First des Daches wie die Vögel hoch oben in den Bäumen sangen? Vielleicht. Tatsache ist, dass ich sie in dem Grau in Grau meines ersten Weihnachtsfests in Villefranche entdeckte und inmitten der für mich fast unendlichen Vielfalt der Verteidigungsanlage unterscheiden konnte.
Die südliche Befestigungsmauer zur Bergseite hin war noch länger als die zur Ebene, die mich am Vorabend so beeindruckt hatte, und bildete mit ihren Ausfallpforten, flankierenden Türmen und drei mächtigen Bollwerken einen Mauerwerksverband von furchterregender Wirkung. Das alles war sehr beeindruckend, doch der Gedanke, hinter diesen Mauern zu leben, von dieser massiven Ringmauer eingeschlossen zu sein, erfüllte mich mit Sorge. Vor allem, als ich feststellte, dass die Befestigungsmauer wirklich in sich geschlossen war.
»Kannst du folgen?«, fragte Agnès, als sie mein nachdenkliches Gesicht sah.
»So einigermaßen«, antwortete ich und richtete meinen Blick auf die zyklopische Mauer meines Gefängnisses.
»Es macht dir Angst, nicht wahr?«
Wie erriet sie meine Gefühle?
»Man gewöhnt sich daran, du wirst sehen.«
»Was wird man tun, wenn die Nationalisten mit ihren Panzern kommen? Sie werden die Tore blockieren und uns festnehmen, niemand wird überleben. In Tarragona gab es zumindest …«
Doch weder Agnès noch der Pfarrer glaubten, dass die Truppen jemals die Grenze überqueren würden. Falls sie es wider Erwarten doch tun würden, welchen Grund hätten sie, Villefranche anzugreifen?
»Wegen des Bahnhofs«, sagte ich.
Und ich sah, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Ja, der Pfarrer und sogar Agnès konnten verstehen, dass Franco oder sein Freund Hitler die Kommunikation zwischen der Ebene des Roussillon und der Cerdagne abschneiden wollten. Sie schätzten die Gefahr ab, doch es war Weihnachten, und die beiden hatten beschlossen, die Bilder vom Lager und den Bombardierungen aus meinem Kopf zu verscheuchen.
»Unmöglich!«, rief der Priester trotz der offensichtlichen Berechtigung meiner Befürchtungen aus.
»Was stellst du dir nur vor!«, bestärkte ihn Agnès schulterzuckend.
»Komm lieber her und schau dir das an!«, fuhr sie fort und zog mich in die Rue Saint-Jacques.
Sie führte uns zu dem kleinen Platz mit dem gelblichen Hund und zeigte mir dort, mit dem Café de la Poste im Rücken, über die Dächer der Straße hinweg die Steinmauern am Berghang auf der anderen Seite des Flusses, die Vorwerke und Schanzen des Fort Libéria. In der Tat eine großartige Festung, die in der Lage war, die schlimmsten Feinde des Sonnenkönigs aufzuhalten.
»Ich sehe keine Geschütze der Flugabwehr«, sagte ich in meiner Einfältigkeit.
Sie hatten keine Vorstellung, wie Flugabwehrgeschütze aussahen. Sie wussten nur, dass die Armee auf dieser Bergspitze, von der aus man beide Täler überblicken konnte, ein Telefon und zwei Reservisten stationiert hatte, mit dem Auftrag, den Himmel zu überwachen. Wenn sie eines Tages ein verdächtiges Flugzeug entdecken sollten, würden sie die Post in Villefranche anrufen und von dort mit dem militärischen Befehlshaber verbunden werden, der den Alarm auslösen würde. Und falls mit dem Apparat irgendetwas nicht funktionierte, könnten sie immer noch Signale in Richtung von Mont-Louis aussenden, tagsüber mit einer Art optischem Telegrafen und nachts mithilfe eines batteriebetriebenen Lampensystems. Als ob die deutsche Luftwaffe ihnen Zeit lassen würde, die Post anzurufen oder ihre Wimpel für den Signalmast hervorzuholen! Ich hatte die deutschen Geschwader gesehen, ich wusste, dass die Bomben fallen würden, ehe die Flugzeuge zu hören waren. Doch ich behielt meine Gedanken für mich und ließ mich durch eine Gasse unterhalb der Kirche zu einer Treppe leiten, die auf die Befestigungsmauer hinaufführte. Dort schob der Priester seine Mantelschöße zurück und wählte aus dem Schlüsselbund an seinem Gürtel einen übergroßen Schlüssel aus, wie man ihn an Statuen des heiligen Petrus in den Kirchen sieht.
Zunächst folgte ich ihnen in den halbkreisförmigen gewölbten Gang, der sich hinter einem Gitter auftat und durch eine Reihe kleiner gewölbter Fenster und das Spiel von Licht und Schatten auf den Steinen gegliedert war. Ganz am Ende befand sich eine Wendeltreppe, die in den überdachten Wehrgang führte, der die lange Befestigungsmauer zu beiden Seiten der Porte de France dominierte. Zur Linken wälzten sich weit unten die Fluten der Têt, der Cady floss am Fuße der Mauer entlang, und ich erkannte auch die Straße wieder, der wir vom Bahnhof aus gefolgt waren, als wir zum Dorf hinaufgingen, und die Steinbrüstung, auf die ich mich gestützt hatte.
»Die Têt, der Cady«, sagte ich und zeigte mit dem Finger auf sie.
»Na!«, sagte Agnès mit bewundernder Miene.
»Mein Wort, wir können Ihnen nichts mehr beibringen«, bekräftigte der Pfarrer. »Na ja, fast nichts.«
»Der ursprüngliche Verlauf des Conflent«, sagte er, als wolle er sich selber widersprechen, und zeigte mir den sich schlängelnden Weg tief unten in der Schlucht. »Eine der historischen Routen zur Überquerung der Pyrenäen.«
»Zur Römerzeit«, ergänzte Agnès.
Nun ging es darum, wer von beiden mir die vollkommenere Erklärung über die ›Via Confluentana‹ geben würde: über die Anordnung der Steinblöcke und ihre Markierung mit den Initialen der Steinbrucharbeiter, über den Schusswinkel und die Breite der Schießscharten, die Tiefe der Abhänge und die Anordnung der Mauerzinnen. Ich rechnete diese Rivalität dem heimlichen Einverständnis zu, das ich seit dem Vorabend zwischen den beiden beobachtete, und ich fragte mich, welcher Art ihre Beziehung war. »Ich mag Agnès sehr«, hatte der Pfarrer auf dem Weg in die Altstadt gesagt. Seine Äußerung hatte mich im ersten Augenblick nicht allzu sehr verwundert, er mochte Agnès so, wie der Hirte jedes seiner Schafe liebte, und das ›sehr‹ zeigte nur eine harmlose Zuneigung zu einem Schaf, das begabter oder liebenswürdiger als die anderen war. Doch der Glanz in seinen Augen und die Lebhaftigkeit, mit der er in Agnès’ Gegenwart sprach, eröffneten andere Vermutungen.
»Nicht schlecht, finden Sie nicht auch?«, fragte er, als sie mir das Prinzip der Gräben und Aufschüttungen erklärt hatte.
»Ja, das war gut verständlich«, erwiderte ich und zeigte meine ganze Bewunderung.
»Sie glauben Agnès Levêque vor sich zu sehen«, fügte er großtuerisch hinzu. »In Wirklichkeit haben Sie die Reinkarnation eines Festungsbaumeisters der klassischen Zeit vor sich! Einen Schüler des großen Vauban.«
»Wie haben Sie das erraten?«, fragte sie ihn und schenkte ihm ein Lächeln, das ihr ganzes Gesicht zum Leuchten brachte.
»Er hat an den bekanntesten Belagerungen des Sonnenkönigs teilgenommen«, sprach der Priester mit unerwartetem Feuer weiter, »bei der Erbauung von sechs Festungen, dem Ausbau von Villefranche, dabei will ich es belassen … ehe er einige Jahrhunderte übersprang, um sich mitten unter uns in den Zügen dieser jungen Schönheit wiederzuverkörpern.«
Ich wandte mich der Schönheit zu, und es fiel mir schwer, Agnès wiederzuerkennen. War es die Huldigung ihrer Jugend, das heimliche Einverständnis, das dieser Dialog zwischen ihr und dem Priester herstellte? Ich kannte sie erst seit gestern, und in keinem Augenblick hatte ich sie so strahlend gesehen.
»Könnte sie die Verteidigung von Villefranche gegen Francos Soldaten organisieren?«, schaltete ich mich stirnrunzelnd in das Spiel ein.
»Ohne den geringsten Zweifel«, antwortete sie schlagfertig.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, entgegnete der Pfarrer mit skeptischer Miene. »Einer Armee des 17. Jahrhunderts, ja, dem wäre sie gewachsen. Sie wüsste, wo ihre Leute stationiert und wann das Feuer eröffnet werden müsste, wann der richtige Zeitpunkt wäre, die Tore zu schließen und den Gegenangriff zu starten. Sie würde die Begeisterung ihrer Männer entfachen, und die schlimmsten Entbehrungen wären unter ihrer Führung ein Nichts für sie.«
»Dasselbe würde für den Kampf gegen die Faschisten des 20. Jahrhunderts gelten«, erwiderte die Schülerin von Vauban.
»Wenn ich es mir genauer überlege, gebe ich Ihnen doch recht. Ihr Erscheinen auf der Befestigungsmauer würde jeden x-beliebigen Feind, egal in welcher Epoche, entmutigen«, sagte er mit einem leisen Lächeln.
Ich folgte dem seltsamen Dialog des Gelehrten und seiner jungen Nacheiferin und fragte mich, ob ich mich in der Epoche geirrt hatte, ob der Zug von Perpignan mich nicht in die Zeit von Vauban, Louvois und den königlichen Ingenieuren zurückversetzt hatte, die diese Kanonengeschütze und Pechnasen entworfen hatten. Ich schaute nach oben, drehte den Kopf, und mein Blick traf nur Befestigungsmauern, Burgwarten und Steinbrüstungen.
»Drei Jahrhunderte, und nicht eine Falte«, sagte der Priester in diesem Moment, »und wenn es so sein soll, wird das alles in wenigen Tagen nicht mehr existieren.«
»Nicht mehr existieren?«
»Der Krieg, Sie vergessen den Krieg. Europa ist ein Pulverfass. Das ist nicht ganz neu, aber jetzt ist da ein Mann, ein gewisser Adolf Hitler, der eine Zündschnur bis zu diesen Tonnen gelegt hat und an ihrem Ende mit dem Feuerzeug in der Hand hämisch grinst.«
»Sie übertreiben«, sagte Agnès und zuckte mit den Schultern, vielleicht, um von dem Thema wegzukommen, das bei mir schlimme Erinnerungen wachrufen könnte.
»Ich glaube nicht! Wissen Sie, ich kenne die Deutschen ein bisschen. Zwei Jahre Schützengräben und ein Jahr Gefangenschaft!«
»Und?«
»Es sind Menschen wie Sie und ich. Doch es genügt, dass ein Fantast ein wenig ihren nationalen Stolz kitzelt, und auf einmal erkennt ihr sie nicht wieder, und sie sind zu allem bereit.«
Renée Levêque
Dunkelheit brach über die Rue Saint-Jacques herein, als der Rundweg auf der Befestigungsmauer uns wieder dorthin zurückführte.
»Und Sie, Marie?«, fragte der Priester, als er seinen Mantel wieder über dem Schlüsselbund zuknöpfte. »Sie haben bei sich zu Hause den Krieg erlebt. Den Krieg … wie soll ich sagen? Den Bürgerkrieg, den schlimmsten von allen, nicht wahr?«
Eine einfache Frage im Verlauf der Unterhaltung, doch sie erinnerte mich an Teresa und die schmerzhaften Ereignisse jener letzten Stunden. Teresa! Ich sah wieder ihr Gesicht vor mir, hörte ihre Stimme. Ich spürte das eiskalte Gewicht ihres Körpers an dem meinen, auf unserem Lager in der Baracke von Argelès.
»Kommen Sie mit und wärmen Sie sich im Pfarrhaus auf«, schlug der Priester vor, als er mich zittern sah.
»Oder bei mir zu Hause«, sagte Agnès und hakte sich bei mir unter.
Bei ihr, bei ihm, das war mir gleich. In Wirklichkeit wünschte ich nur, mein Zimmer und mein Bett aufsuchen zu können, um meine Verzweiflung im Schlaf und im Alleinsein zu ertränken. Doch Agnès bestand darauf, mich zu sich nach Hause mitzunehmen, zum Vauban, genauer gesagt in die Wohnung ihrer Eltern im ersten Stock des Hauses über dem Café. Man durchschritt das Café und öffnete eine Tür am Ende der Bar, stieg eine Steintreppe hinauf und befand sich in einer kleinen schmucken Halle. Eine Tür auf der rechten Seite führte in die Küche, die auf der linken zum Flur mit den Schlafzimmern, eine letzte lag gegenüber, und diese öffnete Agnès für mich.
Madame Levêque saß strickend in einem kleinen Sessel vor dem Fenster, und ich war von diesem ersten Anblick ihres heiteren Gesichtsausdrucks verblüfft. Heiter? Nein, es war etwas anderes, ein Ausdruck von Glück, fast von Glückseligkeit, der mich an Julia, unsere Nachbarin in Tarragona, erinnerte. Wenn sie wie jeder hier auf Erden ihren Anteil an Trauer und Widrigkeiten erlebt hatte, so hatten diese Unglücke sie nicht berührt, oder sie ließ sich nichts davon anmerken.
Monsieur Levêque spielte an dem großen Tisch mit den beiden Kindern, auf die Agnès auf jenem Platz aufgepasst hatte, als wir sie am frühen Nachmittag aufsuchten. Seine Gesichtszüge konnte ich im Halbdunkel nicht erkennen, aber er war groß, hielt sich aufrecht und vermittelte Sicherheit und Autorität.
Insgesamt herrschte eine wirklich gemütliche Atmosphäre, ganz anders als bei den Puechs. Alle begrüßten mich, sogar die kleine Hündin zu Füßen von Madame Levêque, und diese wies mir den Sessel zu, der neben ihr vor einem Fenster stand, das zur Rue Saint-Jacques hinausgehen musste. Sie stellte mir auf Katalanisch einige Fragen, bis Agnès mit einem großen Tablett voll dampfender Schalen aus der Küche zurückkehrte.
»Ich wusste, dass du sie belästigen würdest«, sagte sie in dem leicht scharfen Ton, der ihr eigen war. »Immer musst du unseren Gästen tausend Fragen stellen. Hast du dich nicht gefragt, ob die Leute wirklich Lust haben, solchen Verhören ausgesetzt zu werden?«
»Die Neugier …«, begann Madame Levêque.
»… ist ein schlimmer Fehler«, beendete ihre Tochter den Satz. »Was würdest du sagen, wenn Marie dich so ausfragen würde?«
»Ausfragen, ausfragen … Soviel ich weiß, haben wir nicht unsere Folterinstrumente herausgeholt.«
»Wir würden antworten«, entgegnete Monsieur Levêque, ohne den Blick von seinem Kartenspiel zu heben.
»Du würdest antworten? Du willst doch nicht einmal, dass man weiß, dass du Bürgermeister bist.«
»Nicht Bürgermeister, Agnès, wie oft muss man es dir noch wiederholen? Ich bin nicht Bürgermeister, nur Präsident der Sonderdelegation.«
»Ja, gut …«
»Das ist nicht das Gleiche. Ganz und gar nicht.«
In diesem Moment hob Madame Levêque den Blick von ihrem Strickzeug und berichtete mir in sehr einfachem Französisch, wie ihr Mann zum Stellvertreter des kommunistischen Bürgermeisters von Villefranche ernannt worden war. Das war für mich keine Überraschung. Die Ereignisse in Spanien hatten uns wider Willen politisiert. Die deutschen Sturzkampfflugzeuge und die Kanonen der Italiener hatten uns gelehrt, dass der Ausgang des Krieges von den internationalen geheimen Machenschaften abhing, aber ebenso – oder vielleicht sogar noch mehr – von den Auseinandersetzungen vor Ort. Und in Argelès waren wir über das Tagesgeschehen informiert, durch unsere Gewerkschaftskameraden insbesondere über die aktuelle französische Politik.
Die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts im August 1939 hatte leidenschaftliche Diskussionen ausgelöst, und wir wussten, dass die französische Regierung Maßnahmen ergriffen hatte, um die Kommunisten und die Sympathisanten der spanischen Republik auszuschließen und durch Konservative zu ersetzen, doch all das schien sehr weit weg und blieb für uns quasi theoretisch. Die Geschichte der Absetzung des Bürgermeisters von Villefranche zeigte mir die praktische Seite dieser Frage.
»Villefranche ist eine rote Hochburg«, erklärte Madame Levêque, da ihr mein Interesse aufgefallen war. »Das freut meinen Mann nicht wirklich«, sprach sie mit leicht provozierendem Lächeln weiter, »aber es ist so.«
»Ich dachte, in Frankreich wären die Leute auf dem Land konservativ.«
»Ah! Ich sehe, dass Mademoiselle gut informiert ist«, entgegnete sie und strickte eine weitere Masche. »Nun, haben Sie sich einmal gefragt, liebe Marie, ob wir hier wirklich auf dem Land sind?«
»Villefranche ist ein Dorf, oder etwa nicht?«
»Ein Dorf sicher, wenn man die Einwohnerzahl bedenkt. Aber wie vielen Kühen und Schafen sind Sie seit Ihrer Ankunft begegnet? Keinem einzigen Tier, stimmt’s? Wie vielen Bauern? Ich wette, nicht einem.«
»Was tun die Menschen dann? Wovon leben sie?«
»Eine berechtigte Frage. Außer den Geschäftsleuten, dem Lehrer und den Angestellten im Rathaus sind die Menschen in Villefranche Arbeiter.«
»Arbeiter?«
»Das wundert Sie? Oh, Sie werden in dem Ort keine Fabrik sehen, außer der Limonadenfabrik meines Mannes, aber es gibt das Elektrizitätswerk, die Eisenminen, die Gießerei, die …«
»Die Eisenbahngesellschaft«, fiel Agnès ein und warf durch den Dampf ihrer Schale einen verstohlenen Blick zu ihrem Vater hinüber. »Der erste Arbeitgeber des Kantons. Ein Nest von Gewerkschaftlern.«
»Sehen Sie den Bahnhof vor sich, wo Sie ausgestiegen sind, den Bahnhof von Fuilla?«, fiel Renée ein, als wollte sie einen Streit im Keim ersticken.
»Ja, wir haben ihn auch oben von der Befestigungsmauer aus gesehen.«
»Das ist ein wichtiger Bahnhof. Ein Knotenpunkt des Eisenbahnnetzes zwischen den Linien der Ebene und denen der Cerdagne. Von dort aus werden diese Linien gewartet und verwaltet, mit zweihundert Angestellten. Und wo wohnen sie und ihre Familien?«
»In Villefranche?«
»Ja. Das ist für sie am nächsten. Fuilla, Ria, Corneilla … das ist alles viel zu weit weg. Nun verstehen Sie wohl, dass die Arbeiter der Fabriken und der Eisenbahngesellschaft nicht gerade diejenigen sind, die rechts wählen werden.«
»Daher kommt die kommunistische Mehrheit?«
»Genau. Und daher die Absetzung des Bürgermeisters nach der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts, versteht sich. Frankreich ist im Krieg mit Deutschland, Deutschland hat sich mit Russland verbündet. Wir werden nicht Leuten die Führung überlassen, die Kontakte und vielleicht sogar Beziehungen zum Feind haben.«
»Und was ist aus dem Bürgermeister geworden?«, fragte ich.
»Er war reif für das Gefängnis, oder das Arbeitslager«, antwortete René Levêque und sammelte seine Karten ein, »aber machen Sie sich um ihn keine Sorgen, die Gewerkschaft hat ihn ins Grüne gebracht, er soll bei einem kleinen Bahnhof weit abseits von allem leben und Kohl pflanzen.«
»Ich lass mich nicht davon abbringen«, sagte Agnès. »Bürgermeister oder Präsident, das ist das Gleiche, nur die Bezeichnung ist eine andere.«
»Der Bürgermeister ist gewählt worden, der Präsident amtlich bestimmt«, antwortete ihr Vater schlagfertig. »Wenn es nur das wäre …«
Die politische Situation von Villefranche stand in jenem Augenblick wirklich nicht im Mittelpunkt unserer Sorgen, doch sie hatten versucht, mir meine Befangenheit zu nehmen und mich so auf mein neues Leben vorzubereiten. Es war ihre Art und Weise, mich zu empfangen, und deshalb berührte es mich.
Anschließend machte es sich Agnès zur Aufgabe, mir von der Geschichte ihrer Eltern zu erzählen, in ihrer Gegenwart und folglich gewissermaßen unter ihrer Kontrolle. René Levêque war in Algerien in einem Dorf bei Mostaganem geboren. Seine Eltern besaßen ein Stück Land, von dem sie nur schwer leben konnten, und so drängten sie ihren Sohn in andere Bahnen. Also studierte er ein wenig, um ihnen zu gehorchen, und von einem Tag auf den anderen hatte er sich bei der Reitertruppe der Spahis verpflichtet. Offizier im Ersten Weltkrieg, dann Jahre des Hin und Her zwischen Marokko, wo er seine Männer rekrutierte, und seiner Kaserne in Perpignan. Dann kam Renée.
»An einem 14. Juli auf dem Ball von Prades«, führte Madame Levêque die Erzählung weiter. »1921. Wir haben sofort geheiratet, und Agnès wurde neun Monate später geboren.«
»Am 23. April 1922«, warf eines der Kinder voller Stolz auf sein Wissen ein.
»Auf der Krankenstation der Kaserne«, sagte Agnès seufzend. »Wie ein Bühnenauftritt …«
»Wie bitte? Wie ein Bühnenauftritt? Die Armee bot uns eine Unterkunft an, und wir konnten diese Annehmlichkeiten doch nicht ausschlagen. Im Übrigen war die Krankenstation sehr sauber. Und außerdem – worüber beklagst du dich? Du hast an jenem Tag sehr glücklich ausgesehen, und ich muss es ja wissen. Du wurdest nach Strich und Faden verwöhnt.«
Der Vater von Renée war ein Jahr später gestorben, und daraufhin hatte René gebeten, vorzeitig entlassen zu werden, um die Geschäfte zu übernehmen: das Café, die Abfüllfabrik, die Wohnung … Und Renée war sozusagen in die ›Startposition‹ zurückgekehrt, in die Wohnung ihrer Mutter, in deren Sessel, sogar in ihr Bett, Lichtjahre von einem Leben des Reisens in fremde Länder entfernt, wie sie es sich erträumt hatte. Doch sie hatte die Wahl ihres Mannes bereitwillig akzeptiert. Denn Monsieur Levêque gefiel es in Villefranche. Hier fühlte er sich in Sicherheit. Die Befestigungsmauer erinnerte ihn an die Mauern seiner Kaserne und gab ihm dasselbe Gefühl von Schutz.
»Deshalb hat er mich geheiratet«, bemerkte Madame Levêque lachend, »wegen der Mauern von Villefranche.«
»Das ist nun alles vorbei«, erwiderte ihr Mann, ohne sich von seinem Tisch fortzubewegen.
»Was heißt vorbei? Was willst du damit sagen? Wir sind da und Villefranche auch.«
»Du weißt sehr wohl, was ich damit sagen will. Möchtest du, dass ich dich daran erinnere, wo ich letzte Woche war?«
Das Klappern der Stricknadeln verstummte. Die kleine Hündin seufzte in die anhaltende Stille hinein.
»René ist Reservist«, sagte Madame Levêque schließlich und warf mir einen hilflosen Blick zu. »Sie haben ihn zu einem Manöver einberufen.«
»Ich kann euch nur sagen, das ist nicht gerade einfach, gleichzeitig noch ein Unternehmen zu leiten. Also, an dem Tag, an dem ich meinen Einberufungsbescheid erhalte …«
»Aber nein, das wird nicht geschehen«, sagte seine Frau und hantierte nervös mit ihrem Wollknäuel herum.
»Und ich sage dir, dass es passieren wird, und zwar schneller, als wir denken. Wir sollten lieber die Augen offen halten.«
»Werden Sie gehen?«
»Natürlich werde ich gehen, was soll ich denn Ihrer Meinung nach sonst tun? In meinem Alter werde ich wieder durchwachte Nächte, Gewaltmärsche und Pausen inmitten von Schlamm durchmachen müssen. Tage und Monate lang. Von den Granaten und dem Pfeifen der Kugeln ganz zu schweigen.«
»Und Sie, Marie?«, fragte Madame Levêque mit zugeschnürter Kehle. »Erzählen Sie uns ein wenig von sich, das bringt uns Abwechslung.«
»Oh, das ist schnell erzählt. Ich bin in Tarragona geboren, habe dort meine Kindheit verbracht, und ohne den Staatsstreich der Nationalisten wäre ich noch immer dort.«
»In Tarragona!«, wiederholte Monsieur Levêque mit eigenartiger Stimme. »Ihre … Ihre Eltern waren von dort?«
»Papa, ja. Bei Mama ist es komplizierter. Ich glaube, sie ist wie Sie in Algerien geboren. Ihre Eltern hatten sich dort niedergelassen. Aber sie ist zurückgekommen, warum, weiß ich nicht genau. Sie hat nie darüber gesprochen.«
»Sie hat nie darüber gesprochen?«
»Darf ich dich daran erinnern«, fiel Agnès ihm unfreundlich ins Wort, »dass wir uns hier in einem Wohnzimmer befinden, in unserem Wohnzimmer, und nicht in einem Folterraum der 24. Kolonialtruppe?«
Monsieur Levêque ließ es sich gesagt sein, aber seine Frau wollte mehr darüber wissen und brachte mich unsensibel, mit einer Frage nach der anderen, dazu, meine Leidensgeschichte zu erzählen. Ich fürchtete diese Rückkehr zu den schwierigen Momenten meines Lebens, doch in Wahrheit brachte es mir Erleichterung. Ich hatte das alles für mich behalten, ohne das Gewicht abzuschätzen, das dieses Schweigen meiner Seele auferlegte. Zu Beginn ließ ich mich ein wenig bitten, doch bald floss mein Bericht nur so dahin. Sie hörten mir alle zu, sogar die Kinder, und ich spürte, wie die Last im Verlauf des Erzählens immer mehr von meinen Schultern fiel.
Sie wollten, dass ich den Abend über bei ihnen blieb, doch ich fiel vor Müdigkeit fast um und fühlte mich erneut unwohl. Der Anblick dieser Familie erinnerte mich daran, dass ich die meine verloren hatte, und dieses Mal war es stärker als Granados, stärker als Das Mädchen und die Nachtigall. Die Verzweiflung im Herzen und die Hitzewellen, die meinen Körper durchliefen, die Anfälle von Schüttelfrost und Niedergeschlagenheit raubten mir jede Kraft. Was würden zudem die Puechs sagen, wenn ich sie vom ersten Abend an allein ließ? Es gelang mir, mich aus dem Sessel von Monsieur Levêque hochzuziehen, genau genommen aus dem Sessel seines Schwiegervaters, und Agnès begleitete mich zu meinem ›Zuhause‹.