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das System der Anstalt

begriff Sybille rasch. Die Kranken blieben in beständiger Beschäftigung mit ihrem Körper, sie fing mit kalten Güssen und dem Frühstück an, es folgte die Sprechstunde, folgten Bäder und Turnübungen, das Luftbad, der Spaziergang im Freien, Massage und Douchen, am Abend waren sie ermüdet und schliefen rasch ein. »Dasselbe System wendet die katholische Kirche auf die Seelen an,« erklärte ihr Oremus, »beständige Unterbrechungen der Denktätigkeit, Vaterunser, eine Tageszerteilung in Viertelstunden. Wir sind gutmütiger und ersparen das Hanfseil und die Nachtwachen. Aber wenn es die Patientinnen verlangen, können wir auch damit dienen.«

Sie befanden sich in seinem Sprechzimmer zwischen chirurgischen Instrumenten und Gläsern, seinem Schreibtisch und den verstellbaren Liegestühlen, die zu Untersuchungen dienten. Es war ein großes, helles Zimmer mit anstoßendem Kabinett; draußen erwarteten einige dreißig Kurgäste schon ihren Aufruf. Er saß auf seinem Drehstuhl am Schreibtisch, ein großer schlanker Mann mit einem Spitzbart und goldgefaßten Brillengläsern, die seinen Ausdruck nie deutlich erkennen ließen. »Sie sind so gesund! Ich fühle, daß Sie vollkommen gesund sind! Das Blut sehe ich in Ihnen kreisen von der Schläfe bis zur Rosenspitze Ihres Zehs. An Ihnen ist nichts verkrüppelt, einseitig oder armselig. Sie könnten Kinder in Ihrem Schoß tragen und würden sie leicht und glücklich gebären.«

Sybille hörte zu, es lag Wahres in dem, was er sagte. Durch die gute, reine Nahrung im Sanatorium und reichliche Bewegung in frischer Luft war ihr Blut leicht und ruhig geworden. Ihr Herz schlug regelmäßig, mit dem sachten, steten Klopfen einer Uhr.

»Und Sie sind kalt!« fuhr der Doktor fort, sie durch die Brillengläser festhaltend. »Die Frau muß kalt verhalten sein. Unter den vielen schlechten Künsten, die wir das Weib gelehrt haben, unter den Verbrechen, war das größte, daß wir die Frau zur Wollust anleiteten. Es gibt nichts Widersinnigeres als ein wollüstiges Weib. Sie sehen, wohin dieser Unterricht führt: Auf den Operationstisch und ins Irrenhaus. Die Frau ist zur Liebe bestimmt, niemals liebte sie durch die Sinne, immer nur durch das Gemüt! Die Frau sucht unbewußt die größte Kraft. Immer wird Magdalene sich einem Christus zu Füßen werfen, sie, die den Schwelger, den Sieger und den Reichen gekannt hatte. Sie verläßt den Schwächling so leichtherzig, wie sie einen falschen Weg aufgibt, wenn der Wegweiser sie belehrt, daß ihr Weg der unrichtige war. Wie sollte sie über einen bloßen Irrtum, aus Unwissenheit begangen, Reue empfinden? Die Frau ist immer rein. Wir sind es, die sie besudeln! Begreifen Sie, daß wir auf dem besten Wege sind, aus den Frauen Männer zu machen – lasterhafte und neidische Knaben wie die, deren sich für ihre abscheulichen Zwecke die Knabenschänder bedienen! Bald – wenn die Manneskraft weiter sich so vermindert oder die Furcht vor der Schwangerschaft zunimmt, wird man sich dieser Wesen des dritten Geschlechts sogar in der gleichen Form bedienen.«

Ksss, ksss, Familie

Mathias begann die Briefe der neuen Siedlungsanwärter, vorzulesen. Er begnügte sich damit, das Tatsächliche vorzuzeigen. Wer von den Fachhandwerkern ein paar Sparpfennige einzuschießen dachte, wer, durch bäuerliche Herkunft, sich für den landwirtschaftlichen Betrieb verwenden ließ. Als die Reihe an zwei Ehepaare kam, der Mann rüstig, die Frau verhältnismäßig jung, die Kinder ein Versprechen für die Zukunft, verlor Mathias die Sachlichkeit der Darstellung und erwärmte sich zum Lobe der Familie. Er beschrieb sie, wie sie im Mittelalter blühte, ein Kreis von Menschen, die alle Arbeitsleistung unter sich verteilten und dadurch unabhängig von der Umwelt wurden, Herren ihres Grund und Bodens, von den Interessen der Zeitläufte nicht abgeschlossen und doch in sich gefestigt, ein Bollwerk gegen die Anmaßung der Willkür und der Ungerechtigkeit. Diesem Vorbild habe die Siedelung ihre Grundsätze entnommen, die Form der Familie zu gewinnen sei ihr schönes Ziel, als ein Bund, der den verwandtschaftlichen Kitt der Sippe durch freiwilligen Zusammenhalt ersetzen und sich das Recht erobern wolle, zu erklären: hier ist unser Reich, hier sind wir frei zu schalten und zu walten, hier schützen wir uns durch die Heiligkeit der Liebe und die Gesetze der Gegenseitigkeit. Und darum meine er, die Familie würde sich in die Gemeinschaft fügen, wie Einzelzellen in einen Organismus.

Fie und Miete namentlich, und auch Helene Vogtherr, platzten aus allen Nähten vor Begierde, sich über die zuziehenden Frauen und Kinder zu unterrichten: Alter, Namen und Charakter. Klemens Hassenkamp warf einen aufreizenden Laut hinein, scharf: »Ksss, ksss, Familie,« höhnte er, »wenn man das Wort nur ausspricht, ist gleich die Meute losgekoppelt und kläfft und schnüffelt, um die neuen Eindringlinge zu zerfleischen.«

Von Urbschads Blick getroffen, bewegte er sich auf ihn zu und sagte trotzig: »Wenn du wirklich die Absicht hast, unsere Siedelung nach dem Vorbild der Familie zu entwickeln, es wäre besser, daß man sie im Keim erstickt. Denn sie hat alle Gemeinheit ausgeheckt, das Aneinanderkleben, das Übervorteilen zu ihrem eigenen Profit. Ein Bollwerk hast du sie genannt. Ja, das ist sie, eine Mauer, hinter der alle Gemeinheitslaster nisten. Ich meine, was die Eltern für ihre Kinder tun, ist meist nichts, als sich selbst und was sie eingehamstert haben, über das Grab weg festzuhalten, und für dieses sogenannte Opfer soll das Kind ihnen, so lang sie leben, dankbar und unterwürfig sein.« Warum Mathias ihnen nicht die großen Umstürzler zum Beispiel gebe. »Die haben im Mittelalter mit dem ganzen Schwindel aufgeräumt. Los von der Pfafferei, los von der Fürstenknechtschaft, los von der Lüge der Familie! Alles war gemeinschaftlich bei ihnen: das Eigentum, der Boden, und alles ihrem Willen freigestellt: der Glauben und die Arbeit und die Liebe.«

Hassenkamp malte, gegenwartsbegehrlich, die geschlechtliche Glückseligkeit der mittelalterlichen Bünde. Da war der heuchlerische Dirnendienst im Ehebette von der Frau genommen. Mit der Schuld verschwand die Sünde, und der Genuß blieb unbelästigt von der Pflicht. Die Mutter, der ihre Kinder wichtig waren, konnte sie behalten, wer sich ihrem Anspruch nicht gewachsen fühlte, vertraute sie der öffentlichen Obhut an. Der Schoß der Frau war von der Sklaverei befreit, sie durfte, mit den gleichen Rechten wie der Mann die Lust genießen. Wer sich liebte, paarte sich, und in dieser echten, von der Natur gebotenen und von dem falschen Eid der Treue unbeschwerten Ehe lebten Mann und Frau so lange, als ihr Umgang durch die Zärtlichkeit geheiligt war.

Dischkurieren bis auf Mitternacht

Hassenkamp hatte seine Wahlzettel zerfetzt, und lehnte mit verschränkten Armen an der Mauer, den Kopf herausfordernd zurückgeworfen. Über ihn hinweg wurden die beiden, von ihm angefeindeten Familien aufgenommen. Urbschad hatte die Gemeinde noch mit einer zweiten Gruppe Einlaßsuchender bekannt zu machen. Karl Sodählen, sein Sohn Hermann und seine Tochter Fie tauschten allerlei Geflüster miteinander aus, wobei Blicke auch zu Hassenkamp hinüberflogen, bis sich der Alte aus ihrer Mitte löste, als Abgesandter ihrer Wünsche. »Möcht ich mir erlauben, Herr, früh, wie wir haben angefangen, hat noch am Himmel letzter Stern geleuchtet, erster war schon wieder da, und wir haben noch immerfort geschuftet, dann Dischkurieren bis auf Mitternacht, mein ich, wär genug für heut, ist morgen auch wieder ein Tag.«


Urbschad sah den Mann so ruhig an, als setze er in seine Aufrichtigkeit keine Zweifel. »Du hast recht. Aber wir wissen ja, warum die Sache Eile hat.«

Der Alte schien wesentlich erleichtert, als ihm, durch seinen Sohn, Verstärkung kam. »Ja siehst du, Herr, du hast uns doch selbst davon gesprochen, wir sind nicht alle gleich viel wert; es kommt ganz darauf an, wie grob oder wie fein die Arbeit ist, die man verrichtet. Na und da meinen wir, es werden noch mehr feine Herrschaften bei uns spazieren gehen, und es wird noch mehr Schindluder gespielt werden mit uns.«

»Freilich,« sagte Urbschad, »wenn ihr mich so gründlich mißverstanden habt, dann müssen wir uns noch einmal auseinandersetzen. Und für heute, gute Nacht.«

Mit dieser Erledigung ihres Gesuchs war Hermann Sodählen nicht einverstanden. »Also, wenn ihr euch so aufspielt. Es sind uns zu viel Ausländer dabei und dann,« weil es ihm unbequem war, brachte er es um so trotziger heraus, »wir möchten auch nicht noch mehr Juden.«

Was jetzt folgte, war ein Durcheinander von Gleichzeitigkeiten, die keiner hätte auseinanderhalten können. Mathias Urbschad versuchte nicht, den Aufruhr zu beschwören, Ekel wandelte ihn an. Statt seiner griff Edward Hartley schlichtend in den Wirrwarr ein, seine Anteilnahme an der Siedelung sei zu lebhaft, als daß er den Zerwürfnissen zuzuschauen imstande sei. Er richte die Bitte an die anwesenden Frauen und Männer, ihn in ihre Mitte aufzunehmen. Die Siedelung sei zu sprunghaft in ihrer Entwicklung vorgegangen. Die Mehrzahl der Mitglieder, mit kapitalistischen Methoden großgezogen, könnte die ideale Forderung nicht sofort verdauen. Er würde vorschlagen, zu einem vermittelnden System zurückzukehren. Beispielsweise sei die landesübliche Entlohnung bei jeder Siedlungsleitung in Betracht zu ziehen, so daß die Arbeit, je nach ihrer Art und Dauer, im Tauschhandel ihren bestimmten Geldwert habe.

»Das will heißen, daß die Siedelung in eine Erwerbsgesellschaft umgewandelt werden soll«, puffte in Hassenkamp die Fieberhitze noch einmal auf.

aus keiner Morphologie der Geschichte

keinem Vergleich mit anderer Epoche war diese Zeit zu verstehen, weil alles Echte der Beziehungsinhalte nagelneu wurde, und sie, Eura Fuld, Amsterdamerin aus gutem Haus durchaus nicht Geld, Reichtümer, Sitten, die mit Vergangenheit verbanden, liebte. Ja sie würde den Menschen töten können, der nicht schaffender Mitmensch, sondern nur Existenzen fressender Schmarotzer war.

Plötzlich glaubte Eura, ihre dringendste Aufgabe zu kennen: eine nachzulesende Kontrolle des geschichtlichen Prozesses, aus dem der heutige Standpunkt geboren sei, müsse sie zu der Massen greifbarem Verständnis schaffen; Reihen maßgebender, historischer Zeugen für dies schon lang erkannte Ziel aus Künsten und Wissenschaften aufrufen und statt üblichen, einseitig gefälschten und betäubenden Lesestoffs, deren oft märtyrerhaftes Bekenntnis zur Hirnfüllung neuer Menschheit machen. Es mit Zeitoriginalem so veröffentlichen, daß es durch ihre Zuschüsse zur Herstellung für jedermann käuflich sei.

Unter mehr oder weniger Berufenen vieler Nationalitäten, die sich anboten und empfohlen wurden, entschied sie sich für einen Deutschen: Doktor Rank. Rank, schlank, vierzigjährig mit prachtvollem Kopf, runder Hornbrille und ausdrucksvollen, schmalen Händen stellte sich vor, als träte er, selbst ganz ohne Mittel, nicht in Abhängigkeit zu ihr, sondern habe unter vielem, das ihn reizte, ihr beizustehen Laune. Durch ihr Haus bewegte er sich, als habe er nie in anderen Räumen gelebt. In seiner Stimme keine Spur Anpassung an sie. Er wagte sogar, ihre Rede zu kappen, wo sie selbst spürte, sie wurde unklar. Fabelhafter Handbewegung führte er sie zu Ende. Ihre schnell mitgeteilten Grundgedanken schien er zu billigen, obwohl nach jedem Satz eine Lücke blieb, in die er, wäre es darauf angekommen, viel hätte sagen können.

Er riet ab, eine Sammlung auf die Hauptbonzen der Menschheit neueingestellter Kritiken zu veröffentlichen, weil Angriff auf so breiter Front gegen im Grund überall gleiches Prinzip unmöglich großen Erfolg haben könne. Nicht jede Idee und Metapher könne sie einzeln erwürgen. Aber Gott sei Dank münde dieser feindlichen Absichten Gesamtheit in gleichen sprachlichen Ausdruck, den Begriff; und zwar in den vom Bürgertum mit Begeisterung aus Dichtung zu seinem Gemachten. Summe dieser bürgerlich fixen Begriffsbildung müsse man auf eine Weise anrempeln, daß den Bourgeois der ganzen Welt Schaum am Munde stünde. In einer Enzyklopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie, wie er den Titel vorschlug, müsse man mit Fanfaren bloßstellen, wie der seit Jahrhunderten allmählich alles besitzende Bürger auch Sprache vergewaltigt habe, so daß jedes Wort, das naiver Mensch rein und keusch zum andern sagen möchte, einen in ihm schon festgemachten Hinter- oder Untersinn aus der Vergangenheit enthalte, der den jetzt mit ihm gewollten besonderen Ausdruck entstelle, ohne daß der Sprechende selbst es merke.

Sage man Abart zum Beispiel und meine von einer Regel einfach Ausnahme, sei in die Silbe ab ein Urteil, an das der Redner nicht denke, so eingebaut, daß Abart vom bürgerlich vorausgesetztem Durchschnitt Abweichung und somit Tadelnswertes wie etwa Abschaum bedeute, wodurch so Bezeichnetes mehr oder weniger gerichtet sei. Dies bedeute zugleich die einzig wirkliche Revolution, die tief genug reichen könne, weil noch so rebellische Tat, wie Geschichte beweise, schon am anderen Tag durch Gegentat vernichtet sei, während das aus der Zeit für die Zeit errichtete Sprachdenkmal erschöpfend und überzeugend sei. Mitarbeiter auf allen Geistesgebieten müsse man suchen, jedem die gebührende Begriffsgruppe zur Entlarvung zuteilen und dann das Netz, das enger als Klassenketten Menschheit schnüre, mit gewaltigem Ruck der Besten zerreißen.

Ihr leuchtete ein, in der Tat müsse es Ereignis ohne Vergleich sein, könne man die aufrührerische Absicht bis zum Ende durchführen, alle Sprache, die Europa heute im Maul wälze, und mit der es sich ständig um jeden ursprünglichen Sinn betrüge, zerstören, um im Anschluß an die Demolierung für verwaschenen und gefälschten Ausdruck überall zeitgemäßen, erschöpfenden zu setzen. Feuer und Flamme war sie! Er war einverstanden, man begänne mit den die Wechselwirkung zwischen Geschlechtern aufzeigenden Begriffen, stelle der klischierten Beziehung vom heldischen, richtunggebenden Mann zum demütigen, von ihm sicher geführten Weib, massenhafte Wirklichkeit jedes lebendigen Augenblicks gegenüber, in dem, aufrecht und instinktstark im Gegenteil Frau den schaukelnden, polternden Lebensgefährten vor Abgründen rettet.

Ihr einziger Freund

war Parzival – sie kannte seinen bürgerlichen Namen nicht, er war schön und jung noch, unter braunen, fallenden Locken, mit einer groben Kutte bekleidet und rauhen Wollstrümpfen an den Beinen. So sah er wie ein junger Hirt oder wie ein Gott aus, und ein wenig glich er einem Mönch. Er kam laut singend, in Sprüngen vom Berg hinunter und er sah Sybille, die erschöpft und blaß, an der Steinmauer lehnte. »Sie sind krank,« sagte er. »Aber Krankheit ist Sünde. Sie dürfen nicht krank sein!«

Sybille lebte nun in einem Weltwinkel, den sie früher einmal auf Reisen kennen gelernt hatte. Es fanden sich dorthin Menschen, die, von einer sehr duldsamen Gesetzgebung und gesellschaftlichen Forderungen unbehelligt, nach natürlichen Bedingungen lebten. Mitmensch, ich sehe Dich nackt, wie sehr kompliziert und umwegig Du Dich auch gebärdest. Jeder von diesen Menschen war ein Eigner oder ein Eigensinniger, ihre sehr lose Gemeinschaft hatte am Oberen See ein großes Stück Land erworben und überließ den Einzelnen Anteile gegen Kauf oder Pacht. Die meisten Ansiedler waren Vegetarier, sie lebten von den Früchten ihres Gartens und den einfachen Lebensmitteln, die das nächste Städtchen unten am See lieferte. Sybille bewohnte ein kleines Holzhäuschen mit blühenden Reben und roten Rosen bewachsen, sie hauste dort ganz allein. Parzival zeigte ihr, wie man beim Gartenbau die Geräte regierte, sich die Arbeit leichter machte; die schweren Wassereimer trug er wie Spielzeug. »Sie müssen gute, reine Luft einatmen, die unsres Bergs hier! Und die schlechte aus der Stadt müssen Sie gewaltsam ausstoßen. Nur die Früchte, die reif, voll feuchten Lebens sind, dürfen Sie essen, und heiliges Wasser trinken. Sehen Sie immer die Schönheit der Welt – im großen und im geringen.«

Sie dachte: Wie ist das möglich, nicht zu denken, dahinten liegen große Städte voll Schmutz, Rauch und Verbrechen? Sie aß nur Früchte und reines, grobes Brot, das sie sich selbst buk. Und immer wieder erstarrte sie fast vor der Offenbarung der Schönheit, über den Umriß eines Weinblatts vom Mittag in glühendem Gold gezeichnet, vor dem silbergrauen Fernblick auf den See.

So nah an der Erde, unter den Steinen, die Wärme ausstrahlten, fühlte Sybille ihren Herzschlag gewaltig und gleichmäßig. Sie hatte die Erde wiedergefunden, die atmet und ausatmet. In sehr alten Zeiten war die Frau Eigentum des Mannes und buchstäblich ein Stück von ihm. Niemals zwang eine natürliche Notwendigkeit zu einem solchen Verhältnis, der Mann in seiner Kraft und in seinem Stolz lehnte sich auf gegen seine Schwester, die schwächer war und ein Gefäß seines zeugenden Willens blieb. All die vielen tausend Jahre mordeten, kämpften, feilschten Männer um das Weib, die Ware, den Preis. Einige zahlten für sie, andre raubten, die letzten wandten schon Kunstgriffe an, um sie zu verführen. Immer ging des Mannes Wille auf Macht, auf die Herrschaft über sie. Und die Frau? Sie gehörte nur der Erde, während er den Himmel absuchte, ihn anrief und verfluchte.

Sie saß da, wie die alten Frauen in der Wüste, die Arme um ihre Kniee geschlungen, auf dem Stein, während der Abendwind mit ihren losen Haarsträhnen spielte. Die Frau war das Leben der Welt, aber der Mann, indem er dies Leben unter Begriffe und Willensvorstellungen zwang, mordete das Leben.

Die Sense

sauste, den Männern, die das Korn in Büscheln niederlegten, folgten die Frauen, die es zu Schwaden banden. Der Grund, auf dem der Roggen reifte, türmte sich allmählich zu einem Hügel. Da riß in einer Ecke der Gesang, die Lücke wurde durch ein verworrenes Murmeln ausgefüllt, ein Menschentrupp verknäulte sich, und aus seiner Mitte trat ein Mann auf Urbschad zu. Es war Wilhelm Kairies, der Ortsgendarm, der den beiden Urlaubern eine militärische Verordnung übergeben hatte, die sie unverzüglich zu ihrem Regiment zurückberief. Zu einer Übung stand auf dem Papier. Urbschad fragte: »Rufen Sie von allen Gütern die Leute ein?«

Kairies hob die Achseln, wies auf das Bündel Schriftstücke, die er noch abzutragen hatte, und war schon auf dem Abmarsch nach dem benachbarten Gehöft. Urbschad sah dem Beamten lange nach. Der setzte trotz seiner Eile die kurzen Beine ganz bedächtig, während er das große Feld durchquerte; und wie er jetzt die Mütze lüftete, um mit dem bunten Baumwolltuch den Schweiß zu trocknen, glänzte seine Glatze rötlich über dem steifen blauen Tuchkragen der Uniform; lange konnte man ihn auf der Ebene verfolgen, wie er immer kleiner wurde und endlich vom Horizont verschwand.

Die Urlauber kamen, um ihren Lohn zu holen. Sie murrten über die unerwartete Verkürzung ihrer Freiheit, doch bereits unter dem Bann der Disziplin, standen sie stramm vor Urbschad und schulterten die Spaten gleich Gewehren. Beim Abschied veränderte sich ihre Haltung; von wilder Lustigkeit gepackt, schwenkten sie die Sodählenmädchen im Kreise, wie zum Tanz. Dann holten sie die Branntweinflaschen aus dem Kittel, schütteten den Inhalt in die Gurgeln, hakten sich ineinander und sprangen auf den Weg hinunter, von wo sie nochmals vorschriftsmäßig salutierten. Arm in Arm, eins zwei, eins zwei, zogen sie im Paradeschritt vorbei und gröhlten dabei ein zotiges Soldatenlied.

Schweigend legten die Siedler die Halme nieder und bauten sie zum Trocknen auf, schweigend verzehrten sie, im Kreis gelagert, das zweite Frühstück; nur die fremden Mägde ließen ihre Zungen laufen. Sie hatten ihren Dienst in Wolla, einem Dorf dicht an der Grenze, die Ostpreußen von Rußland schied, angeblich verlassen, weil sie sich dort vor einem Überfall durch umherstreifende Kosaken nicht mehr sicher fühlten, und sie behaupteten, die Russen hätten schon so viele Geschütze aufgefahren, daß man von deutscher Seite in die Rohrmündungen habe schauen können.

Mathias beschwichtigte, er erinnerte an den feurigen Ballon, den Otto Vogtherr gestern hatte aufsteigen sehen; natürlich ein tollkühner Versuch, von Feindesseite aus die Gegend auszuspähen, und der sich dann als das Gestirn des alten Jupiters entpuppte, der an diesem Abend besonders groß und glänzend aufgegangen war. Während es um ihn lachte, fragte er sich: bin ich es wirklich, ich gebe scherzhafte Bemerkungen über den herannahenden Krieg zum besten, habe ich mich mit seiner Unausbleiblichkeit schon abgefunden?

Der Bursche

der jeden Morgen die Milchkanne mit seiner Karre holte, war einer Frau auf der Landstraße begegnet; unweit der Bahnstation habe sie am Straßenrand gesessen, in ein schwarzes Schleiertuch gewickelt und ganz vermummt in einen langen blauen Mantel. Er habe angenommen, sie sei mit dem Nachtzug angekommen und könne vor Müdigkeit nicht weiter. Aber bei seinem Anerbieten, bei ihm aufzusteigen, sei sie dem Bahnhof zugerannt, als würde sie verfolgt. Ohne Zweifel traf seine Beschreibung auf die Russin zu. Sodählens machten aus ihrer Abneigung gegen Vera Petroff keinen Hehl, das Wort Spionin wurde laut.

Noch tiefer als am Vormittag hing das Gewölk auf das Ährenfeld herunter. Merkwürdigerweise war es Otto Sodählen, dem der Einfall kam, einen der Bachschen Kanons anzustimmen, die Mathias im Winter mit den Stimmbegabten durchgenommen hatte. Mit festem Einsatz brachte er die Melodie, Hubert nahm sie in der Oberquinte auf und gab sie an Lewicki weiter, von dem sie der Alt Kornelies und der Sopran Sabines übernahm, während Urbschads Baß auf der Tonika des Kontrapunktes beharrte, als ob der Weltgeist in diesen Klängen spräche.

Die Kutsche, die vom Gutshof her, mit Gepäck beladen, die Landstraße hinunterrollte, und in der Edward Hartley und Herr v. Plessow dem Grafen Testi gegenübersaßen, wurde aufgehalten. Hartley, der schon beim Einsteigen einen kurzen Umweg von den beiden Herren erbeten hatte, holte jetzt ihre Erlaubnis ein, die Fahrt zu unterbrechen; nur eine kurze Botschaft sei ihm für den jungen Urbschad aufgetragen. Der Italiener verbeugte sich verbindlich, Plessow murmelte etwas von »Zug versäumen«, und zog die Uhr verdrossen aus der Tasche. Sein König rief, seine Liebe mußte er verlassen; es empörte ihn, daß schwarzer Kummer seine Begeisterung lähmte. Hartley hatte inzwischen Testi auf das Singen seiner Freunde aufmerksam gemacht. Der Italiener lächelte: »Als Ausdruck für die Grundsätze der Siedelung scheint mir die Form des Kanons doch zu gesetzmäßig zu sein.« Sein Kunstgeschmack ergötzte sich mehr an dem Bildmäßigen der vor ihm ausgebreiteten Natur. Die Fläche der ansteigenden Flur ging unmerklich in den Hintergrund des Himmels über. Alle deutlicheren Farbenwerte waren aufgehoben; ein Meer von Grau, aus dem das Braun der Ackerkrumen, das Gelb der Stoppeln und der etwas nachdrücklichere Akzent der Garben sich nur heraushob, wie sanft gebrochene Akkorde aus dem Beben der Oktaven.

»Da bietet man jetzt alle finsteren Gewalten auf«, der Graf redete zu Plessow, Hartley war schon mit großen Schritten unterwegs, »um die Nationen voneinander loszureißen, und doch haben sie in ihrem Ursprünglichsten einen ewigen Zusammenhang. Drüben dieses Bild«, er wies zu der Ebene hinüber, »ist spezifisch deutsch. Deutscher Sang in deutscher Landschaft, deutsche Arbeit, deutscher Brauch. Und erinnert trotzdem an das berühmteste Gemälde Angelus des bretonischen Millet.«

»Wollen wir wirklich heute noch unsere Zeit damit vergeuden, uns über die Unterschiede und Abneigungen zwischen Rassen und Nationen zu unterhalten?«

Von Plessows Heftigkeit befremdet, versuchte Testi, den Meinungsaustausch ins Scherzhafte zu lenken. »Sie sind ja kaiserlicher als Ihr hoher Herr. Sie haben, wie es scheint, schon vor der Kriegserklärung, alle Beziehungen mit fremden Völkern abgebrochen?«

»Mit allen Feinden Deutschlands sicherlich«, brauste Plessow auf. Trotzig setzte er hinzu: »Ich danke Gott, daß es mir vergönnt ist, dieses wundervolle Opfer für mein Vaterland zu bringen. Übrigens werden Sie im Recht sein, wenn sie die Leute drüben mit einem Bild oder sonst was Künstlichem vergleichen. Mit Ausnahme der paar anständigen Bauern sind sie alle aufgestellte Puppen, Komödianten, die Landarbeiter spielen. Hergelaufene, Gesellen ohne Vaterland und ohne Glauben, und ihr Anführer ist ihrer wert.«

Eben war Hartley auf dem Acker angekommen; Plessow sah ihn Hubert beiseite ziehen und zu ihm sprechen. Vielleicht von Mary Penschuk eine Einladung bestellen, die einen Lückenbüßer brauchte, um den Verlust der bisherigen Verehrer zu ersetzen. Diese Vorstellung erhitzte die in Plessow aufgestaute Unlust zu kochend heißer Wut. Die Geringschätzung, die er als Offizier gegen jeden Nichtkämpfer empfand, des Feudalen Haß gegen die bürgerlichen Staatsauflöser wurde durch Eifersucht aufgepeitscht. Er hätte selbst nicht sagen können, was er plante, als er, zu Testis Überraschung, aus dem Wagen sprang und auf das Kornfeld eilte. Dort begegnete er zuerst der Familie Sodählen; er redete die Männer an: »Ostpreußen, der Sturm bricht los. Die Russen haben die Blockhäuser an ihrer Grenze angezündet. Ihr sollt mit von den Ersten sein, die es erfahren. Das wird gegen uns die Einleitung zum Krieg bedeuten. Jetzt geht’s aufs Ganze, jetzt werden wir die Hunde dreschen. Ich stoße heute noch zu meinem Regiment, an euch kann jeden Tag die Reihe kommen. Ich weiß, ihr werdet alle, wie ein Mann, zu eurem Kaiser stehen, sie sollen nur kommen, die Verräter. Ihr werdet keine Handbreit von eurem Heimatboden durch sie besudeln lassen, ihr werdet hinter ihnen her sein und sie mit Schießprügeln und Bajonetten aus dem Lande treiben.«

Tannengerade, das bartlose Gesicht verinnerlicht durch stahlharte Entschlossenheit, verwandelte der Offizier die Bauern zu dem, was zu sein er sich selbst mit Stolz beschränkte, zu Bestandteilen einer riesenhaften, mit unfehlbarer Genauigkeit arbeitenden Maschine. Als hefte er ihnen einen Orden an, ließ er sich von ihnen Auskunft über ihr Militärverhältnis geben. Karl Sodählen war bis zum Wachtmeister gestiegen, Hermann zum Gefreiten. Sohn und Vater hatten bei den Ortelsburger roten Dragonern gedient. Plessow kannte den Befehlshaber des Regiments; er rühmte seine Eigenschaften. Ein Mann, wie die große Zeit ihn brauchte. »Was liegt an mir, an euch, höher als unser bißchen Leben steht das Reich. Der einzelne mag untergehen, Deutschland muß bestehen und Sieger über alle Feinde bleiben.« Er hob den Arm, als schwenke er die Fahne, in sein jauchzendes »Hurra!« fielen sogar Fie und Miete ein. Die gotische Musik eines neuen Kanons, die sich ein paar hundert Schritte weiter um Urbschad und seine treuen Jünger baute, wurde von den Klängen des zur Kriegshymne erhobenen Liedes Deutschland, Deutschland über alles überschwemmt.

Mit einem Ruck riß Mathias Urbschad sich zusammen: »Ich weiß nicht, Herr von Plessow, ob Sie befugt waren, den Sturm vor seinem Ausbruch zu verkünden. Das haben Sie mit Ihrem eigenen Gewissen abzumachen. Aber ich kann Ihnen verbieten, die Stille, die unsere Sendung ist, länger vorzeitig zu stören. Noch stehen wir nicht unter militärischer Gewalt, noch haben wir als Bürger unsere Rechte. Sie befinden sich hier auf fremdem Eigentum, ich weise Sie hinaus.«

Die Revolution ist ein Mikrokosmos

in unglaublich kurzer Zeit, in großartiger Zusammendrängung, weil die Geister der Menschen komprimiert waren und aufspringen, wird die Welt des Möglichen wie ein Fanal, das über die Zeiten flammt, zur Erfüllung gebracht. In der Revolution geht alles unglaublich schnell, so wie im Traume der Schlafenden, die von irdischer Schwere befreit scheinen.

Wir sind in Atome zerfallen, und anstatt daß wir Güter für den Verbrauch herstellen, erzeugen wir Waren, beziehungslose Güter, für den Gelderwerb, und das Geld ist nicht bloßes Tauschmittel, um unsrer gemeinsamen Bequemlichkeit willen, sondern ein heckendes Monstrum; von den fiktiven Werten, mit denen sich die Besitzenden untereinander berauben, gar nicht zu reden. Heere von Besitzlosen müssen sich denen zur Verfügung stellen, die nicht den Reichtum des Volkes, sondern ihren privaten Reichtum schaffen wollen. Und andere Heere, meist aus den selben Besitzlosen zusammengestellt, müssen den Nationen die Absatzmärkte sichern oder vermehren und sich selber mit der Waffe in der Hand und gegen die eigene Brust den Frieden gebieten. Alle wirtschaftlich-technischen Fortschritte, gewaltiger Art wie sie sind, sind in ein System des sozialen Verfalls eingeordnet worden, das es mit sich bringt, daß jede Verbesserung der Arbeitsmittel und Erleichterung der Arbeit die Lage der Arbeitenden verschlechtert. Unser Weg geht dahin: daß solche Menschen, die zur Einsicht und zur innern Unmöglichkeit, so weiter zu leben, gekommen sind, sich in Bünden zusammenschließen und ihre Arbeit in den Dienst ihres Verbrauchs stellen. In Siedlungen, in Genossenschaften, unter Entbehrungen. Sie werden dann bald an die Schranken stoßen, die der Staat ihnen setzt: ihnen fehlt der Boden. Dies ist der Punkt, wo die Revolution, von der wir bisher gesprochen haben, weiter geht in die, von der sich nichts sagen läßt, weil sie noch weit entfernt ist.


Ein stilles Heimkommen

war es dann gewesen und ein beklommenes Zusammensein beim Abendessen; eine Stimmung, wie vor einem letzten Auseinandergehen. Urbschad hatte sich das Recht genommen, sich weitere Kriegsgespräche zu verbitten. »Laßt uns den Augenblick genießen«, hatte er gebeten, immer noch bemüht, seine Kaltblütigkeit festzuhalten. Es wurde Anstrengung gemacht, Alltägliches zu reden: über den Vollgehalt der Ähren, und der Roggen werde prächtig schütten. Als der Amtsvorsteher, Herr von Glaeser, in den Garten eingetreten war, um Urbschad zu einer Unterredung in das Haus zu bitten, hatte ein Aufatmen von Zwang und Unnatur die Alleinbleibenden befreit. Dann kehrte Urbschad zu den Harrenden zurück. Kurz und hart, ohne Eigenes hinzuzufügen, berichtete Mathias, was nach Herrn von Glaesers Meinung noch vertraulich bleiben sollte. Aber warum verheimlichen, was vielleicht in der nächsten Stunde zur öffentlichen Kenntnis kam? Die Mitteilungen Herrn von Plessows waren überholt, Rußland hatte die Mobilmachung beschlossen und Deutschland mit der Antwort nicht gezögert. Bei allen Amtsstellen des Landes waren Telegramme eingelaufen. Ihr Inhalt: Kriegsbereitschaft.

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