Kitabı oku: «Der stumme Raum», sayfa 2
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Eines Nachmittags, als Sol und Tora zum Milchholen unterwegs waren, tauchten hinter ein paar Steinen zwei Jungen aus dem Ort auf. Sie hatten sich an der einzigen Stelle versteckt, wo es weder Häuser noch Menschen gab. Da konnte kein Fenster geöffnet werden, und keine Mutter konnte den Kopf herausstrecken und sich einmischen. Keine Zeugen, alle Möglichkeiten. Ole und Roy. Ole hatte wohl noch nicht seine Niederlage in der Schule bei Gunn vergessen, auch wenn es schon lange her war. Sie standen breitbeinig und mit den Händen in den Taschen da. Grinsten forsch. Besonders Ole. Fühlte sich bereits als Sieger. Niemand war da, der petzen konnte.
»Ist das nicht das Goldkind von der Deutschenmutter, das hier rumspaziert und mit der Milchkanne schlenkert, he? Wie viel Brände haste denn heut schon gelegt?«
Ole trippelte wie eine Dame vor Tora her. Sie hatte diese alten Sticheleien schon lange nicht mehr gehört. Sie taten weh. Sie hatte das Gefühl, als ob jemand einen Stein geworfen hätte. An den Kopf. Ins Gesicht. In die Augen. Aber sie kniff den Mund zusammen. Schwieg mit jeder Faser ihres Wesens.
»Halt’s Maul, du Scheißfischer!«, schrie Sol und ging auf ihn los.
»Was sagt die da, kommt vom Tausendheim und spielt sich hier auf, wie? Du fette Sau. Wie steht’s denn mit deiner Mutter, ist die nach Hause gekommen und immer noch verrückt?«
Sol sah rot. Sie war ein erwachsenes, konfirmiertes Mädchen mit einem großen, heiligen Zorn. Sie ging mit erhobener Milchkanne auf den Bengel los. Ein Glück, dass die Kanne noch leer war. Sie schlug sie mit voller Wucht auf den Schädel von Ole, der einen halben Kopf kleiner war als sie. Tora machte große Augen. Sie hatte Sol noch nie handgreiflich werden sehen, wie schlimm es auch gewesen sein mochte. Im Gegenteil, Sol war es, die immer bei klarem Verstand blieb und zwischen die Streithähne ging, bevor die Nasen bluteten. Jetzt war sie wie ein wild gewordener Stier. Die kurzgeschnittenen Haare sträubten sich, ähnlich dem Bild von dem Igel, das im Schulflur hing. Sie hatte Schaumflöckchen in den Mundwinkeln.
Nachdem Ole sich von dem Erlebnis mit der Milchkanne so weit erholt hatte, dass er begriff, was hier vor sich ging, erfasste der Wahnsinn auch die Jungen.
Tora sah deutlich, das die Sache kein gutes Ende nehmen würde. Sie waren zu zweit gegen Sol. Starke Übermacht.
Tora rief, dass sie Schluss machen sollten, aber niemand hörte oder sah. Die Jungen hatten Sol jetzt auf dem Schotterweg unter sich liegen. Der eine hielt ihre Arme, der andere saß auf ihrem Bauch und boxte sie in die Brüste, so dass sie jammerte.
Nachdem Ole diesen Teil der Arbeit erledigt hatte, zog er den dünnen, kurzen Baumwollrock bis über Sols Schultern hinauf und zeigte seinem Kumpel die ganze Herrlichkeit.
Tora, die währenddessen am Wegrand gestanden hatte, ohne den Mut, irgendetwas zu unternehmen, sah plötzlich nur noch einen roten Nebel. Er hüllte sie vollständig ein. Schreiend hob sie ihre Kanne hoch und prügelte drauflos.
Die Kanne war noch eine von der altmodischen, soliden Sorte. Mit einer harten Kante unten.
Dumpfes Stöhnen und raue Schluchzer. Tora vertraute darauf, dass die Jungen zuoberst lagen. Ging von einer einfachen Logik aus: je mehr Schläge, desto mehr Schaden. Je schneller sie schlug, desto mehr Schläge.
Sie hatte nicht geahnt, dass es ein so gutes Gefühl sein könnte, einfach loszuschlagen.
Da legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Eine starke Faust übernahm das Kommando über die Kanne, und eine gebieterische Stimme sagte: »So, immer mit der Ruhe, immer mit der Ruhe. Und dann wollen wir mal sehen, ob noch jemand am Leben ist … Ist noch jemand am Leben, ja?« Frits’ Vater!
Aber er lächelte ein bisschen! Oder nicht? Er half den Jungen auf die Beine. Ole hatte eine üble Schnittwunde über dem einen Auge. Das andere war dick verklebt. Er weinte bitterlich und rau. Rotz und Tränen landeten in Monsens Taschentuch.
Roy war es ein wenig besser ergangen. Sol hatte eine hässliche Schramme auf dem einen Knie. Aber der Triumph leuchtete ihr aus den Augen. Sie konnte noch nicht aufhören. Stellte Roy ein Bein, und er schlug der Länge nach hin, während er sich schon gerettet und sicher gewähnt hatte. Er fiel auf die Nase. Die sah schlimm aus. Er wollte sich sofort rächen, aber Monsen nahm den Schlingel fest in den Griff, und Sol schrie in blinder Wut:
»Komm nur, du Dreckskerl, komm nur, du Scheißfischer! Ich werd’s dir geben, dass du nicht mehr im Zweifel bist, wer hier im Dorf wirklich verrückt ist!! Komm nur, komm nur …« Sie schluchzte verbissen.
Die Jungen schlichen hinauf zu der Häusergruppe oben am Hang. Gingen wie geprügelte Hunde, langsam und beschämt. Der Kampf war beendet. Monsen nahm die Mädchen mit nach Hause, alle Treppen hinauf und hinein in die Wohnung. Er verband ihre Wunden und rief mehrmals »Pfui«, als ihm die Geschichte erzählt wurde. Aber als Randi fragte, welche Schimpfwörter die Jungen gebraucht hätten, wurde es still. Trotzdem ergriff Monsen Partei für die Mädchen und sagte, dass den »Teufelsbraten« nur recht geschehen sei.
Tora hatte vergessen, dass sie hier bei Frits war. Bis er plötzlich in der Türöffnung stand. Er war in seine Taubstummenschule gefahren. Das wusste sie ja. Und doch stand er da und starrte sie an.
Und da begriff sie, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Dass sie ihn verletzt hatte. Dass der stumme Junge in vieler Hinsicht einsamer war als sie selbst. Sie begriff, dass sie ihn gar nicht als richtigen Menschen angesehen hatte, weil er nicht sprechen konnte.
Sie wollte ihn nie mehr verleugnen, die Gefahr sollte ihn nie mehr verjagen! Niemals! Frits war Frits. Und für sie war er viel mehr als nur Frits.
Sie sah es klar und deutlich. Weil er nicht da war. Weil eine große, schmerzliche Leere im Raum war.
Und der Nachmittag stieg über die Fensterbank, das Fenster stand offen gegen den kühlen, nachdenklichen Herbst. Randi buk gelbe, duftende Pfannekuchen, auf die sie eine Menge Zucker streute. Frits’ Vater bekam für Tora und Sol einen Namen. Er hieß Gunnar und spielte Ziehharmonika, dass die undichte und nicht gestrichene Holzdecke abzuheben schien! Und der blutige Verband an Sols Knie, der so schlecht zu einem großen Mädchen passte, das konfirmiert war (und vorhatte, am nächsten Samstag tanzen zu gehen, ob Elisif nun weinte oder nicht), dieser blutige Verband war Anlass genug, um die Geschichte von der Prügelei immer wieder zu erzählen. Randi schlug die Hände zusammen und war ganz entsetzt, lachte und versetzte ihnen Rippenstöße.
Tora machte es nichts aus, dass Sol dabei war. Sie kroch nach alter Gewohnheit auf Frits’ Bett. Zog die Strickdecke über die Beine, obwohl es im Raum wirklich warm war.
Sie nahm Frits mit nach Berlin. Die Großmutter stand mit offenen Armen vor ihnen beiden. Der Farn war saftig grün, und das Tor stand offen. Und die Rosen …
»Frag einen Menschen, was die Liebe ist, und sie ist nichts anderes als ein Wind, der durch die Rosen säuselt …« Sie hatte das irgendwo gelesen. Es war zu schön, um wirklich zu sein.
Sie dachte daran, wie sie sich früher mittwochs gefühlt hatte. Da war sie kleiner – ganz klein gewesen, aber konnte schon lesen. Es musste vor der Gefahr gewesen sein. (Dass sie so denken konnte! Genauso wie die Leute, wenn sie sagten: Vor dem Krieg …) Also vor der Gefahr: Die Mutter kam jeden Mittwoch mit einer Illustrierten nach Hause. Darin gab es eine Bilderserie von einem kleinen Burschen, der Pünktchen hieß. Er war so klein, dass er Platz in einer Streichholzschachtel hatte. Und Tora mochte diesen Jungen schrecklich gern. Denn es gab nur diesen einen auf der ganzen Welt, der so klein war … Sie wollte ihn immer bei sich haben. Immer. Er war ein Teil der schönen Spannung, die man sich leisten konnte, wenn es Mittwoch war. Und sie fragte die Mutter einmal, als die unten in der Waschküche mit den Armen tief im Seifenschaum stand – ob sie das Pünktchen nicht haben könne. Ob die Mutter nicht an die Illustrierte schreiben und ihn für Tora erbitten könne. Sie bettelte und flehte – obwohl sie wusste, dass sie sich genauso gut den Mond hätte wünschen können. Sie fühlte bereits den leichten Druck in ihrer Hand. Sie fühlte ein Kitzeln auf der Haut, vor lauter Zuneigung und Freude. Das musste die Liebe sein. Wie ein warmer Wind? Oder Blumen? Berühren …
Sie hob die Hand und strich Frits ganz schnell über die Wange. Ganz schnell. Und er begriff und verzieh ihr und trug ihr nichts nach. Er fragte nicht nach dem Grund. Dann glitt er fort.
Und Randi unterhielt sich mit Sol, die mit dem Rücken zu Tora saß, und Gunnar spielte Ziehharmonika. Es brauste zum Himmel hoch. Das ganze Haus schien abzuheben.
Tora war erfüllt von Musik und Liebe zur ganzen Welt. Sie hielt dieses Gefühl mit beiden Händen fest. Als ob sie im tiefsten Herzen wusste, dass es nicht von Dauer war.
Sol und Tora kamen diesmal mit ihren Kannen sehr spät zum Milchverkauf. Es gab nur noch Magermilch. Aber sie kicherten trotzdem, als sie die Deckel auf die Kannen drückten.
5
Der Morgenkaffee roch bitter und angebrannt. Tora hatte ihn überkochen lassen und wagte kaum, mit der Mutter zu reden. Deren Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, seit sie die Postanweisung ausgefüllt hatte. Tora wartete darauf, dass es vorüberging. Sie hatte sich der Mutter gegenüber eine besonders große Geduld angewöhnt. Solange sie ihr nicht im Wege war oder versuchte, die Mutter zum Reden zu zwingen, ging es meist gut.
Sie hatten sich gerade hingesetzt, um die elende Kaffeeplörre zu trinken, als plötzlich wie ein kleines Meeresunwetter Rakel in der Tür stand. Sie war knallrot im Gesicht und hielt die Postanweisung in der rechten Hand. Als eine böse Drohung.
Ingrid sprang vom Stuhl auf und stand mit geschlossenem Mund und mit geschlossenen Augen da. Unmerklich ballte sie die Fäuste.
Rakel machte zwei Schritte in den Raum hinein, nachdem sie die Tür fest hinter sich geschlossen hatte.
Sie sah nur Ingrid an. Tora schien gar nicht dabei zu sein. Sie war unsichtbar und verschmolz mit der Wachstuchdecke auf dem Tisch. Es war eine Abrechnung zwischen den beiden Frauen. Toras Rücken überzog sich mit Gänsehaut. Sehr bald war sie triefnass unter den Armen. Tora hatte »herein« gesagt, als es geklopft hatte. Nun standen die zwei Frauen da wie angewachsen. Keine sagte guten Morgen, keine machte eine Bemerkung über das Wetter. Es regnete draußen in Strömen. Keine bot Rakel einen Stuhl an. Keine sagte etwas über den durchnässten Wollmantel und das Kopftuch, das wie ein nasser Putzlappen um Rakels Kopf lag. Die Wörter waren auf eine schlimme Weise von der Erde fortgeflogen. Es war, wie wenn Frits nicht sagen konnte, was er meinte, und die anderen seine Zeichen nicht verstanden. Nein, das hier war doch ganz anders. Es vergiftete die Luft. Tropfte rhythmisch von Rakels Mantelsaum. Beschrieb einen unregelmäßigen Kreis um sie. Sie war in dem Kreis. Sie war nicht außerhalb … Alle drei waren in sich selbst eingeschlossen. Der Käse auf dem Tisch war schief abgehobelt, an dem einen Ende hatte er eine Erhöhung, das war wohl sie, Tora, gewesen, die … Komisch, dass die Mutter nichts gesagt hatte. Rakel stand noch immer da.
Elisifs Kinder polterten die Treppe herunter, sie waren auf dem Weg zur Schule. Mit den Schuhen war es jetzt besser bestellt, seitdem Sol arbeitete. So polterten sie jeden Morgen alle zusammen herunter. Das Krepppapier um die Blumenbüchsen auf dem Fensterbrett war verblasst und hatte Ränder. Das Wasser war aus der Untertasse in das Papier gezogen. Es sah armselig aus. Das tat auch die emaillierte Schüssel, die im Ausguss lag. An drei Stellen war die Emaille abgeschlagen. Der Rand war schmutzig und verrostet.
Bei Tante Rakel hatten sie ein Steingutbecken in einem eigenen Raum neben der Küche, wo man sich richtig waschen konnte.
Tora ergriff Partei, ohne es zu wissen, für die Mutter. Sie machte sich stark. Es war richtig, was Ingrid getan hatte. Dass sie das Geld geschickt hatte. Sonst könnte sie das Kleid ja nicht anziehen. Jetzt nicht mehr. Und es war das einzige gute Kleid, das sie besaß. Es war richtig! Warum kam Tante Rakel also her und machte so ein böses Gesicht? Sie waren arm, die Mutter und sie. Aber nicht so arm. Sie bezahlten ihre Schulden.
»Was soll das bedeuten – das hier?« Rakels Stimme war ein heiseres Flüstern. In jedem Mundwinkel saß eine kleine Falte, die ihr Gesicht fremd und unfreundlich machte. Aber widerwillig musste Tora zugeben, dass es so aussah, als ob Rakel weinte. Deshalb stand sie so da. War so.
Die Mutter stand nur da. Sie hatte die Augen geöffnet. Aber sie schaute nach unten. Schaute auf die Tischdecke. Auf die gelben und orangefarbenen Blumenmotive. Die Stiele gingen in Kreisen ineinander über. Hielten sich aneinander fest …
»Wozu soll das gut sein, Ingrid?« Rakels Stimme krächzte noch einmal durch den Raum. Ebenso heiser und weit entfernt. Wie wenn man das Radio anmacht und den Sender nicht sauber einstellt.
Ingrid schien jetzt den Absprung zu wagen: »Das schulde ich dir für den Stoff, den du … in Breiland gekauft hast.«
Es war nur geflüstert, trotzdem warf es in den Ecken ein Echo.
»Den Stoff hab ich dir geschenkt, Ingrid. Du hast mir so oft mit so vielen Dingen geholfen … Ich hab dir den geschenkt! Hör zu, was ich sage!! Und du schickst mir Geld … mit der Post! Ich glaub, du bist verrückt geworden. Wohnste in Amerika? Oder wohnste hier? Biste meine Schwester? Oder biste nicht meine Schwester? Hörst du?!«
Ingrid stand noch immer am Tisch. Sie hatte die Fäuste geballt und verbarg sie hinter der Tischplatte. Endlich blickte sie auf. Die Tränen liefen Rakel die Wangen hinunter. Sie war feuerrot, und Schweiß und Regen perlten auf ihrer Unterlippe. Perlen.
»Simon hat die Postanweisung vor mir versteckt. Er, als Mann, hat verstanden … Aber du kapierst überhaupt nichts … ich habe sie trotzdem gefunden – heute Morgen – an meinem fünfunddreißigsten Geburtstag! Du, die du in all den Jahren meine große Schwester gewesen bist. Die mir immer geholfen hat, als wir klein waren. Du lässt den ganzen Dreck zwischen uns kommen. Du bist bereit, alles kaputt zu machen. Und was haben wir dann, Ingrid? Kannste mir erzählen, was wir dann haben? Wohin sollen wir uns retten, wenn du es zulässt, dass die Männer, wenn sie ihre Rechnung untereinander begleichen, das sichere Wissen zerstören: dass wir Schwestern sind?« Es klang wie ein Schluchzen. Sie stand unverändert da, weder in ihrem Gesicht noch in ihrem Körper war eine Bewegung zu sehen. Die Tante weint, dachte Tora verwundert.
Es war wie damals bei dem Unwetter, auf der Ladeluke, da hatte sie die Mutter für sehr stark gehalten, weil Tante Rakel seekrank gewesen war, und es hatte die Mutter in ihren Augen noch viel größer gemacht, dass sie nicht seekrank gewesen war. Nur ruhig und stark. Aber diesmal wurde die Mutter nicht stark, weil die Tante schwach war. War es unbedingt notwendig, stark zu sein? Wer war jetzt stark? War es die Mutter, die mit geballten Fäusten dastand und den Kleiderstoff bezahlt hatte, oder war es Tante Rakel, die mit rotem Gesicht und durchnässtem Mantel dastand und weinte, so dass die anderen es sahen? Lag mehr Stärke darin, sich abseits zu halten und alles allein zu schaffen, oder lag mehr Stärke darin, herzukommen und daran zu erinnern, dass sie eigentlich Schwestern waren?
»Tora, du musst in die Schule – sonst kommste zu spät …« Die Stimme der Mutter klang hohl und kraftlos. Heute war keine stark …
Tora holte ihren Ranzen aus der Kammer. Sie musste an Rakel vorbeigehen, um nach draußen zu kommen.
Ihr fiel ein, dass sie die Frühstücksbüchse auf dem Tisch vergessen hatte. Die hatte ein ziemlich abgewetztes Bild von Schneewittchen und den sieben Zwergen. Der kleinste Zwerg stand ganz hinten – nahe an der Kante –, von ihm war fast nichts mehr übrig. Ein Meer musste Tora jetzt wieder überqueren. Als sie zum zweiten Mal an Rakel vorbeiging, streckte die einen Arm aus und hielt Tora an. Sie weinte noch immer. Zögernd streifte sie Toras Haar und Gesicht. Sie schien Tora jetzt erst zu sehen. Und zu glauben, dass sie etwas Verbotenes tat, wenn sie Tora anfasste. Tora schaute schnell zur Mutter hin. Drehte den Kopf zum Tisch. Blitzschnell. Dann berührte sie Rakels Hand mit ihrer. Nur mit den Fingerspitzen. Nur für eine Sekunde. Trotzdem hatten sie dieses gemeinsam, die Tante und Tora, dass sie etwas Unerlaubtes getan hatten. Sie hatten eine andere verraten. Einer anderen etwas weggenommen. Es tat weh, aber zugleich tat es auch gut, weil Tora mit ganzem Herzen fühlte, dass endlich eine war, die Verständnis hatte, die Brücken bauen wollte. Ohne sich darum zu kümmern, was die Leute taten oder sagten oder entschieden. Ohne darauf zu achten, was geschah. Brücken zwischen ihnen, die am Ende ja aus eigener Kraft stark sein mussten. Stark genug! Rakel wollte nicht allein dastehen und stark sein, wie die Mutter es wollte. Rakel wollte Menschen um sich haben, die sie gern hatte. Gegen all das Schlechte. Auch wenn es schwierig werden könnte, so dass sie das eine Mal stark sein und ein anderes Mal weinen musste. Menschen, die sie gern hatte? Ja. Aber wollte das die Mutter nicht auch? Hatte sie ihn … nicht gern? War das der Grund? War das der Grund für alles? Liebte die Mutter ihn mehr, als sie Rakel und Tora liebte? Ja!
So musste es sein.
Tora schlich hinaus und nahm den schwarzen Regenmantel, bei dem das unterste Knopfloch ausgerissen war. Sie hatte den Riss mit einem Pflaster zugeklebt. Aber das Pflaster fiel jedes Mal ab, wenn es nass wurde. Und nass wurde es ja immer wieder.
Tora lieferte dem »Konfirmanden« ihr Aufsatzheft ab. Den Spitznamen hatte der junge neue Lehrer von Almar bekommen. Er teilte seine Erziehertätigkeit und die Kinder mit Gunn. Almar fand es gar nicht gut, dass er gekommen war und aus Oslo stammte und so eigenmächtig handelte. Almar hatte den Eindruck, dass er sich der verehrten Lehrerin Gunn geradezu aufdrängte. Außerdem war er kein richtiger Mann. Farblos – und schmächtig, wie ein Konfirmand. Piepsstimme, bartlos.
Tora hatte einen Aufsatz über die Frage geschrieben, was sie später werden wollte. Vierundzwanzig Zeilen hatte sie in einer ganzen Stunde zuwege gebracht. Dieser Tag war nicht irgendein Tag. Er hatte nichts, woran sie sich festhalten könnte.
Tora ging erst spät am Nachmittag nach Hause, sie trödelte im Dorf herum, bis sie sicher sein konnte, dass die Mutter in die Frosterei gegangen war.
Sie bummelte noch am Strand entlang und war schließlich ganz durchnässt. Als sie durch die zwei Eingangspfosten kam, die weder einen Zaun noch ein Tor hatten, sah sie, dass die Lampen im Tausendheim bereits brannten.
In allen Treppenaufgängen roch es nach gebratenem Hering. Die Haustüren standen offen. Drei schlagende Türen im Regen. Geruch nach Hering und Kartoffeln. Also waren die Männer zu Hause. Der Hof war leer. Tora konnte sie alle drinnen im Haus sehen. Ihre Schatten. Vater und Mutter und Kinder. Oder einsame Gebeugte … In Toras Fenster war es dunkel.
Kein Heringsgeruch in der Küche. Aber noch Glut im Ofen und die Wände wohlig warm.
Vom Morgen keinerlei Spur mehr zu sehen.
Sie streifte ihre Kleider ab und zwang sich zu dem Gedanken, dass sie der glücklichste Mensch von der Welt sei, der sich Wasser heiß machen und sich in der Küche vor dem Ofen waschen konnte. Den Nelkengeruch und alles, was schlimm war, entfernen. Es kam niemand. Die Gefahr war nicht da. Da würde sie auch alles andere schaffen. Denn sie war Tora – allein mit sich.
Manche vergaßen, die Plane über ihre alten, halbmorschen Boote zu ziehen, andere vergaßen, mit dem Handrücken über den Mund zu fahren, wenn sie gegessen hatten, einige brachten es nicht fertig, ihr wahres Ich hinter ihrem Gesicht zu verbergen.
Tora war glücklich. Niemand sah sie. Sie saß über ihren Schulbüchern. In braunen Schutzumschlägen aus dem Einwickelpapier von Ottars Laden. Sie hatte das Papier mit Zeichnungen verschönert. Aber das Papier hatte Rillen, die nicht zu verdecken waren. Sie verliefen quer durch die Zeichnungen. Es sah aus, als ob man mit den Nägeln darübergekratzt hätte.
Sie hatte das Aufsatzheft vom »Konfirmanden« sofort zurückbekommen. Er hatte gesagt, dass er enttäuscht von ihr sei. Ja, sicher. Sie war auch enttäuscht.
Was wollte sie werden, wenn sie erwachsen war? Sie würde wohl Treppen putzen, in die Frosterei gehen, Kinder hüten und Milch holen.
Nein! Sie würde Decken sticken, in einem Büro sitzen und einen Mann anlächeln, wenn sie die von der Haushaltshilfe gekochte Mahlzeit verzehrten. Dann würden sie sich mit einer Serviette den Mund abwischen und die ganze Zeit lächeln. Nein! Sie wollte reich sein! Sie wollte hinaus in die Welt ziehen und eine berühmte Schauspielerin oder Schriftstellerin werden. Königen und Königinnen begegnen und in einem großen Schloss wohnen oder in schönen Hotels, wo es Kronleuchter gab, die von Millionen von Kristallen funkelten. Sie wollte Flöte spielen, vor vollen Sälen mit gepolsterten Wänden und einem roten Licht über der Tür, wie sie es einmal im Kino gesehen hatte. Sie wollte das Klatschen hören, wenn die letzten Töne noch wie eine dünne Haut über den Menschen unten in der Dunkelheit lagen. Dann wollte sie lange Briefe und glitzernde Postkarten nach Hause schicken, an Mutter, Onkel und Tante, an Gunn und Frits und Sol – und von allem erzählen. Und sie würde ihnen Schallplatten schicken, die sie eingespielt hatte. Manchmal, wenn der Mond schien, würde sie alle Einladungen ablehnen und allein bleiben. Dann würde sie nur für sich selbst spielen. Oder ganz still dasitzen und Heimweh haben. Sie wollte hohe Kerzen in goldenen Leuchtern haben, wie in der Kirche, und Sol würde ihr leidtun, weil sie es nie so gut haben würde wie – Tora, obwohl Sol es verdient hätte, sie, die so lieb war. Nur selten würde Tora nach Hause fahren. Die Leute sollten bei Ottar im Laden stehen und für Weihnachten einkaufen und sich fragen, ob Ingrids Tochter zu den Feiertagen wohl nach Hause kommen werde. Und sie sollten darüber reden, wie glücklich Ingrid sei, dass ihre Tochter es so weit in der Welt gebracht hatte. Und sie sollten darüber reden, dass es wohl das Beste gewesen sei, dass er im Gefängnis gestorben war. Aber das alles konnte sie dem »Konfirmanden« nicht im Aufsatz schreiben.
Es zischte in dem Wasserkessel, den Tora warm hielt, bis die Mutter aus der Frosterei kam. Die Frikadellen vom Vortag lagen bereit. Die vier übrig gebliebenen kalten Kartoffeln hatte sie in Würfel geschnitten. Die Pfanne stand mit einem Klecks Butter auf dem Küchenschrank und brauchte nur auf das mittlere Herdloch gestellt zu werden.
Sie hatte den Geruch schon in der Nase. Er war weder schlecht noch gut. Aber sie wollte der Mutter sagen, dass sie bereits gegessen habe. Sie wollte in ihrer Kammer bleiben und die Mutter allein lassen, wenn sie sich wusch und aß. Wollte sich abseits halten – damit die Mutter mit ihren Gedanken zur Ruhe kam. Nachher konnte sie den Tisch abräumen, wenn die Mutter sich auf der Couch ausruhte. Heute wollte sie besonders nett sein, denn sie wusste nicht, was die Mutter für ein Gesicht machen würde, wenn sie heimkam. Das wusste sie sonst immer. Die Mutter war immer gleich. Besonders jetzt, wo er fort war. Seit vielen Wochen war es nur das eine Gesicht gewesen. Grau, aber wunderbar ruhig. Kein hartes Wort, kein Schatten, kein ängstliches Lauschen auf seine Schritte auf der Treppe. Aber an diesem Morgen hatte Rakel in der Küche gestanden und geweint. Und es war nicht sicher, dass die Mutter heute die Gleiche war. Vielleicht hatte sie ein ganz anderes Gesicht, als Tora sich das vorstellen konnte. Vielleicht würde alles noch viel schlimmer … Oder besser! Sie stellte sich vor, wie Tante Rakel die Mutter dazu gebracht hatte, sich wieder zu vertragen. Wie Tora und die Mutter wieder wie früher nach Bekkejordet gingen. Dass sie den Küchenläufer mitnehmen könnte … Sie hatte ihn gewaschen und gebügelt und ihn um die Illustrierte gerollt. Damit er schön glatt blieb. Aber der Mutter hatte sie ihn nicht gezeigt. Sie hatte ihn nur gewaschen und gebügelt, so vorsichtig wie möglich, weil sie Angst hatte, dass die Ränder zu sehr ausfransten. Die Tante würde wohl die schone goldene Borte daran nähen. Sie hatte sie ihr gezeigt und gefragt, ob sie nicht gut passte, und Tora hatte Ja gesagt. Das hätte noch gefehlt, dass sie den Läufer verdorben hätte – wo er so schön war. »Was ich werden will, wenn ich erwachsen bin …« Tora sollte jetzt einen neuen, besseren Aufsatz schreiben. Sie sah auf die Uhr. Fünf Minuten nach sechs. Dann schrieb sie zwei Seiten, dass sie gerne in einem Büro arbeiten würde. Sie schrieb, dass sie sich ein Haus und ein Fahrrad kaufen würde. Erwähnte nichts von Flötespielen oder Kronleuchtern, von Bühne oder Glanz. Das wäre zu dumm. Der »Konfirmand« würde es nicht verstehen. Er würde nur wieder enttäuscht sein.
Sie schrieb den Aufsatz mit ihrer schönsten Schrift ins Reine. Schrieb nicht schnell, damit sie genügend Zeit hätte, gründlich nachzudenken und jedes Wort richtig zu schreiben. Dann brauchte sie nichts zu verbessern.
Als sie fertig war, zeichnete sie eine schöne Dame auf die halbe Seite, die noch frei war, weil sie die Überschrift mit so großen Buchstaben geschrieben hatte, dass der Aufsatz mitten auf der Seite endete. Die Dame hatte eine schmale Taille und gelockte Haare. Der Rock war genau wie der in Ottars Fenster blau, mit einer glatten Passe und mehreren tiefen Falten. Die Schuhe hatten hohe Absätze und sahen verkehrt und blöd aus. Tora konnte keine Füße und keine Schuhe zeichnen. Es war schwierig. Am besten ging es mit den Gesichtern. Sie zeichnete die Nasen und Stirnen und Münder von der Seite. Sie hatte die Bilder in den Zeitschriften studiert und herausgefunden, wie man es machen musste.
Alle Damen, die sie zeichnete, waren schön. Sie wusste nicht, warum. Denn sie sah fast nie eine schöne Dame. Jedenfalls nicht hier im Dorf. Sie neigte den Kopf zur Seite und stattete die Dame noch mit einer Handtasche aus. Speziell für den »Konfirmanden«! Sie würde die Zeichnung Sol zeigen. Da hätten sie was zu lachen.
Aber Sol war nicht da, als sie nach oben ging. War zusammen mit einem Mädchen aus dem Ort fortgegangen. Mit einer, die viel älter war als Tora.
Elisif sagte, dass es keine göttliche Fügung sei, dass sie sich draußen in der Dunkelheit herumtrieben, wo die Versuchungen überall lauerten – und sie ermahnte Tora zu einem sauberen Leben und dass sie ihrer Mutter keine Sorgen und schlaflosen Nächte bereiten solle wie Sol. Tora lief mit ihrem Aufsatzheft unter dem Arm schnell wieder nach unten. Sie spürte den Durchzug von der offenen Haustür her und hörte die Mutter die Treppe heraufkommen. Mit leichten, langsamen Schritten. Es waren Mutters Schritte. Tora sah es sofort, als sie die Küche betrat: Das Gesicht war wie immer.
Die Mutter fragte, ob sie mit den Aufgaben fertig sei. Zerstreut. Wie gewöhnlich.
Tora sagte: »Ja.« Wagte nicht, ihre Freude in dieses kleine Wort zu legen. Noch konnte alles Mögliche passieren.
Dann wärmte sie das Essen auf und die Mutter zog sich aus und hängte die Kleider auf.
Sie wusch sich drinnen in der Stube mit warmem Wasser. Mit warmem Wasser! Sie blieb ganz lange da drinnen. Als sie herauskam, hatte sie glatte Wangen, und die Augenbrauen und Wimpern waren noch ganz feucht. Auch die Haare um das Gesicht. Sie hatte sich fein gemacht und einen sauberen Pullover angezogen und den alten guten Rock. Den sie als guten getragen hatte, bevor sie sich das Kleid genäht hatte … Tora hielt die Luft an.
»Ich hab gedacht …« Ingrid schnitt sich vorsichtig ein Stück von der Fischfrikadelle ab. »Ich hab gedacht, wir könnten heut Abend einen Spaziergang nach Bekkejordet machen … Es ist der 27., weißt du … Die Tante hat Geburtstag …«
Die Stimme kam von einem verletzten, aber geborgenen Seevogel. Tora flog. Merkte kaum, was sie tat. Sie flog zum Tisch hin und warf sich in Ingrids Schoß, Arme und Beine weit von sich gestreckt.
Der Teller mit den Frikadellen und den Bratkartoffeln rutschte über die Wachstuchdecke. Das Wasserglas fiel um. Tora merkte, wie sie zwischen Pullover und Hosenbund nass wurde. Aber gleichzeitig merkte sie es auch nicht.
Ingrid stellte mit der einen Hand das Glas hin und strich mit der anderen Tora über den Rücken. Das Mädchen hatte einen ganz nassen Rücken. Es rieselte und tröpfelte auch in Ingrids Schoß. Aber sie blieb sitzen. Hatte etwas in ihrem Gesicht … etwas Nacktes, Hilfloses. Niemand sah es.
Tora hatte den Kopf an Mutters Brust vergraben. Sie nahm die seltsame Mischung von Fischgeruch und Seife wahr. Diesen Geruch kannte sie von klein auf. Konnte sich auf einmal erinnern, dass sie früher auch schon so gesessen hatte. So gesessen, wenn die Mutter ihre Schürfwunden auswusch. Und das Weinen war leiser geworden. Oder wenn sie kein Geld hatten, um etwas Neues für Weihnachten zu kaufen. Das letzte Mal hatte sie so gesessen, als sie Masern und Fieber gehabt hatte. Das war wirklich lange her.