Kitabı oku: «Der stumme Raum», sayfa 5
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Tora bekam nicht viele Briefe.
Insgesamt waren es überhaupt nicht viele Briefe, die ins Tausendheim gebracht wurden. Es gab dort auch nicht viele Menschen, die sich die Mühe machten, Briefe zur Post zu tragen. Die Wörter waren einfach, und man sprach miteinander – oder man schwieg, und das sagte genug.
Wenn die Leute ruhig und nicht erregt waren, sagten sie gerade so viel, wie sie verantworten konnten – nicht mehr und nicht weniger. Der Rest wurde verschwiegen, bis die Gedanken ihn verdrängt hatten – oder der Mensch sich durch die Worte hindurchgekämpft hatte – schweigend. Und immer allein.
Eines Tages fand Tora einen weißen Briefumschlag auf dem Küchenschrank.
Die Mutter war zur Nachmittagsschicht gegangen. Das Haus lag träge in der Mittagsruhe, weil Tora auf dem Schulweg getrödelt hatte. War bei Jenny im Kiosk gewesen und hatte die neuen Illustrierten durchgeblättert. Jenny schimpfte nie mit Tora, weil sie die Zeitschriften nicht kaufte, die sie angesehen hatte. Alle anderen aber warf sie raus. Tora hatte lange gebraucht, bis sie sich Einlass in dem kleinen Kiosk an der Wegkreuzung verschafft hatte. Sie holte für Jenny Waren vom Hafen ab. Zog sowohl die Packen mit den Illustrierten als auch Jennys Kind im Handwagen die Hügel hinauf. Eigentlich konnte Tora den kleinen Rotzbengel nicht leiden. Aber sie ließ es sich nicht anmerken. Sie behandelte das Kind mit der gleichen freundlichen Vorsicht wie die Illustriertenbündel. Tora wusste nicht, ob sie vor dem Umschlag Angst haben sollte. Sie hatte das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Name und Adresse standen feierlich auf dem weißen Papier. Einmal hatte sie einen Brieffreund gehabt. Einen, den Randi von ihrem Heimatort her kannte. Aber Ingrid hatte das viele Porto für eine unnötige Ausgabe gehalten. Sie wurde so trübsinnig – selbst wegen der kleinsten Ausgabe. Tora hatte immer seltener geschrieben. Dies hier war eine fremde Schrift. Aber doch bekannt. Der Stempel war unleserlich. Der Brief hatte eine norwegische Briefmarke. Das war das Erste gewesen, was sie festgestellt hatte. Manchmal war sie ganz sicher, dass ihr die Großmutter eines schönen Tages schreiben würde.
Sie sah sie vor sich, mit dem geraden Rücken und dem großen, grauen Knoten im Nacken. Knöpfschuhe. Wie die feinen Damen sie in den Märchen oder auf den Bildern in den Illustrierten trugen. Die Haut an den Wangen war ganz glatt. Aber dieser Brief kam nicht aus Berlin.
Er verursachte trotzdem ein wohliges Kribbeln unter der Haut. Es fing irgendwo am Hals an. Zog sich über den ganzen Körper, so dass sie lächeln musste, obwohl sie mutterseelenallein war. Stand auf einem Fuß und rieb den anderen an der Ofenkante, weil sie ein Loch in dem einen Stiefel hatte und der Fuß nass geworden war. Aber sie empfand es als nichts Besonderes. Sie rieb einfach, weil sie es immer tat, wenn sie nasse oder kalte Füße hatte.
Der Brief war von Frits!
Sie ging damit zum Fenster.
Frits erzählte von der Schule und den Lehrern. Dass er an den ersten Abenden dort geweint hatte.
Tora hörte beim Lesen Randis Stimme.
Und Frits wuchs aus dem Brief heraus. Vor ihren Augen. Sie dichtete ihn um zu einem unglücklichen Helden, sie bildete sich ein, dass sie alles verstand, was er ihr zu übermitteln versuchte, mit seiner eckigen Schreibschrift und den knappen, nüchternen Sätzen. Sie ahnte vage, was ein solcher Brief einen Jungen wie Frits kostete.
Unten in der Ecke war ein großer Tintenklecks, und Tora konnte sehen, dass er dort ein Herz zu zeichnen versucht hatte. Gott segne ihn …
Sie nahm den großen roten Buntstift, den sie benutzte, wenn sie für den »Konfirmanden« Karten zeichnen musste, und zog das Herz nach. Der Tintenfleck floss in seiner getrockneten Unförmigkeit darüber, das war allerdings schon passiert, lange bevor sie etwas geahnt hatte. Aber nun war da eine kräftige rote Linie, die durch den blauen Tintenfleck hindurch ganz deutlich anzeigte, wie das Herz hätte sein sollen. Tora war so froh. Ganz ausgelassen. Es war ein unbekanntes Gefühl, das sie nicht zügeln konnte. Alles – die ganze Welt bekam eine schöne Farbe. Sie lag grauschimmernd und närrisch dort draußen. Das Meer und der Mond strahlten, und Været lachte über das ganze Elend. Warm und vage und weich. Große Wolkenballen wälzten sich heran. Der Nachmittag begann seine Geräusche herauszuschleudern. Die Rufe vom Hof und später von dem Gelände rund um das Haus. Aber sie setzten sich nicht in ihr fest, zogen sie nicht hinaus auf die Straße wie sonst.
Tora war in Gedanken versunken. Die anderen, die so einfältig und klein waren, taten ihr direkt ein bisschen leid. Mit einem Mal war alles dort draußen ein überwundenes Stadium – über das sie sich hoch erhaben fühlte. Nein, sie hatte wichtigere Dinge zu tun. Einen Brief zu schreiben.
Nas-Eldar fuhr die letzten Kohlen für den Winterbrand ringsum in die weißen und blauen und roten Häuser. Es gab viele Bestellungen und viel Arbeit. Und es gab nur einen Lastwagen, den ausgenommen, den Dahl für seine Fischfabrik und die Frosterei besaß. Eldar hatte keinen Konkurrenten und nahm sich Zeit.
Die Leute fluchten nicht wenig, wenn er nicht einmal seinen Priem von der einen Seite auf die andere schob, um Bescheid zu sagen, dass er keine Zeit habe, sondern nur die rechte Autotür wieder zuknallte und hinüberrutschte auf den linken Sitz, weil man die Tür zum Fahrersitz von außen nicht öffnen konnte. »Das ist die Gicht«, grinste er mit seinem Gesicht voll bläulicher, einen Tag alter Bartstoppeln. »Im Herbst und in der Winterkälte ist er immer so!«
Er – war der Lastwagen, der nach der Meinung des Alten die feinsten Empfindungen auf der ganzen Insel hatte.
Nas-Eldar kam, wenn er kam – darauf konnte man sich verlassen. Eldars Auto fuhr Leichen und Brautleute. Er schmückte die Seitenteile mit Kreppstreifen und norwegischen Fähnchen und Laub, falls er Zeit dafür fand. Wenn er schlechte Laune hatte, dann stieß er zwischen den Zähnen hervor: »Könnt selber schmücken!« Er fuhr geschlachtete Schafe, Kohlen, Trockenfisch und Dung – ohne Schmuck. Er fuhr arme Leute – und feine Leute im Mantel. Eldars Auto war überall und nirgends aufzutreiben. Da half kein Betteln oder Drohen.
Aber Tora hatte keinen Bedarf an Lastwagen. Merkte nicht, dass die Kohle im Ofen ausbrannte. Trotzdem hörte sie den Krach da draußen und verstand mit einem kleinen, unwesentlichen und irdischen Teil ihrer selbst, was da los war.
Lange schaute sie angestrengt auf ihre eigenen Buchstaben. Dann entdeckte sie die Schatten. Die Dämmerung kroch aus allen Ecken. Stand schon im Küchenfenster. Tora schaltete die Deckenlampe ein. Das Licht flutete heftig und hell auf sie herab und warf ihren Schatten an die Wand. Aber sie sah jetzt.
Sie erzählte und dichtete. Viele Dinge brachen aus ihr heraus, die sie ihm nie hatte begreiflich machen können, während sie einander nahe waren und zusammen spielten oder auf dem Bett mit der Strickdecke saßen. Sie deutete an, dass sie den ganzen Sommer über mit allen möglichen Dingen sehr beschäftigt gewesen sei … Und während sie schrieb, begann ihr Körper zu schweben. Das Leben wurde so leicht.
Toras magere Hand suchte drinnen in der Stube in Ingrids Schublade, bis sie fand, was sie suchte: die kleine graue Schachtel mit dem Kleingeld für unvorhergesehene Fälle. Sie zählte das Geld für das Porto genau ab und tilgte alle Spuren.
Sie empfand keinerlei Reue. Zog nur den schwarzen Regenmantel über und sprang in die nicht mehr wasserdichten Stiefel. Sie hatte die Strümpfe nicht gewechselt, und das war gut. Es schwappte noch dort unten im linken Stiefel.
Turid am Postschalter hielt den Brief einen Augenblick in der Hand. Wog ihn gedankenvoll hin und her. Dann legte sie ihn energisch auf die abgegriffene Holzplatte auf Toras Seite von der Schranke zurück und sagte: »Zu schwer. Zu wenig Porto.«
Tora war ein nasser und geprügelter Hund, als sie zur Tür hinausschlich.
Aber auf der Treppe richtete sie sich auf, eilte über die Hügel und an den Mooren entlang zum Tausendheim.
Sie zögerte nicht. Sondern wiederholte die Aktion mit der Geldschachtel. Diesmal nahm sie so viel, dass es auf jeden Fall reichen musste. Dann raste sie die Treppen hinunter, die Wege entlang, die Hügel hinunter und hinein zu Turid am Schalter.
Wie ein Esel. Sie hatte Runzeln zwischen den Augenbrauen. Der Kopf war auf eine seltsam störrische Weise gebeugt, das Maul dicht an der Halsgrube – als ob sie versuchte, sich selbst voranzutreiben. Turid leckte an der Briefmarke und stempelte sie dann ab. Tora ging hinaus in den Regen.
Sie blieb einen Augenblick auf der Treppe stehen und wartete, bis der Schweiß an ihrem Rückgrat sich beruhigte. Fischerboote kamen herein. Sie tuckerten wie Herzen. Wie ihr Herz. Es gab keinen Unterschied. Tuck-tuck-tuck. Im Takt. Ganz selbstverständlich. Lebendig. Trieb sich selbst voran mit seinem eigenen Motor.
11
Eines Tages schnappte Sol in Ottars Laden große Neuigkeiten auf. Nach Neujahr sollte ein Handelsschulkurs beginnen. Da wollte sie hingegen! Mit der Mutter wollte sie nicht darüber sprechen. Sondern einfach hingehen.
Sol hatte die Erfahrung gemacht, dass man sehr schnell Geld verdienen konnte. Sie hatte es unter der Matratze. Dort lag es sicher. Denn Elisif gehörte nicht zu denen, die die Matratzen zu unpassender Zeit herausrissen, um sie zu lüften. Sol wusste, dass sie die Summe noch beträchtlich vermehren könnte. Alles Geld, das sie fürs Putzen bei Ottar und fürs Packen in der Fischfabrik bekam, gab sie zu Hause ab. Sie sortierte jeden Monat die dringendsten Rechnungen aus. Dann traf sie eine Auswahl, und zusammen mit Vaters Geld reichte es für das Allernotwendigste. Aber immer wieder gab es irgendwelche Löcher. Torstein quetschte sich ein paar Tränen heraus, weil sie Geld beisteuerte, und nannte sie ein prima Mädchen. Er hätte sagen können, dass bald bessere Zeiten kommen würden und dass sie dann etwas von ihrem nächsten Verdienst behalten dürfe. Aber das sagte er nicht. Torstein sagte nichts, woran er nicht glaubte. Deshalb war er ein so wortkarger Mann.
Es fing an einem ganz gewöhnlichen Tag nach Ladenschluss an. Sol war draußen im Lager auf die Leiter gestiegen, um ein paar Kartons an ihren Platz zu schieben, weil sie Angst hatte, dass sie ihr auf den Kopf fallen könnten. Sie sah Ottar neben der Leiter stehen, aber nahm keine Notiz von ihm. Bis sie seine Hand an ihrer Wade spürte. Sie erstarrte. Mehr aus Erstaunen als aus Abscheu. Er war bestimmt schon über dreißig. Fasste es als eine Ermutigung auf, dass sie stehen blieb. Die Hand bewegte sich erst zögernd. Dann hatte sie ihr Knie erreicht, kam aber nicht weiter, weil die Hand einfach nicht weiter reichte. Es war keineswegs unangenehm. Sol begriff. Da gab es vage Dinge, an die sie sich erinnerte. Dinge, die aus den Treppenaufgängen bis zu ihr gedrungen waren. Dinge über Ottar. Dinge über Männer.
Sol stieg vorsichtig eine Stufe tiefer. Aus Neugierde. Es war aber auch nicht unangenehm. Sie sah ihn nicht und spürte auch nicht seinen Atem. Spürte nur seine Hand. Sie verschaffte ihm mehr Platz, indem sie das eine Bein eine Stufe höher stellte. Hörte, wie er keuchte, trotzdem ging der Mann sie nichts an. Sie fühlte sich nicht bedroht. Sie hätte von der Leiter heruntersteigen, sich umdrehen und ihn auslachen können. Sie hätte ihm sogar drohen können. Ja! Denn davor hatte er Angst. Er hatte Todesangst. Und Sol stieg mehrmals in der Woche nach Ladenschluss in dem dunklen Lager auf die Leiter. Manchmal wünschte sie sich, er würde schnell fertig damit, was er da machte, denn sie wusste, dass zu Hause die Wäsche auf sie wartete.
Aber manchmal stand sie auch auf der Leiter und fand es sehr schön, dass jemand sie mit so behutsamen Händen anfasste. Dann war sie beinahe enttäuscht, wenn sie an seinem Atem hörte, dass das Ganze vorüber war und sie herunterklettern konnte.
Er sah sie nicht an, wenn er ihr das Geld gab. Er reichte ihr alles zusammen in einem Umschlag. Mehr als doppelt so viel, als ihr eigentlich zustand. Ottar war nett … Sie ging über die Hügel bis hinauf auf die Anhöhe und wieder hinunter zum Tausendheim, mit einem neu entbrannten, aber unklaren Willen in sich – während sie an das Geld dachte und daran, wie nett Ottar war. Sie hatte nicht geknickst, als sie das Geld entgegennahm. Sie war ja jetzt erwachsen. War sich bewusst, dass sie Selbstvertrauen haben konnte. Sie wusste etwas über Ottar. Das machte sie älter als ihn. Davon kam er niemals los. Und Ottar wusste das. Er brachte seine Haare in Ordnung und begab sich nach Ladenschluss in das dunkle Lager. Er war ein Mann, der seine einsamen, verborgenen Wege ging, und er hatte genügend Geld, um seine Spuren zu verwischen.
Eines Abends begriff Sol dann aber, dass er sie nicht mehr auf der Leiter stehen haben wollte. Er hatte auf dem Boden eine Art Lager aus zusammengefalteten Kartons gemacht. Er versuchte sie in der Dunkelheit auszuziehen, ohne ein Wort zu sagen. Aber Sol zeigte seinen Händen den richtigen Platz. Sie war verlegen. Es hätte eigentlich nicht nötig sein dürfen, ihn mit Worten anzuleiten, aber das war es eben doch. Er krümmte sich wie ein Hund. Sie fühlte es mehr, als dass sie es sah. Die Hände waren unsicher. Am nächsten Freitag steckten wieder doppelt so viele Zehnkronenscheine in dem Umschlag, als ihr offiziell zustanden. Das Rendezvous auf der Leiter wurde zur Routine. Sol begriff nicht, dass er die Sache nicht sattbekam. Nach zwei konnte er sie endlich herunter auf die Pappschachteln holen. Sie grauste sich vor dem, was nun kommen würde. Aber er legte seinen Kittel über ihr Gesicht und arbeitete dann dort unten zwischen ihren soliden Beinen mit kalten Händen und einer Taschenlampe. Sol nahm es gelassen hin. Es war absolut auszuhalten. Sie erforschte sein Verhalten, während er sie erforschte. Meist lag sie nur da und dachte an die Handelsschule.
Jedes Mal, wenn sie Beine oder Hüften bewegte, schnappte er nach Luft und wurde noch eifriger. Sie wurde in gewisser Weise von der gleichen Erregung ergriffen. Bekam gleichsam einen bestimmten Rhythmus. Visionen tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, begann sie zu wünschen, dass wirklich etwas geschah. Aber es gab nur einen zitternden Lichtstrahl und sein Keuchen. Vom ersten Tag abgesehen, wurde auf den Pappkartons kein Wort gesprochen. Gelegentlich wollte er sie von hinten sehen, während sie auf allen vieren stand, mit dem Gesicht zur Ladentür. Es sickerte immer etwas Licht durch einen dünnen Spalt an der Türschwelle herein. Immer.
Sol hörte Mutters frommen Gesang bereits von weitem. Sie nahm den Bruder an der Hand und zog ihn am Haarschopf. Er war angesprungen gekommen, als er sie an der Toreinfahrt gesehen hatte. Der Junge blickte sie mit strahlenden Augen an und blieb ganz gehorsam stehen, als sie ihm den Rotz abwischte. Dann ging es die Treppen hinauf.
Irgendwo im Haus ließ jemand Wasser laufen. Es rieselte hohl durch die alten Rohre, das Rieseln pflanzte sich im Gebälk fort, fand sein eigenes Lied. Es war verschieden von Raum zu Raum, von Etage zu Etage. Begann vielleicht zeitig am Morgen mit einem Rinnen, artete tagsüber aus und rauschte lustig um die Essenszeit. Das träge Nachrauschen, wenn gespült wurde, verriet, dass Mittagsruhe herrschte. Bei Elisif rauschte es an den Tagen, an denen Sol bei Ottar putzte, erst, wenn Sol nach Hause kam. Elisif wollte die Arbeit zwar erledigen, aber es wurde trotzdem nichts daraus. Die Kopftuch-Johanna meinte, es sei eine Sünde und Schande, dass Elisif immer nur betete. Sie murmelte es im Treppenhaus und flüsterte es über die Kaffeetasse Ingrid und den anderen Frauen zu, wenn sie bei ihnen saß, um eine Tasse Zucker zu leihen.
Ingrid hatte so wenig zu sagen. Sie hörte zu, nickte und dachte an alles, was sie noch tun musste, ehe sie in die Fischfabrik oder zum Putzen ging. Aber sie lächelte. Das war wichtig. Die Leute glaubten, dass man zuhörte, wenn man nur nickte und lächelte.
»Das Mädchen schuftet wie ein Pferd!«, schnaubte die Kopftuch-Johanna und schüttelte sich. Sie tat sich einen Haufen Zucker in den Kaffee. Saß unter Elisifs frommem Gesang und ekelte sich vor ihrer Gottesfürchtigkeit.
»Das Mädchen rackert sich ab, und die Mutter rennt zum Missionsschiff! Das Haus quillt über von Dreck und Fischabfällen. Alles bleibt liegen, bis Sol heimkommt. Ich hör das Gepolter da oben, wenn sie ihren Mantel aufgehängt hat. Und Elisif singt ›Bei den Wassern von Babylon‹. So ein Blödsinn!«
Sie knotete die Enden des grellbunten Kopftuches noch fester, so dass die Adern auf der Stirn in dem bläulichen Gesicht anschwollen. Ingrid war müde. Sie vergaß zu nicken.
»Ja, was meinst du? Du siehst doch auch, was da oben vor sich geht.« Johanna nahm noch zwei Stücke Zucker, aber da sie eigentlich satt war, ließ sie sie wie zufällig in die Schürzentasche gleiten. »Ja, ich will ja nicht über die Leute reden. Aber so was kann doch nicht Gottes Wille sein, wie?«
Nein, das glaubte Ingrid auch nicht. Aber es war wohl nicht immer so einfach …
»Die Elisif ist ja auch krank«, fügte sie hinzu.
»Pah, krank. Ja, ja! Haste schon mal gehört, dass kranke Leute den Weg runter zum Missionsschiff rennen und auf den Knien liegen und Zeugnis ablegen, bis sie Holzsplitter in die Knie kriegen, was? Nein, das will ich dir sagen, Ingrid, diese Närrin ist nicht mehr krank als ich. Und mir geht’s gut!«
Derweil stiegen Elisifs Gebete innig und aufrichtig aus der engen Dachstube über ihnen empor. Sie betete für sie alle.
»Haste die Kartoffeln gewaschen?«, rief Sol, als sie ihren Mantel aufhängte.
»Nein, dazu bin ich nicht gekommen«, antwortete Elisif. »Der Herr war heute so gut. Er war mir so nah. Ich sprach mit ihm in aller Unschuld. Er hörte mir zu!«
»Worüber habt ihr denn geredet?«, fragte Sol. Sie hatte diese Art Gespräche gelernt. Es ging ihr weniger auf die Nerven, mitzumachen, als sich Bergpredigten anzuhören.
»Wir haben über weltliche Dinge gesprochen. Ich habe für die armen Kinder in Korea gebetet. Die sind ja zu Tausenden in die Flucht getrieben worden. Ich habe für dein verstocktes Herz gebetet, Sol! Ich habe für die verstockten Herzen der ganzen Jugend in dieser Welt gebetet. Er war so gütig, er hat gesagt, dass er all denen ihre Sünden vergeben werde, die sich heute bekehren. Hörste, Sol? Ist das nicht wunderbar?«
»Ja, Mama, das ist schön. Du wirst sehn, es wird noch alles gut.«
Sol steckte dem kleinen Bruder eine Scheibe Brot zu und deckte für alle den Tisch. Sie waren nur acht. Die Leute sagten, mit Elisif sei im Krankenhaus etwas gemacht worden. Jedenfalls kamen keine Kinder mehr. Torstein war nicht zu Hause. Er hatte angefangen, Netze zu flicken. Hatte einen festen Verdienst. Das merkte man schon. Sol glaubte nicht, dass die Mutter alles begriff. Elisif schien keine Vorstellung davon zu haben, dass sie einkaufen und bezahlen und Kleider haben mussten. Sol hatte nicht genug Kraft, um herauszufinden, wie schlimm es eigentlich um die Mutter stand. Sie sah nach vorn. Bis Weihnachten. Die Handelsschule begann gleich nach Neujahr. Bis dahin würde sie genug haben, für das Schulgeld und alles, was sie brauchte. Sie würde in der Fischfabrik Schluss machen. Ihr wurde schon schlecht, wenn sie an die grauen Frauen dort und an die Packhalle nur dachte. Der Vater musste mit den Geldproblemen allein fertigwerden. Sie würde sich um die vernachlässigten Kleinen kümmern und zu Hause bleiben. Und sie würde lernen. Und bei Ottar putzen. Aber einmal würde sie von allem hier loskommen.
Inzwischen hatte Elisif ihre Gebete beendet und die Bibel von der Kommode genommen. Sie strich liebevoll über die abgegriffenen, weichen Ecken des Einbandes. Der lag wie ein schützender Schild über den glatten Goldrändern. Sie strich über das Kreuz auf der Vorderseite und streckte den runden, runzligen Hals vor. Dann lächelte sie. Sie fühlte, wie durch ihre Finger die Kraft von außen in sie hineinströmte. Ihr Gesicht leuchtete einen Moment auf. Sie hatte den Blick an die fleckige Decke gerichtet. Aber es war nicht die schmutzig weiße Farbe, die sie sah. Ihr Blick drang durch die ärmliche Decke hindurch zu Herrlichkeit und Freude empor. Sie feuchtete die Lippen an und öffnete den Mund zu einem Lobgesang. Er erklang laut und ungezwungen und schlicht. Elisif war für mehrere Stunden mit ihrem Gott allein. Hörte ab und zu den Jüngsten unter dem Fenster wimmern. Aber sie konnte nicht verstehen, dass das sie anging. Hatten nicht auch die Jünger alles verlassen, um Ihm zu folgen?
»Jesus«, flüsterte sie und sah zur Decke hinauf. Elisif zog die Tageslosung aus der Glasschale auf der Kommode, während die Kartoffeln auf dem Herd blubberten. 3. Buch Mose 21.21: »Wer nun unter Aarons, des Priesters, Nachkommen einen Fehler an sich hat, der soll nicht herzutreten, zu opfern die Feueropfer des Herrn; denn er hat einen Fehler. Darum soll er sich nicht nahen, um die Speise seines Gottes zu opfern.« 3. Buch Mose 21.14: »Keine Witwe oder Verstoßene oder Entehrte oder Hure, sondern eine Jungfrau soll er zur Frau nehmen.« Sie flüsterte die Wörter über den gefalteten Händen. Das strähnige Haar war gescheitelt und stramm nach hinten gekämmt und endete im Nacken in einem borstigen Knoten. An der Strickjacke fehlten mehrere Knöpfe. Die Bibel lag aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch. Und ihr Gesicht strahlte vor Freude. Die hauchdünnen, goldumrandeten Bibelseiten vibrierten unmerklich unter ihrem Atem. Ihre Augenlider zitterten leicht, als sie die Augen schloss und flüsterte: »Der Herr sei gelobt in alle Ewigkeit, Amen.«
Sol ließ die Hand mit dem Messer einen Augenblick sinken, als sie Mutters Stimme drinnen im Zimmer hörte. Dann schnitt sie schnell und ungeduldig weiter. Und das rotbraune Fleisch mit weißen Hautfasern fügte sich widerstandslos unter ihrem Willen in Würfel.
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