Kitabı oku: «Der stumme Raum», sayfa 3
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Rakel deckte im Wohnzimmer festlich den Tisch. Der schwere Messingleuchter mit sieben roten Kerzen thronte mitten auf der selbstgewebten Decke – und das beste Service hatte sie hervorgeholt. Sie deckte für vier.
Simon hatte seinen blauen Anzug an und schenkte drei Gläser Schnaps ein, die er auf das blankgeputzte Silbertablett stellte. Er war gut erzogen, dieser Simon. Die Tante, die sich um ihn gekümmert hatte, seit er als Baby seine Mutter verloren hatte, war wohlhabend gewesen. Simon war trotzdem Simon. Und da sie ein wenig auf die Gäste warten mussten, ging er hinaus in die Küche und fragte, ob das mit dem Jackett unbedingt nötig sei. Es sei doch mitten in der Woche …
»Ich werd heut fünfunddreißig!« Rakel reckte sich und stemmte die Hände in die Seiten. »Ich pfeif auf einen Mann, der an einem solchen Tag nicht die Jacke anbehalten kann, auch wenn’s mitten in der Woche ist.«
Simon stieß einen langen Pfiff aus und ging ins Wohnzimmer zurück. Er nahm einen gierigen Schluck aus einem Schnapsglas und füllte nach. Sonst war er vorsichtig mit Alkohol.
»Wie hat sie’s aufgenommen – eigentlich?« Er rief es zu Rakel in die Küche hinaus.
»Das hab ich dir doch gesagt.«
»Du hast gesagt, dass sie kommen soll. Und dass sie das auch versprochen hat. Aber ihr habt doch noch mehr geredet …«
Rakel erschien in der Tür, während sie die Schürze auszog. Das kleine Gesicht war ernst, beinahe puppenhaft. Ganz verändert, seit er wegen der Jacke gefragt hatte.
Simon wurde niemals schlau aus Rakels verschiedenen Ansichten und Reaktionen. Sie war wie ihre gewebten Stoffe, wenn sie schnell über den Fußboden ausgerollt wurden. Die Farben und die Muster wechselten so rasch, dass man nicht folgen konnte. Er half ihr, so gut er konnte. Setzte vorsichtig rohe Muskelkraft ein. Im Übrigen mischte er sich nicht in ihre Arbeit ein, wenn sie ihn nicht darum bat.
Aber jetzt wollte er sich einmischen. Glaubte, dass er erfahren müsste, wie Ingrid es aufgenommen hatte, damit er ihr an der Tür nicht wie ein Narr entgegenzutreten brauchte und nicht wusste, ob da Freund oder Feind kam.
»Sie hat’s wohl sehr schwer gehabt …«
Rakel setzte sich in den Schaukelstuhl, hinten bei dem alten lackierten Klapptisch. Strich mit schmalen, behutsamen Händen über die Tischplatte. Glättete die Decke – immer wieder, ohne zu wissen, was sie tat.
»Ja, aber das hast du doch auch.«
»Für mich ist das nicht schlimm. Ich hab doch dich …«
»Nun … das ist ja wahr … aber … Ja, hat sie nichts gesagt?«
»Wir haben geredet … Über vieles, Simon. Wir haben über alles geredet, worüber wir zehn Jahre nicht geredet haben – mindestens. Aber ich kann dir nicht alles sagen. Das musste verstehn. Es bleibt unter uns … uns Frauen, Simon. Sie hatte Angst, weil sie zwischen uns und Henrik gewählt hat. Sie glaubte, dass wir ihn nie mehr sehn wollten. Sie war ja gezwungen, Partei zu ergreifen. Wir … Das musste auch verstehen. Sie hat ja nur getan, was sie tun musste!«
»Hättest du dich mit deiner Schwester überworfen, wenn ich Henriks Haus angezündet hätte?« Er sah sie mutig an. Als ob die Frage, die Möglichkeit ihm erst jetzt gekommen wäre. »Würdest du zu einem Brandstifter halten, einem Kriminellen, einem Verbrecher? Ja, beim ersten Mal war’s ein Wunder, dass niemand umgekommen ist! Ich hatt ja Leute in der Hütte liegen. Würdest du mir verzeihen? Ich frag ja nur!«
Rakel ließ ihre Augen über das viereckige Gesicht gleiten, über den sehnigen, geschmeidigen Körper und die wilde Mähne. Dann sagte sie, gar nicht ihrer sonstigen Art entsprechend, ungewöhnlich langsam: »Wenn Ingrid loyal gegenüber einem Mann ist, der ihr so viele Jahre so viel Böses angetan hat und den sie vielleicht nie richtig geliebt hat, dann fürcht ich schon, dass es keine große Hoffnung für mich gegeben hätte, wenn du es gewesen wärst, der sich als Brandstifter versucht hätte.«
Simon sah sie an, als ob er seinen eigenen Ohren nicht traute. Dann zog er schnell die Jacke aus und hängte sie über eine Stuhllehne. »Teufel noch eins! Ich meine: Das wär zu viel. Ich hätt deine dumme Nase nicht im Gefängnis sehn wollen, wenn ich dort sitzen müsste. Hörst du! Ich hätt dich nicht einmal flüchtig sehn wollen, damit du’s nur weißt. Sollen die Weiber so sein? Soll eine ehrliche Frau sich verpflichtet fühlen, zu einem Verbrecher zu halten, wie? Hat das einen Sinn? Nein, Rakel! Ich muss dir sagen, dass du so einfach nicht denken darfst. Du! Nein, da hättest du mir die Tür weisen müssen. Was soll aus der Welt und uns Männern werden, wenn ihr Frauenzimmer euch mit allem abfindet, was wir tun, und wenn ihr euch sogar unsretwegen mit euren Geschwistern entzweit? Glaubste, dass es dann in der Welt noch eine Hoffnung gäbe? Was?«
Rakel erhob sich aus dem Schaukelstuhl. »Ich scheiß auf die Welt und die Männer. Jetzt geht es um Ingrid.« Aber ihre Stimme war voller Lachen, ganz Rakel. »Reg dich mal ab, zieh die Jacke über und zünd wenigstens die Kerzen an, wenn du schon nichts anderes anzündest. Sie können jeden Moment hier sein.«
Simon kam zu ihr in den Flur hinaus. Er gab sich noch nicht geschlagen: »Du kannst das unmöglich meinen, was du gesagt hast?«
»Sei jetzt friedlich«, fauchte Rakel, während sie die Haustür öffnete. Aber er zog sich die Jacke nicht wieder an.
Tora hatte die Decke für den Küchenschrank mitgebracht. Sie lag draußen im Flur, damit niemand sie finden sollte, bevor Tora wieder gegangen wäre.
Ingrid schenkte Rakel einen Glaskrug mit einem Deckel. Er war billig und alltäglich. Sie musste ihn während der Essenspause gekauft haben. Tora sah, dass die Mutter sich schämte und glaubte, dass es allzu wenig wäre …
Sie sagte es auch. Stand unbeholfen an dem festlich gedeckten Tisch und bat um Entschuldigung für dieses bescheidene Geschenk. Aber Rakel drückte sie beide an sich. Ihre Augen glänzten und sie schüttelte energisch den Kopf. Dann stellte sie den Glaskrug auf den Tisch zwischen das kostbare Geschirr, als ob es ein Kristallkrug wäre. Die Kerzen warfen Schatten auf den Krug. Er fing an zu leben, meinte Tora.
»Nein, wie fein du dich gemacht hast … Ich hätt auch das gute Kleid anziehen sollen … ich hätt es trotz allem tun sollen. Ich hab nicht so weit gedacht …«
»Puh, es ist doch egal, was man anhat«, sagte Rakel mit auffallend lauter Stimme und sah auf Simons Jacke, die über der Stuhllehne hing.
Er grinste den anderen breit zu, hinter Rakels Rücken. »Sie will partout, dass ich mich lächerlich mach und hier im Haus die Jacke anzieh, nur weil sie fünfunddreißig wird. Und das auch noch mitten in der Woche. So ’n Unsinn!«
»Simon!« Rakel drehte sich auf dem Absatz um und drohte ihm mit geballter Faust. Ingrid lächelte matt.
Tora setzte sich vorsichtig in einen der Sessel. Es ist genau wie früher, dachte sie. Genau wie früher. Wenn dieser Abend doch ewig dauern würde … Sie sah das ganze Leben voll solcher Abende vor sich. Saß in dem Sessel und platzierte Frits und Gunn und Randi und Sol in die anderen. Sie hörte die Mutter mit Rakel über harmlose, alltägliche Dinge sprechen. Sie sah, dass Onkel Simon die Schnapsgläser und das Limonadenglas von neuem füllte, während er Grimassen schnitt und Ingrids und Rakels Reden lautlos imitierte und Tora zuzwinkerte.
Und Tora zwinkerte zurück.
Hinter dem Glimmerfenster im Kamin tanzten Schatten, die eine wunderbare Geborgenheit schenkten. Alles war genau wie früher. Das andere – das war nur ein nächtlicher Albtraum, ein schrecklicher nächtlicher Traum. Nur ein eingebildetes Geschehen. Und sie nahm all das Schöne mit nach Berlin. Sie schob ganz Bekkejordet und alle zusammen, auch die Katze, in das große weiße Haus der Großmutter.
Rakel hatte Hammelbraten gemacht. Dazu gab es Preiselbeeren und Gemüse. Simon schnitt den Braten auf und sie setzten sich zu Tisch. Ingrid hatte hoch oben auf jeder Wange einen kreisrunden roten Fleck. Sie wehrte ab, als Simon ihr Glas wieder füllen wollte. Aber er nötigte sie. Sie sah froh aus. Tora blickte sie lange an. Hörte dem Gespräch zu. Simon hörte meistens auch nur zu. Gelegentlich konnte Tora merken, dass die Stimme der Tante sehr hoch und ein kleines bisschen schrill war, als ob die Tante Angst hätte, dass Simon oder jemand anders etwas Falsches sagen oder tun könnte.
Ja, Simon sprach übrigens nur einmal von dem Neubau. Aber Ingrid nickte und hörte ihm ruhig zu. Wischte sich mit der Serviette den Mund ab, bevor sie ihm antwortete, dass es wohl nötig gewesen sei. Tora hatte nicht gewagt, aufmerksam zu verfolgen, was da nötig gewesen sei.
Spätabends gingen sie im Mondschein nach Hause. Der Regen war vorbeigezogen. Alles war schön. Es war bitterkalt in den dünnen Damenstrümpfen. Aber Tora achtete kaum darauf. Sie hakte sich bei der Mutter ein und hörte, wie es unter ihren Schuhen knirschte. Über dem Moor stieg aus dem Nichts langsam dünner, durchschimmernder Nebel auf. Beinahe wie Märchenschleier. Sie sprachen nicht miteinander. Gingen nur. Einmal gähnte Ingrid. Aber es war nicht das Gähnen, das Tora oft hörte, wenn die Mutter mutlos oder irritiert war oder am liebsten geweint hätte. Nein, es war ein gutes, müdes Gähnen.
Um den Mond hingen ein paar Wolken. Aber er tat so, als ob er sie fortjagte, sobald er hervorkam. Er schien jedenfalls während des ganzen Heimwegs.
Ohne es sich selbst erklären zu können, fiel Tora plötzlich die Geschichte von der Weihnachtsnacht und dem Jesuskind und dem Stern ein. Der leuchtete den Hirten durch die Nacht bis hin zum Stall.
»Die Tante hat nur uns.«
Das fuhr ihr so heraus. Ein Gedanke gebar den nächsten. Der Gedanke wurde ausgesprochen.
»Sie hat ja keine Kinder … meine ich«, fügte sie schnell hinzu.
Ingrid blieb einen Augenblick stehen und sah die Tochter an. Sie war groß geworden in diesem Herbst. Ingrid hatte es bisher gar nicht richtig bemerkt. Tora wirkte besonders groß und krumm im Mondschein. Es liegt ein sonderbares Licht über dem Kind, dachte Ingrid.
»Nein …«, sagte sie, »sie hat nur uns. Dich.« Dann gingen sie weiter.
Der Wind wurde stärker, es sah so aus, als ob das schlechte Wetter vom Tage sich fortsetzen würde und nur ein Zwischenspiel eingelegt hätte – eine Atempause.
Das ganze Tausendheim war dunkel. Nur die zwei waren draußen und trieben sich in der Nacht herum, mitten in der Woche. Sie schlichen die knarrende Treppe hinauf. Lächelten einander an und schnitten Grimassen, wenn sie aus Versehen auf eine besonders ächzende Stufe traten.
Als die Mutter im Bett lag, schlich Tora wieder in die Küche. Setzte sich ganz leise auf die Torfkiste, nachdem sie die Ofentür geöffnet hatte. Vorsichtig, vorsichtig.
Hielt die bloßen Füße gegen die Glut. Es lag eine ganze Welt von Schatten, Licht und Farben in der Glut. Sie legten immer gut nach, bevor sie ins Bett gingen, dann konnten sie am nächsten Morgen mit der Glut neu einheizen.
Sie hatte kein anderes Licht als den Mond, der durch die Fenster schien – und die offene Ofentür.
So sollten die Herbsttage sein! Trocken und voll Ofenwärme und Mondschein. Das Tuckern eines Bootes in der Bucht und sanfter Wind im Ebereschenbaum. Die roten Büschel schlugen leise gegen das Fenster. Man sollte sie nicht sehen. Nur ganz still auf der Torfkiste sitzen und lauschen und wissen, dass die Beeren intensiver rot waren denn je. Der Abend sollte lang sein wie ein kostbarer Sommertag, mit dem Mondlicht von oben und der Dunkelheit von unten. Und trocken! Die Füße sollten nackt sein, man sollte das Gefühl haben, dass sie vom übrigen Körper getrennt waren – in der schwachen Wärme des Ofens. So!
Und die weiße Uhr sollte ticken. Tagsüber hörte man sie nicht. Durch die Tage schlug sie sich nur aus Trotz. Aber jetzt war sie auf friedliche Laute eingestimmt. Rund und schön tickte sie – und band alle Dinge zusammen, so wie es sich gehörte.
Die Insel hatte jetzt einen glasigen Schimmer. Das Meereslicht lag kalt und unbarmherzig über den dunkelgrünen, abgemähten Wiesen. Das Gestrüpp überall hielt mit aller Macht die gelben Blätter fest. Nässe und Nachtfrost hielten einander in eiskalter Umarmung. Grün schimmerte das Meer, tagaus, tagein. Ohne eine einzige Schaumkrone. Ohne einen einzigen grauen Regenschauer. Der Himmel war das Seltsamste. Hoch und hell – als ob es April wäre und die große Außenlampe den ganzen Tag brannte. Die Linie zwischen Meer und Himmel leuchtete bis weit in den Abend hinein. Es war, als ob der Herrgott in diesem Jahr den Herbst überspringen wollte.
Trotzdem machte das Schlachten die blutige Runde in den Höfen. Die Schafe hatten wochenlang die letzten Heureste verzehrt. Jetzt war ihr Schicksal besiegelt. Der Schlachter war ein wohlgelittener Mann. Er hatte eine Frau und sechs Kinder in Sørbygda. Er aß und trank herzhaft. Und wo er hinkam, fehlte es ja selten an Frischfleisch.
Rakel konnte sich an diesen Teil der Schafzucht nie gewöhnen. Sie stand über dem dampfenden Blut und hätte sich am liebsten übergeben. Wurde abgelöst und ging zum Kochen ins Haus. Frische Fleischsuppe mit viel Kohl und Mohrrüben. Es schien zu dampfen. Eine Art feuchtkalter Dampf. Auch wenn er heiß war. Von Suppe und Blut und Blutklößchen und Blutpudding. Dampf aus dem Innersten und Gierigsten des Lebens. Urdampf. Mehrmals dachte sie, dass sie die zwei oder drei Tage, die es dauerte, nicht durchhalten würde. Aber sie schaffte es immer, die Rakel. Immer! Und im Dezember fing sie so allmählich an, sonntags Fleisch zu essen wie andere Leute auch. Aber vor und nach dem Schlachten war sie Brotesserin. Sie kochte das Fleischgericht nur für die Arbeitsleute und Simon. Sie pflegte zu sagen, dass sie schon gegessen oder dass sie zu viel zu tun habe, um am Tisch sitzen zu können. Sie lief ein und aus und war sehr beschäftigt. Es war zur Schlachtzeit außerordentlich angenehm in Bekkejordet, das fanden alle, die dorthin kamen. Aber Rakel kannte weder Rast noch Ruh. Sie arbeitete wie ein ungestümer Südwestwind.
Nur Simon wusste Bescheid. Und er berührte sie mit seiner rauen Hand, wenn er sie zufällig irgendwo traf. Es war ihm egal, ob es jemand sah. Er fuhr mit derselben Hand über sein Kinn.
Dann schimmerte es in seinen Augen. Von dem weichen, schönen Mund breitete sich etwas wie Zärtlichkeit aus. Das ganze Gesicht leuchtete, wenn er Rakel sah.
Rakel wusste, dass er wusste. Aber er verspottete sie nie deswegen. Es ging nur sie beide an. Das Fasten machte Rakel gesprächig und aktiv. Und gut. Und Simons von der Arbeit ermüdeter Körper wurde an solchen Spätherbsttagen wieder ganz lebendig. Schande über ihn, wenn er nichts taugte – da sie so wunderbar warm und wach war. Und das Licht brannte im Schlafzimmer von Bekkejordet. Im Bett wurde nicht gelesen, und es wurde wenig gesprochen. Rakel kompensierte ihren Hunger im Magen mit einem anderen Hunger, und sie wollte gerne sehen, was sie bekam. Nachher konnte sie noch lange wach liegen und dem fernen Rauschen des Wasserfalls vom Hesthammeren lauschen – und dem Atem des Mannes. Sie lag auf dem Rücken, die Arme und Beine in dem breiten Bett weit von sich gestreckt. Sie konnte plötzlich ein Gefühl von Unwirklichkeit haben. Die Sicherheit, die Sättigung waren nur eine Leihgabe. Dieses Gefühl mischte sich mit dem Rauschen dort draußen und wurde immer undeutlicher. Sie glaubte, dass sie nur noch in diesen Stunden ihre eigentliche Kraft einsetzen könnte. Die Arbeit ging ihr nicht mehr von der Hand. Sie lief nur mit zufälligen Dingen in den Händen hin und her.
Es konnte passieren, dass sie morgens liegen blieb. Ohne Energie, um aufzustehen. Zuerst hatte sie gemeint, dass die Schlachterei daran schuld sei. Aber es hatte ja schon im Spätsommer angefangen. Eine Müdigkeit, die sie sich nicht erklären konnte, ein Schwindelgefühl, das sie nicht verstand. Das alles nahm den Arbeitstagen die Farbe. Sie wollte es eigentlich Simon gegenüber kurz erwähnen. Stattdessen klammerte sie sich an ihn mit allem, was sie geben konnte. Auf diese Weise waren jedenfalls die Nächte schön. Sie war nicht mehr beim Arzt gewesen seit jenem unglückseligen Tag, an dem sie sich Klarheit darüber verschafft hatte, dass es nicht an ihr lag, dass sie keine Kinder bekamen … Bis zu einem gewissen Grad war wohl ihre eigene Fruchtbarkeit in Verbindung mit Simons Mangel ein Grund dafür, dass ihr die Arbeit nicht mehr so leicht fiel. Die Müdigkeit. Die Übelkeit. Sie fürchtete auch, dass, wenn sie über ihre Unpässlichkeit sprach, dann alles ans Licht kommen müsste. Nein, sie wollte sehen, ob es nicht vorüberginge. Sie gab sich noch eine Woche. Dann würde sie den Arzt aufsuchen. Sie konnte jederzeit ins Dorf gehen, ohne Simon darüber informieren zu müssen, was sie vorhatte.
Sie legte die Hand auf seine knochige Hüfte. Er registrierte die leichte Berührung und rückte im Schlaf näher zu ihr. Sie reckte sich über ihn und löschte das Licht. In der Dunkelheit war er ihr ferner. Es half irgendwie nicht, dass sie ihn nahe bei sich fühlte. Es war nicht genug. Sie verstand sich selbst nicht mehr, konnte den nächsten Tag nicht ins Auge fassen.
Tora und Rakel saßen in Bekkejordet am Küchentisch und vernähten Rollwurst aus Hammelfleisch. Es roch nach Zwiebeln und Kräutern. Das grobe Garn und die Nadel glitten Rakel immer wieder aus der Hand. Tora sah es staunend. Sie sah, dass die Tante bleich und müde war und dass ihre Bewegungen auf einmal vage und passiv wirkten. Sie redete auch nicht so viel wie sonst.
Tora sah verstohlen auf, während sie weiternähte. Rakel spürte den Blick der Nichte. Sah sich selbst mit Toras Augen. Sie erhob sich und fing an, hinten am Küchenschrank noch mehr Zwiebeln zu schneiden. Es schien heute alles sehr eilig zu sein. Als ob sie es nicht über sich brächte, mit Tora zu reden. Nicht weiterwüsste. »Ich glaub, ich muss mich ein bisschen hinlegen. Ich bin so müd. Es war in letzter Zeit so viel. Abends ist es immer spät geworden und …«
Tora kam es seltsam vor, dass die Tante während der Arbeit auf der Couch lag. Aber sie nähte weiter. Schwieg und nähte. Sie saß mit dem Rücken zur Couch und hatte den Ausblick auf das Land und die Birkenallee. An der Wand tickte die Uhr. Der Ofen war gut warm. Die Finger arbeiteten schnell und leicht. Trotzdem war es kalt im Raum, weil die Tante so schweigsam war und, anstatt zu arbeiten, auf der Couch lag. Tora wollte sich nicht umdrehen und sehen, ob sie schlief. Sie hörte sie nicht atmen. Sie hatte das Gefühl, dass die Tante auf ihren Rücken schaute. Es war anstrengend und schwierig, die ganze Zeit an die Tante zu denken, so dass Tora schließlich aufstand, um aufs Klo zu gehen. Erst wusch sie sich die Hände am Ausguss. Der Blick fiel auf Rakel. Sie war blass! Sie lag mit geschlossenen Augen da. Sie wirkte völlig wehrlos. Tora schämte sich, dass sie es gesehen hatte, und schlich hinaus. Saß lange draußen in der Kälte und überlegte, dass heute auf Bekkejordet alles anders war.
Als sie wieder hereinkam, war Simon da. Rakel hatte angefangen, die Lake für die Hammelwurst zu kochen. Simon lachte und erzählte vom Geschäft und vom Ort. Er kniff Tora in die Wange und strich Rakel über die Hüften. Aber etwas schien in der Luft zu liegen. Und zwar nichts Gutes.
Vier Tage später ging Rakel in den Ort. Und saß dann im Wartezimmer, bis sie an der Reihe war.
Ihr Gespräch zog sich zähflüssig hin, während sie dort auf den Stahlrohrstühlen saßen.
Rakel fühlte sich todmüde, und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich einem Mann verständlich machen sollte – auch wenn er Arzt war.
7
Ingrid trug ihren guten Mantel. Das heißt, den einzigen, in dem sie sich vor den Leuten blicken lassen konnte. Das blau und grün karierte Kopftuch war für diese Gelegenheit gewaschen und gebügelt worden. Sie hatte sich auch die Haare gewaschen, obwohl sie für niemanden glänzten. Unter der grellen Lampe am Kai sah ihr Gesicht krank und bläulich aus. Die Männer schielten zu ihr hinüber. Aber sie sagten nichts. Nickten nur, weil sie sich nicht ausgestoßen fühlen sollte.
Tora stand wie ein Schatten hinter der Mutter. Sie trug einen kleinen braunen Pappkoffer, der leicht zu sein schien. Dann legte der Küstendampfer am Kai an und spuckte eine Handvoll Leute auf die zersplitterten, vom Wasser angefressenen Kaiplanken. Die Stimmen, die Kisten und Fässer rollten bedächtig über die Reling, und der schwarze Schiffsrumpf schaukelte still vor sich hin, während alles wie gewohnt ablief.
Der Tag war klar, das Meer ruhig, die Möwen friedlich. Aber die Kälte biss. Der Verladekran jammerte böse, und man hörte von weitem das Knirschen der Füße auf dem Schnee. Ingrid wollte in die Stadt, und alle wussten warum.
Als die Fähre die Landzunge umrundete, um in die Bucht hinauszufahren, und in der scharfen Kurve leicht schwankte, stand Tora am Strand und winkte. Aber es war niemand an Deck. Und als das Schiff mit dem pechschwarzen Rumpf sein Aussehen veränderte und als grauschwarzes Gespenst in den Frostdunst hineinglitt und an der Tausendheimbrücke vorbei um die Landspitze herumfuhr, stand Tora mit erstarrten Händen und wehenden Zöpfen auf dem Hügel hinter dem Tausendheim. Dort lag die alte Fahnenstange auf dem Boden und ließ sich von den Möwen vollkleckern, während die Farbe abplatzte und das Moos wuchs.
Tora konnte nicht erkennen, ob jemand an Deck war, die Entfernung war zu groß.
Sie war so gerannt, dass sie ganz außer Atem war, aber die Kälte biss nicht mehr. Nur innerlich fror sie. Die Mutter hatte ihr zuerst nicht gesagt, was sie in der Stadt wollte. Sie hatte seinen Namen nicht erwähnt. Und Tora, die sah, dass die Mutter sich quälte, hatte stundenlang überlegt, wie sie ihr helfen könnte. Schließlich hatte sie gesagt: »Wirst du Kleider für ihn mitnehmen?«
»Nein.«
»Aber vielleicht etwas Brot?«
»Nein.«
»Er bekommt wohl alles, was er braucht?«
»Ja. Pass auf, dass dir nichts passiert, wenn du auf der Abkürzung nach Bekkejordet über die Eisbuckel gehst …«
Nun wusste die Mutter also, dass sie es wusste. Kein Wort wurde noch über Ingrids Vorhaben in der Stadt gesprochen.
Sie wollte am dritten Tag zurückkommen. Schneller war es nicht möglich. Das machte aber nichts, weil es in diesen Tagen in der Frosterei keine Arbeit gab.
Der Ofen in der leeren Küche war ausgebrannt. Es war ganz dunkel geworden. Die Geräusche im Haus waren ein gewisser Trost. Elisif kreischte da oben. Sowohl sie als auch die Mannakörner auf der Kommode funktionierten wie in alten Tagen. Elisif hatte eine noch ebenso scharfe Stimme wie früher, aber sie selbst war nicht mehr so tüchtig. Sol war schweigsamer und tüchtiger denn je. Tora suchte das Nötigste zusammen. Schulranzen und Kleider. Dann lief sie rasch und fröhlich den Weg hinauf nach Bekkejordet. Nur einmal – als Simons und Rakels Stimmen zu ihr in die Dachkammer mit dem weißen Bett drangen – überkam sie eine Art Trauer um die Mutter. Die warmen, vertrauten Stimmen aus dem Schlafzimmer da unten waren wie ein Hohn. Auch für Tora.
Aber es wurde still. Die ganze Welt lag ruhig in der Nacht. Die Kälte knackte im Haus. Ein kleiner mürrischer, schläfriger Laut.