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Welche Regierungsform wollte Platon etablieren? – Als beste aller denkbaren Verfassungen zeichnet er die gemäßigte Aristokratie und die konstitutionelle Monarchie aus, d. h. Regierungen, die dem Gemeinwohl dienen und sich den Gesetzen der Stadt unterordnen, ohne an ihnen zu rütteln (445e). Nur in diesen Ordnungen herrsche Gerechtigkeit und Güte. Neben diesen gebe es vier weitere Grundtypen von Verfassungen, die Platon als verfehlt betrachtet (544b ff.): 1. die kretische und lakonische Verfassung, die ausschließlich auf den Krieg ausgerichtet ist; 2. die Oligarchie, die auf der Einschätzung des Vermögens beruht, in der die Reichen herrschen und die Armen keinen Anteil an der Regierung haben; 3. die Demokratie, in der die vielen Armen die wenigen Reichen unterdrücken; 4. „die edle Tyrannis, die vierte und letzte Krankheit einer Stadt“. Patriarchalische Herrschaft, korrupte Königsherrschaft und dergleichen lägen in der Mitte zwischen diesen Formen und seien bei Hellenen ebenso wie bei „Barbaren“ anzutreffen. Alle diese Verfassungen resultieren aus der Natur der Bürgerschaft und formen ihrerseits bestimmte Charaktere. Die lakonisch-kretische beispielsweise, die Platon mangels besserer Ausdrücke Timokratie oder Timarchie zu nennen pflegt, entspringe einer streit- und ehrsüchtigen Bürgerschaft und fördere ebendiese Eigenschaften.
Von diesen Beobachtungen ausgehend gelangt Platon zu einer Verfallstheorie bzw. einer Theorie des Verfassungskreislaufs: Der Mensch der Aristokratie sei gut und gerecht (545a), er folge den Gesetzen und bemühe sich um Tüchtigkeit und ein ehrbares Leben. Aus der Aristokratie erwachse die Timokratie, da die nachfolgende Generation der Machthaber die Sitten ihrer Väter missachte und sich in zügelloser Streitlust und Ehrsucht übe. Ihr folgt die Oligarchie, die alle Regierungskompetenzen in den Händen weniger Reicher konzentriert. Ihr Übergang in die Demokratie sei gesetzmäßig und erfolge wegen der Unersättlichkeit des Verlangens nach Reichtum. Es sei offensichtlich, schreibt Platon, „dass man in einer Stadt unmöglich den Reichtum ehren und zugleich Besonnenheit unter den Bürgern erlangen kann. Entweder das eine oder das andere muss man drangeben“ (555c). Wie im obigen Auszug deutlich wird, entstehe eine Demokratie immer dann, wenn die Armen in der Stadt die Oberhand gewinnen und ihre Gegner entweder umbringen oder verbannen, um schließlich die Ämter unter sich zu verlosen (557a). Damit erinnert Platon an den Sturz des Areopags (462/61 v. Chr.) und die Ermordung und Vertreibung der Areopagiten. Die Umwandlung der Demokratie schließlich führe zur Tyrannis (562a ff.), und zwar wegen der übersteigerten Freiheit, die den demokratischen Menschen sich wahllos den wechselnden Begierden hingeben lasse: „Bald berauscht er sich bei Wein und Flötenspiel, dann trinkt er wieder Wasser und magert ab; bald treibt er Gymnastik, dann geht er wieder müßig und kümmert sich um nichts; bald tut er wieder, als beschäftige er sich mit Philosophie; manchmal treibt er Politik, und wenn er aufspringt, redet und handelt er, wie es ihm gerade einfällt“ (561c). Da die Menschen der Demokratie „darin unersättlich und gegen alles andere gleichgültig“ sind, ertöne irgendwann der Ruf nach einer starken Hand, die wieder Ordnung in die aufgewühlte Gesellschaft bringt. Damit schließt sich dann der Kreis. Der Tyrann erzwingt die innere Ruhe, gewöhnt die Bürger wieder an Recht und Ordnung und schafft so die Voraussetzungen für die Rückkehr zur Monarchie bzw. zur gemäßigten Aristokratie usw. Jede Veränderung der Verfassung resultiere daraus, „dass in dem Teile der Bürgerschaft, der die Herrschaft innehat, Uneinigkeit entsteht“ (545c). Der Hauptgrund dafür, dass eine Stadt in Bewegung und Aufruhr gerät, liege in der Entzweiung der Wächter, die sich gegenseitig zu übervorteilen und zu unterjochen suchen (546a ff.).
„Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Städten“, so resümiert der platonische Sokrates, „oder die, die man heute Könige und Machthaber nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn dies nicht in eines zusammenfällt: die Macht in der Stadt und die Philosophie, und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, gewaltsam davon ausgeschlossen werden, so wird es, mein lieber Glaukon, mit dem Elend kein Ende haben, nicht für die Städte und auch nicht, meine ich, für das menschliche Geschlecht“ (473d). – Ein solcher Philosophenkönig stand seinerzeit nicht zur Verfügung. Aus diesem Grunde suchte Platon in seinen späten politikphilosophischen Dialogen (Politikos, Nomoi) nach einer zweitbesten Verfassung, die er in der Herrschaft des Gesetzes fand. Weil aber die Gesetze, die durch willkürliche Entscheidungen irgendwelcher Bürgerschaften zustande kommen, selbst problematisch bleiben, unternahm Platon in seinem letzten und umfänglichsten Werk eine eindringliche Untersuchung ebender „Gesetze“, ihres Wesens, ihrer Entstehung und Beschaffenheit, ihrer Wirkung und Notwendigkeit, um gute von schlechten Gesetzen unterscheiden zu können.
Platons Politeia wurde gelegentlich als Utopie und als Chimäre, als müßige Konstruktion des denkenden Kopfes kritisiert, die, wie die Erfahrung lehre, entweder keine Chance auf Verwirklichung habe oder aber, wo sie versucht würde, zwangsläufig zu „totalitären“ Verhältnissen führe. Mit dem zweiten Argument werden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in die Antike rückprojiziert. Das erste brachte bereits Immanuel Kant, außerhalb jeglichen Totalitarismus-Verdachtes stehend, in Rage, der – ähnlich wie später auch Hegel – solchen Feststellungen entgegenhielt, nichts könne „Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten“ (Kritik der reinen Vernunft, A 316/B 372 f.). Legt man die Maßstäbe der heutigen Weltanschauung an, so ist nicht zu leugnen, dass Platons Grundidee – Erziehung der Bürger zu Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit – „antiliberale“ Implikationen und Konsequenzen hat. Der Liberalismus entstand jedoch erst zweitausend Jahre später. Die Ideen der repräsentativen Demokratie und des bürgerlichen Rechtsstaates waren seinerzeit noch nicht entwickelt. Das große Ziel der klassischen griechischen Philosophie war die Krisenbewältigung, die Restitution der zerrütteten Polis und die Wiedergewinnung der zerfallenen Sittlichkeit. Dafür war Platon bereit, autoritäre Einrichtungen und die Aufhebung der Trennung des Öffentlichen und Privaten in Kauf zu nehmen. Auch die familiale Sphäre und das Privatleben der Bürger sollte von den Wächtern kontrolliert werden. Verlangt wurde die bedingungslose Aufopferung der Einzelnen für ihr Gemeinwesen. Jegliche Rückzugsrechte wurden verweigert. Erst der moderne Liberalismus hat die Konsequenzen aus dem Scheitern „erziehungsdiktatorischer“ Konzeptionen gezogen und die Befreiung der Individuen aus holistischen Strukturen gefordert. Es war Adam Smith, der erkannte, dass kein Mensch, weder ein Philosoph noch ein Staatsmann, verbindlich begründen kann, was für jeden Einzelnen das Beste ist. Deshalb sollte es jedem selbst überlassen bleiben, nach welcher Fasson er selig werden möchte. Die Folge war das von Platon konstatierte Überhandnehmen der Freiheit, die alles andere (Tugendhaftigkeit/Tüchtigkeit, Solidarität etc.) neben sich als gleichgültig erscheinen ließ. Da auch diese Entwicklung ungeahnte Risiken und ungewollte Nebenwirkungen mit sich führte, mehren sich heute wieder die Stimmen, die eine Rückbesinnung auf die Grundsätze der antiken Ethik verlangen und den modernen Freiheits- mit dem antiken Gemeinschaftsgedanken konfrontieren (Kommunitarismus, Neoaristotelismus). Der Erste, der in diesem Rahmen versuchte, die allzu rigiden Vorschläge Platons zu mildern und zu korrigieren, war sein Schüler Aristoteles.
→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2036
Aristoteles: Theorie der Mischverfassung
Ausgewählt und interpretiert von Klaus Roth
Politik (ca. 345-325 v. Chr.)
6. Unterschiede der Staatsverfassungen (politeía)
(1. a) Nachdem aber dies festgestellt ist, schließt sich hier zunächst die weitere Untersuchung an, ob man mehrere Verfassungen (politeía) oder nur eine anzunehmen hat, und wenn mehrere, welche dies sind und wieviele und welches ihre Unterschiede sind. Nun ist ja Verfassung die Ordnung (táxis) des Staates (pólis) in bezug auf die Staatsämter (arché) und vor allem in bezug auf das oberste von allen, denn das oberste von allen ist die Regierung (políteuma), und diese wiederum ist die Verfassung. (b) Zum Beispiel in den demokratischen Verfassungen ist das Volk (dêmos) oberste Staatsgewalt, in den Oligarchien dagegen die Wenigen, und eben deshalb nennen wir dort die Verfassung eine andere als hier, und ganz nach demselben Gesichtspunkt werden wir auch über alle anderen Verfassungen urteilen. (c) Demgemäß muß denn nun die Grundlage fürs erste der Zweck ausmachen, um dessentwillen der Staat sich gebildet hat, und sodann die Frage, wieviel Arten des Regierens es für den Menschen und seine Lebensgemeinschaft gibt. Da haben wir aber in den Anfängen unserer ganzen Erörterung, in denen die Bestimmungen über die Hausverwaltung (oikonomía) und das Verhältnis des Herrn zum Sklaven (despoteía) getroffen wurden, auch gesagt, daß der Mensch von Natur ein politisches Lebewesen (zôon politikón) ist. Und aus diesem Grunde treibt es denn die Menschen, auch ganz abgesehen von dem Bedürfnis gegenseitiger Unterstützung, zum Zusammenleben. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß nicht auch der gemeinsame Nutzen sie zusammenführt, insoweit einem jeden sein Teil zukommt an der Vollendung des Lebens. Vielmehr ist dies gerade das eigentliche Ziel (télos), das sie alle gemeinsam und jeder einzelne für sich dabei verfolgen, jedoch auch schon um der bloßen Erhaltung des Lebens willen treten sie zusammen und halten an der staatlichen Gemeinschaft (politiké koinõnía) fest. Denn im Leben liegt, wie es scheint, eben schon selber ein Teil des Guten, solange nicht die Art, wie man lebt, allzu drückende Lasten mit sich bringt. Sieht man doch, daß die große Mehrzahl der Menschen aus Liebe zum Leben viel Ungemach zu ertragen bereit ist, so daß doch wohl in demselben schon ein gewisses Glück und eine natürliche Süßigkeit liegen muß.
(2. a) Aber auch die in Frage stehenden Arten des Regierens sind nicht schwer zu unterscheiden, denn schon im gewöhnlichen Verkehr pflegen wir häufig die Bestimmungen über sie zu treffen. Die Herrschaft des Herrn über den Sklaven (despoteía) nämlich, obwohl in Wahrheit der Vorteil des Sklaven von Natur und des Herrn (despótes) von Natur derselbe ist, wird dennoch im eigentlichen Sinne zum Vorteil des Herrn und zu dem des Sklaven nur zufällig (katà symbebekós) ausgeübt, nämlich nur insofern, als die Herrschaft nicht aufrechterhalten werden kann, wenn der Sklave zugrunde geht. (b) Die Regierung dagegen über Weib und Kind und das ganze Haus, die wir die Hausverwaltung nennen, besteht um der Regierten oder, wenn man lieber sagen will: um des gemeinsamen Wohles beider Teile willen, doch an sich nur um desjenigen der Regierten und abgeleiteterweise auch um der Regierenden willen, wie wir ja ein ähnliches Verhältnis bei anderen Künsten (téchne), wie z.B. der Heilkunst und der Gymnastik wahrnehmen. Denn nichts hindert ja den Gymnastikmeister, zuweilen auch selber einer von den Athleten zu sein, so gut wie der Schiffsführer immer auch zugleich einer der Schiffsleute ist: Gymnastikmeister und Schiffsführer haben nun aber das Wohl derer, die sie regieren, im Auge; sofern sie aber selbst einer von diesen sind, kommt in abgeleiteter Weise der Vorteil derselben auch ihnen mit zugute, denn der eine ist eben auch ein Schiffsmann und der andere wird, obwohl er Gymnastikmeister ist, doch selber einer der Athleten. Hiernach war denn auch in bezug auf die Regierungsämter im Staat, wo derselbe auf der Ebenbürtigkeit und Gleichheit der Bürger gegründet ist, das Verlangen der letzteren, daß die Bekleidung der Ämter unter ihnen abwechsle, früher der Natur der Sache entsprechend darauf gerichtet, daß man abwechselnd dem Staate diene und daß für das Wohl eines jeden auch wieder einmal ein anderer sorge, gleichwie er selbst vorher als Regierender für das Beste dieses anderen gesorgt habe; jetzt aber möchte jeder wegen der Vorteile, die ihm aus Staatsmitteln durch sein Amt erwachsen, gern für immer an der Regierung bleiben, und es ist gerade, wie wenn die Leute alle kränklich wären und der Besitz der Ämter ihnen die Gesundheit brächte, denn dann würden sie sich auch wohl nicht mehr um sie reißen. (c) Hieraus erhellt denn nun, daß alle diejenigen Verfassungen, welche den gemeinsamen Nutzen im Auge haben, richtige sind nach dem Recht (díkaion) schlechthin, diejenigen dagegen, welche nur den eigenen Vorteil der Regierenden, fehlerhafte und sämtlich bloße Abarten der richtigen Verfassungen, denn sie sind despotisch, während doch der Staat eine Gemeinschaft von freien Leuten ist.
7. Verfassungsformen
(1.) An diese Feststellungen schließt sich nun unmittelbar jene Betrachtung selber an, wieviele Verfassungen es gibt und welches dieselben sind. Und zwar beginnen wir dabei mit den richtigen Verfassungen, denn sind diese erst festgestellt, so müssen sich daraus auch ihre Abarten ergeben. Da nun Staatsverfassung (politeía) und Staatsregierung (políteuma) ein und dasselbe bedeuten, die Staatsregierung aber die oberste Gewalt (kýrion) der Staaten (pólis) ist, so muß diese Gewalt entweder von einem oder von wenigen oder von der Mehrzahl des Volkes repräsentiert werden. Wenn dieser eine oder diese wenigen oder die Mehrzahl des Volkes bei ihrer Regierung das allgemeine Wohl im Auge haben, so ergeben sich in allen drei Fällen richtige Verfassungen, wenn aber nur den eigenen Nutzen des einen oder der wenigen oder der großen Mehrzahl, dann bloße Abarten, denn entweder verdienen die Teilnehmer gar nicht den Namen von Staatsbürgern (polítes), oder aber sie müssen auch alle Anteil an den Vorteilen haben. Diejenige Art von Alleinherrschaft nun aber, welche auf das Gemeinwohl ihr Augenmerk richtet, pflegen wir Königtum (basileía) zu nennen, die Herrschaft von wenigen, aber doch immer von mehr als einem Aristokratie, sei es nun, daß dies heißen soll Herrschaft der Besten oder daß es bedeutet, ihr Zweck sei das Beste des Staates und der Gemeinschaft; wenn endlich die Mehrzahl des Volkes den Staat mit Rücksicht auf das Gemeinwohl verwaltet, so wird dies mit dem gemeinsamen Namen aller Verfassungen, nämlich Politeía benannt. Dies mit Recht: denn daß ein einzelner oder eine Minderzahl sich durch besondere Tugend (areté) auszeichnet, kann leicht vorkommen, daß aber eine größere Zahl es zu jeder Art von Tugend im strengen Sinne bringt, ist schon eine schwierige Sache, und am ehesten ist dies noch möglich in bezug auf die kriegerische Tüchtigkeit, denn das ist eine Tugend der Massen. Daher ist auf Grund dieser Verfassung die oberste Staatsgewalt bei der wehrhaften Bevölkerung, und diejenigen, welche an den Staatsrechten teilhaben, sind hier die Waffentragenden.
(2.) Die Abarten der genannten Verfassungen sind nun aber: vom Königtum die Tyrannis, von der Aristokratie die Oligarchie und von der Politeía die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine solche Art von Alleinherrschaft, welche lediglich zum Vorteil des Monarchen, Oligarchie eine solche Herrschaft, welche zu dem der Reichen, und Demokratie eine solche, welche zu dem der Armen geführt wird, und auf das, was dem ganzen Gemeinwesen frommt, sieht keine von ihnen.
Aristoteles: Politik III, 1278b6-1279b10. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl mit Einleitung, Bibliographie und zusätzlichen Anmerkungen von Wolfgang Kullmann. © Reinbek: Rowohlt 1994, S. 139-142
Interpretation
Im Unterschied zu Platon musste Aristoteles (384-322 v. Chr.) nicht ganz von vorne anfangen, er konnte an die Vorgaben seines Vorgängers und Lehrers anknüpfen und auf den von ihm gelegten Fundamenten aufbauen. Er musste sich nicht erst durch die Flut konkurrierender Meinungen durcharbeiten, sondern konnte die einzelnen Wissensgebiete durch kritische Analyse der platonischen Dialoge systematisieren. Aristoteles wurde 384 v. Chr. in Stageira, einer kleinen Polis auf der Chalkidike, geboren. Er war ca. 43 Jahre jünger als Platon, kam 367 v. Chr., als Siebzehnjähriger, nach Athen und trat in Platons Akademie ein, der er zwanzig Jahre lang als Lernender und Lehrender angehörte. Nach Platons Tod (347) verließ er Athen und zog auf die Insel Lesbos, wo die Zusammenarbeit mit Theophrast, seinem bedeutendsten Schüler, begann. Dieser gründete später den Peripatos, die aristotelische Schule in Athen. Aristoteles kehrte 335/34 nach Athen zurück und verließ es erst wieder 323/22, nach Alexanders des Großen und kurz vor seinem eigenen Tod (322). Zwar war der größte Teil seines Werkes – einschließlich der praktischen Philosophie – lange Zeit verschollen, doch wurde es im späten Mittelalter über arabische Quellen (Avicenna und Averroës) erschlossen und in der Folge zur Basis des europäischen Politikdenkens, das sich mit seiner Hilfe aus den Fesseln des christlichen Glaubens emanzipierte. Vor allem die Ethik und die Politik erzielten eine gewaltige Wirkung, da sie dem menschlichen Leben eine neue Würde und den sozialen und politischen Institutionen – von der Familie über die Nachbarschaft und das Dorf bis hin zur Stadt und zum Reich – eine Eigenbedeutung und -berechtigung zuerkannten, die ihnen im Rahmen der christlichen Theologie bestritten worden war.
Die Politik des Aristoteles ist Teil der praktischen Philosophie und Fortsetzung der Ethik. Sie fragt nach den Bedingungen und Formen, Regeln und Normen des menschlichen Handelns, um herauszufinden, was für den Menschen das Gute ist (anthrópinon agathón). Gut für den Menschen ist ein glückliches Leben, weshalb sich die praktische Philosophie auf die Frage nach dem Weg zum Glück bzw. zur Glückseligkeit (eudaimonía) konzentriert. Im Unterschied zu Platon geht Aristoteles dabei nicht von der Idee des Guten aus, sondern von der empirischen Realität. Er will kein Ideal begründen, sondern untersuchen, welche Möglichkeiten sich unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen eröffnen. Zu diesem Zweck zerschlägt er den Begründungszusammenhang der Philosophie Platons und legt ihn in seine Einzelbestandteile auseinander, die er dann neu sortiert und komponiert. Während nach Platon allein den ewigen und unveränderlichen Ideen wahres Sein zukommt und die empirischen Erscheinungen als bloße – mehr oder weniger gelungene oder missratene – Abbilder derselben gelten, verwirft Aristoteles die Ideenlehre. Er ist zwar ebenfalls überzeugt davon, dass die Wissenschaft nicht bei der ungeordneten Vielfalt der einzelnen und unverbundenen Erfahrungstatsachen stehen bleiben kann, sondern das ihnen Gemeinsame und Allgemeine zu erkennen hat, doch sucht er dieses nicht hinter, sondern in den Einzeldingen. Er findet es in der ewigen „Form“, die als schaffendes Prinzip (Entelechie) den Primat über die Materie besitzt und ihr Gestalt, Bewegung und Veränderung vermittelt (vgl. Metaphysik I (A), 9; II (B), 3, 4; XIII (M), 4).
Hatte Platon in der Politeia eine auf philosophischer Einsicht basierte vollkommene Stadt konstruiert, die ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Interessen der Einzelnen die Idee des Guten und die Prinzipien der Gerechtigkeit realisiert, so geht Aristoteles aus vom Streben der Menschen nach Glückseligkeit, das nicht einem Höheren untergeordnet, sondern selbst der höchste Lebenszweck ist. Die von den Ideen verbürgte Sicherheit ist entfallen, der Mensch wird nicht mehr von der vorgegebenen Gesamtordnung der Polis behütet, er hat sie in Kooperation mit seinen Mitbürgern selbst hervorzubringen. Demzufolge erhalten die ethischen und dianoetischen, das heißt verstandesmäßigen Tugenden wieder einen anderen, höheren Stellenwert. Sie sind keine Charaktereigenschaft irgendwelcher „Wächter“, sondern müssen von den Bürgern entwickelt werden und zeichnen verantwortlich für das Gelingen der politischen Selbstverwaltung. Während die verstandesmäßigen Tugenden (Wissenschaft, Technik, Einsicht, Klugheit, Vernunft, Weisheit) zum größten Teil durch Belehrung entstehen und wachsen, resultieren die ethischen aus Gewöhnung und Sozialisation (Nikomachische Ethik II.1. 1103a14 ff.). Aristoteles beschränkt sich bei ihrer Analyse nicht auf die vier von Platon erörterten Kardinaltugenden, sondern nimmt das Gesamtspektrum aller möglichen Charaktereigenschaften in den Blick. Er gelangt deshalb zu einer präziseren Beschreibung und bestimmt die erforderlichen Tugenden jeweils als Mittelmaß zwischen zwei Extremen (II, 1104a20 ff.; III, 1115a5 ff.; IV, 1119b21 ff.). Tapferkeit und Besonnenheit werden als rechte Mitte (mesótes) zwischen Tollkühnheit und Feigheit, Zügellosigkeit und Stumpfheit bestimmt, die Freigebigkeit und der Stolz als Mitte zwischen Geiz und Verschwendung bzw. Eitelkeit und Kleinmut, die Sanftmut als „Mitte beim Zorn“ usw. Auch die Gerechtigkeit wird „mesotisiert“ und als Mitte zwischen Unrechttun und Unrechtleiden begriffen (V. 9. 1133b30 ff.). Da diese Bestimmung aber unzureichend bleibt, unternimmt Aristoteles eine gründliche und weit ausgreifende Analyse (V, 1129a3 ff.), die bis heute die ethischen Debatten und den Gerechtigkeitsdiskurs belebt.
Aristoteles begreift den Menschen als zôon lógon echón, als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, sowie als zôon politikón, als ein politisches Lebewesen, das seinen Sinn und Zweck (télos) nicht in sich selbst, sondern nur in der Interaktion und Kooperation mit seinesgleichen finden kann (Politik I, 1253a2 f.; III, 1278b19 ff.). Ein sinnerfülltes Leben lässt sich demzufolge nicht durch Rückzug von den anderen führen, sondern nur im Zusammenwirken mit ihnen. Der freie Bürger soll seinen Lebenssinn nicht in der Arbeit (poíesis), der Herstellung von Gütern oder Werken, bzw. in der Akkumulation und Konsumtion von Reichtum und Besitz suchen und finden, sondern einerseits in der Kontemplation, der theoretischen Betrachtung der Welt, andererseits in der Praxis, im kollektiven Handeln, in der Gemeinschaft, der Kommunikation und Interaktion mit anderen, die sich – wie Aristoteles betont – von der Poiesis, dem Herstellen und Machen, dadurch unterscheidet, dass sie ihren Zweck in sich selbst trägt, während jene Ziele verfolgt, die außerhalb der Tätigkeit gelegen sind (Nikomachische Ethik VI, 1139a36 ff., 1140b6). Das politische Engagement, die Mitwirkung an der Selbstverwaltung der Polis und ihren Unterabteilungen, gilt folglich als Selbstzweck und als unverzichtbares Moment eines geglückten oder glücklichen Lebens (Politik VII, 1324a5 ff.).
Die Polis – als agierende und interagierende Bürgerschaft – realisiert bei Aristoteles jene Gesetzesherrschaft oder Nomokratie, die Platon in seinen späten Dialogen, im Politikos und in den Nomoi, begründet hatte. Der Akzent liegt nunmehr eindeutig auf der Ordnung, auf den Ämtern und Institutionen, die dem richtigen und guten Leben dienen sollen. Im Zentrum der Politik steht die Politeía, die Verfassung und die Ämterordnung. Als Bürger gilt jeder, der an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat (Politik III, 1275b18 ff.). Ausgeschlossen bleiben Frauen und Sklaven. Hatte Platon noch die „ökonomische“ Freiheit, den Warentausch und das Privateigentum, aus der guten Polis und der Idee der Gerechtigkeit verbannt, da sie die Gefahr, ja die Notwendigkeit des Betruges in sich birgt, so wirft Aristoteles diesen Begründungszusammenhang über Bord, um zu zeigen, dass es neben der universalen Gerechtigkeit noch partikulare Formen derselben gibt: die distributive (austeilende), die kommutative (ordnende) und die ausgleichende oder wiedervergeltende, kurz: die Tausch-Gerechtigkeit (Nikomachische Ethik V. 4. 1130a15 ff.; Politik I, 1256b40 ff.). In diesem Rahmen entwickelt Aristoteles den Gedanken der Billigkeit (epieíkeia), der auch in heutigen Diskussionen fortwirkt. Zugleich gelangt er zur Idee der Gleichheit, die aber nicht auf die numerische, sondern auf die qualitative Gleichheit der Menschen zielt, die von ihrer jeweiligen Würde und Leistung abhängt. Das Wesen der Gerechtigkeit besteht demnach in der Gleichbehandlung, der Fürsorge und im Sich-Kümmern um die anderen Menschen.
Platons Lehre, wonach das höchste Ziel einer vernünftig eingerichteten Polis die größtmögliche Einheit und deshalb die Weiber- und Kindergemeinschaft nötig sei, wird einer scharfen Kritik unterzogen (Politik II, 1261a10 ff.). Aristoteles insistiert auf der Trennung des Öffentlichen und Privaten. Die Polis dürfe nicht als große Familie bzw. als Haushalt (oîkos) missverstanden werden. Ihr Wesen sei nicht Einheit, sondern Vielheit, sie müsse die Unterschiede zwischen den einzelnen Familien respektieren und dürfe ihre Freiheit nicht beschneiden (II, 1261a16 ff.). Das Endziel der Verfassung sei die Glückseligkeit der Bürger, die in der vollkommenen Verwirklichung und Anwendung der Tugend (areté) besteht (VII, 1332a5 ff.). Die Tugend aber sei bedingt durch die Natur (phýsis), die Gewöhnung (éthos) und die Vernunft (lógos). Zwar sind einzelne zur Tüchtigkeit erforderliche Charaktereigenschaften durch die Erbanlagen festgelegt, doch müssen die meisten erst durch Sozialisation und Lernprozesse aktiv erworben werden. Ihrer Entfaltung hat die Erziehung in der Polis zu dienen (VII, 1332b12 ff.).
Obgleich die Prinzipien seiner Ethik den Gedanken der Demokratie nahe legen, war Aristoteles ein Gegner und Verächter derselben. Ähnlich wie zuvor Platon (Politikos, 291 c ff., 301 a ff., 303 a, b), unterscheidet auch er sechs Regierungsformen, die sich aus der Verdoppelung der traditionellen Trias ergeben. Neben die numerische setzt er eine normative Unterscheidung, indem er Monarchie, Aristokratie und Demokratie nach ihrer Qualität befragt und in sich differenziert (siehe den obigen Auszug). Das Qualitätsmerkmal resultiert aus der Art, wie die Regentschaft jeweils ausgeübt wird. Ist das Tun der Regenten am Gemeinwohl orientiert, so ist die Regierung „gut“. Orientiert sie sich aber nur am eigenen Nutzen der Regenten selbst, so ist sie „schlecht“. Entsprechend ergibt sich folgendes Schema:
gute Formen | schlechte Formen |
Monarchie | Tyrannis |
Aristokratie | Oligarchie |
Politie | Demokratie |
Diese Ordnungen müssen nicht, wie Platon meinte, in einem endlosen Kreislauf ineinander über- oder auseinander hervorgehen. Vielmehr gelangt Aristoteles bei der Analyse der Umwälzungen (metabolé) der Verfassungen (politeía) zu einer Kritik an Platons Verfallstheorie (Politik V,12,1312b11 ff.). Eine Regierungsform verwandelt sich nicht zwangsläufig in die ihr nächstliegende. Sie kann durch alle möglichen abgelöst werden. Die Transformation der Aristokratie in die Oligarchie erfolge ferner nicht dadurch, dass die Regenten geld- und wuchersüchtig werden, sondern weil die Reichen es nicht für richtig halten, dass die Besitzlosen die gleichen politischen Rechte haben (Politik V,1316b1 ff.). Die Monarchie gilt als eine gute oder richtige Verfassungsform, sofern der Alleinregent sich an die geltenden Gesetze bindet und das Wohlergehen der Allgemeinheit im Auge hat. Es sei aber besser, wenn die Entscheidungen der Regierung von einer Mehrzahl guter Männer getroffen werden als von einem Einzelnen, vorausgesetzt, dass diese Männer nicht gegen das Gesetz verstoßen (Politik III,15,1286a25 ff.). Das konstitutive Prinzip der Aristokratie erblickt Aristoteles in der Tugend, das der Oligarchie im Reichtum. Die Demokratie/Politie hingegen basiere auf der Freiheit (Politik IV,8,1294a10 f.). Da Aristoteles den ärmeren Schichten unterstellt, sie würden blindlings ihren Volksführern folgen, die ihrerseits nur ihre eigenen Interessen verfolgen und die Wohlhabenden übervorteilen und unterdrücken (Politik V,9,1310a2 ff.), sucht er nach einer Ordnung, in der die Interessen Aller gleichermaßen zur Geltung kommen, in der also ein Ausgleich möglich wird. Präferiert wird die Politie, in der die wenigen Reichen insgesamt so viel Gewicht haben wie die vielen Armen (Zensusstimmrecht) und alle Bürger sich im Sinne eines Rotationsprinzips in der Rolle der Regenten und Regierten abwechseln (I,12,1259b4 ff.; VI,2,1317b1). Weil alle „reinen“ Formen die Gefahr des Abgleitens in ihr negatives Gegenüber in sich bergen, empfiehlt Aristoteles den Völkern, sie mögen die einzelnen Prinzipien durch einander relativieren und Mischverfassungen – er nennt sie ebenfalls Politie – institutionalisieren.
Dieser Vorschlag wurde in der Folgezeit beherzigt. Zwar wurden die demokratischen Einrichtungen in Athen beibehalten, doch wurden sie zusehends ihrer Substanz beraubt. Die politische Macht geriet in die Hände der alten Eliten, die Masse der Armen verzichtete gegen Ende des 4. Jahrhunderts nach und nach auf ihr Bürgerrecht. Sie zog sich freiwillig aus der Politik zurück und übertrug die städtische Macht den wenigen Reichen. Die Demokratie verwandelte sich in die Oligarchie der Honoratioren. Der antike Euergetismus, die Armenfürsorge der Wohlhabenden, ersetzte die politische Partizipation. Die Rolle des Monarchen in der praktizierten Mischverfassung übernahm der einstige Zögling des Aristoteles, der Makedonier Alexander der Große, der die Ära der autonomen Poleis 338 v. Chr. beendete, indem er sie unterwarf und seinem Weltreich eingliederte. Die Idee der Mischverfassung blieb jedoch lebendig. Sie wurde von den Peripatetikern hochgehalten und gelangte von ihnen zu den Anhängern und Verteidigern der römischen Republik (Polybios, Cicero). Auch in der Moderne wurde dem aristotelischen Ratschlag entsprochen. In den repräsentativen Demokratien westlichen Typs wurden Verfassungen institutionalisiert, in denen sich die drei Regierungsformen gegenseitig relativieren und balancieren: alle Bürger („Demokratie“) wählen einige ins Parlament („Aristokratie“), die wiederum einen zum Kanzler oder Präsidenten berufen, der alleine die Richtlinien der Politik bestimmt („Monarchie“). In Präsidialsystemen erfolgt auch noch die Wahl des „Monarchen“ durch das souveräne Volk. Es handelt sich folglich um Mischverfassungen, die im Sinne des Aristoteles die drei gegensätzlichen Prinzipien miteinander verschränken und konstitutionell begrenzen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht mehr um Poleis, sondern um Staaten, die mithilfe von Bürokratien und stehenden Heeren das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit ausüben.