Kitabı oku: «Die Früchte der Tränen», sayfa 4
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Ich weiß nicht, was du dir vorgestellt hast, sagte Hedwig, als ich in ihrem Wohnzimmer in Nürnberg saß, aber was sollte diese Frau für ein Interesse daran gehabt haben, mit dir in Verbindung zu treten?
Ich hatte ihr von dem Telefongespräch in Waldkraiburg und von der ablehnenden Reaktion der Frau aus dem Adlergebirge erzählt.
Wenn es sich um eine nahe Verwandtschaft gehandelt hätte, sagte Hedwig, aber nur, weil diese Frau so heißt wie du?
Wahrscheinlich, sagte sie, ist sie mißtrauisch gewesen und hat überhaupt nicht verstanden, was du von ihr willst.
Ich weiß selbst nicht, was ich von ihr gewollt habe, sagte ich.
Alles, was du über die Landschaft und über die Leute aus dem Adlergebirge wissen willst, kannst du wahrscheinlich aus Büchern erfahren, sagte Hedwig. Man ruft keine wildfremden Leute an, wenn man keine guten Gründe dafür hat.
Da hast du wahrscheinlich recht, sagte ich.
Spurensuche, die Sucht, Altes und Gegenwärtiges zu einem Ganzen zu fügen, wie sollte ich das meiner Tante, wie sollte ich es mir selbst erklären?
Im Museum der Adlergebirgler, in Waldkraiburg, hatte ich alte Kalender gesehen, in einem dieser Kalender ein Kinderlied, ich hatte es wieder und wieder gelesen, der Leiter des Museums, der die Sammlung zusammengetragen hat, hat mir den Kalender geschenkt. Die Melodie, zu der es gesungen worden ist, kennt heute niemand mehr.
Schloof, Kendla, schloof,
dr Voatr hitt de Schoof,
schloof Kendla, sisse,
doas Schoof hoot weiße Fisse,
schloof ock, Kendla, lange,
dr Tuud hockt off dr Stange,
a hood a lemta Jackla oa
on schmeißt gebacken Bärna roa.
Hat dieses Liedchen, frage ich mich, das in einer Mundart abgedruckt worden ist, die niemand von den Jungen heute noch wirklich sprechen kann, Anna Josefa, die Großmutter meines Großvaters väterlicherseits, ihren zehn Kindern als Schlaflied vorgesungen? Hat ihr Sohn Josef es seinen eigenen Kindern aus dem Dorf Tschenkowitz nach Schmole mitgebracht, wo er Färber und Leinendrucker gewesen ist? Der Tod hockt auf der Stange und hat ein Jäcklein aus Leinen an, das in der alten Heimat gesponnen und gewebt worden ist, manche von denen, die heute auf dem Waldfriedhof liegen, sind noch in diesem Leinen begraben worden. Die Jungen aber kaufen ihre Hemden in bayrischen Geschäften, sie wissen nicht mehr, wie der Flachs auf den kargen Äckern ihrer Großeltern gediehen ist, wie er sich gegen den Spätsommer zu goldbraun färbte, wie die Körner der runden Samenkapseln schmeckten, wenn man sie aus der Kinderhand leckte. Aber auch meine Kinder wissen das ja nicht mehr.
Fünfzig Adlergebirgler liegen schon auf dem Waldfriedhof, früher hat man die Herkunftsorte auf die Grabsteine geschrieben, die Jungen tun das nicht mehr.
Ich, Anna, Urenkelin Josefs, der Färber in Schmole gewesen ist und ein Sohn Johann Wenzels aus Tschenkowitz war, versuche mir zu erklären, warum mich das mit Trauer erfüllt.
Heute interessiert sich niemand mehr für den anderen, sagte Hedwig, heute leben die Leute alle für sich, sie schließen sich ab, sie wohnen miteinander Tür an Tür und wollen doch nichts voneinander wissen. Früher ist das anders gewesen. Früher hat einer den anderen gebraucht, da war einer auf den anderen angewiesen. Es hat nicht so viele Einsame gegeben wie heute, weil einfach zu wenig Platz war, weil die Leute aneinander-gedrängt leben mußten, weil diese entsetzliche Wohnungsnot war.
Die Not überhaupt, sagte Hedwig, sie hat dazu beigetragen, daß die Menschen nicht so einsam wie heute gewesen sind. Ich meine die Zeit nach dem Krieg, sagte Hedwig. Das hat länger gedauert, als man es heute wahrhaben will, hier bei uns jedenfalls hat es sehr lang gedauert. Bis es erst einmal so weit gewesen ist, daß man von einem Dorf, in das man eingewiesen worden ist, in eine größere Stadt ziehen durfte. Bis man die Zuzugsgenehmigung bekommen hat. Und wenn man sie dann endlich hatte, wenn man sich einen Raum suchen durfte, in den man einziehen konnte, bis man dann einen solchen Raum überhaupt gefunden hat.
Uns ist das erst neunundfünfzig gelungen.
(Neunundfünfzig waren Großmutter Anna und Großvater Josef schon tot, in fremder Erde begraben, ohne die Heimat wiedergesehen zu haben.)
Der Mann, der uns damals zwei Zimmer in seiner Nürnberger Wohnung vermietet hat, ist freilich sehr einsam gewesen, sagte Hedwig. Sie erzählte mir die Geschichte von Karl Kodnik, der überallhin, wo es ihm möglich war, seinen Namen schrieb.
Auf jedes Ei, das er gekocht hat, sagte Hedwig, schrieb er: gekocht am soundsovielten, dann das Monogramm, K. K., Karl Kodnik. Neben den Lichtschalter schrieb er mit Tintenblei: nach rechts drehen. Karl Kodnik. Auf den Geschirrschrank schrieb er: Geschirr. Karl Kodnik. Wenn er ausging, legte er einen Zettel auf den Küchentisch: bin ausgegangen, Karl Kodnik. Überall schrieb er seinen Namen an, weil ihn sonst niemand geschrieben hat, sagte Hedwig, weil ihn auch niemand ausgesprochen hat, weil ihn niemand bei seinem Namen gerufen hat. Er hat keine Kinder gehabt, keine Verwandten oder Bekannten, er hat überhaupt niemals Post bekommen. Er hat mich oft mit allen möglichen Ausreden in der Küche zurückgehalten, nur um mit mir, der Flüchtlingsfrau, sprechen zu können. Er war schon sehr alt, aber das war nicht der Grund, er hat uns auch später noch, als wir ans andere Ende von Nürnberg gezogen sind, oft besucht, auch dann noch, als er nur noch auf Krücken gehen konnte.
Nachdem mir Hedwig die Geschichte von Karl Kodnik erzählt hatte, erzählte ich ihr die Geschichte des alten Schmieds von Mühlfraun. Als ich damit zu Ende gekommen war, weinte sie.
Du könntest mit dem Wagen nach Bubenreuth fahren, sagte Hedwig, das ist nicht weit von hier, gleich bei Erlangen, es wird dich interessieren. In Bubenreuth sind die Geigenbauer aus Schönbach zu Hause.
Nur versprich mir, daß du nicht wieder im Telefonbuch nach Verwandten suchst.
Im Egerland hatten wir keine Verwandten, sagte ich.
Auch die Geigenbauer von Schönbach im Egerland waren, wie die Adlergebirgler, auseinandergerissen, in verschiedene Richtungen verstreut worden. Auch sie brauchten erst wieder einen Ort, um sich zu sammeln. Sie waren aufeinander angewiesen, was die Arbeit betraf, in der alten Heimat hatten sie einander in die Hände gearbeitet, jeder war ein Spezialist auf seinem Gebiet gewesen, die Meistergeigen aber wurden von einem Geigenbauer in allen Teilen allein erzeugt.
Nun saßen sie in verschiedenen Gegenden Deutschlands, die Boden- und die Deckenmacher, die Boden-und Deckenleimer, die Schachtelmacher, die Korpusmacher, die Griffbretterzeuger, die Wirbeldreher und die Stegmacher, die Saitenspinner und die Bogenmacher, die Geigenbauer, welche die Teile zusammensetzten, die fertigen Instrumente zuletzt lackierten und polierten. Nur einen Teil von ihnen hatte es in ein Lager bei Erlangen verschlagen, dort saßen sie jetzt, fingen einzeln wieder in bescheidenstem Rahmen zu arbeiten an, hofften im übrigen, daß man ihnen die gemeinsame Ansiedlung eines Tages doch noch gestatten würde.
WIR BRAUCHEN KEINE DEVISEN, WIR BRAUCHEN UNSERE WIESEN, hatte man in dem Ort Möhrendorf gerufen, als in einer Gemeinderatssitzung die wirtschaftliche Bedeutung als Argument für eine mögliche Ansiedlung in die Waagschale geworfen worden war.
Seit Jahrhunderten hatten sie Geigen hergestellt, und sie waren für die Qualität ihrer Instrumente in der Welt bekannt und berühmt gewesen, nun standen sie als Bettler vor Leuten, die nichts von Geigen verstanden und zu denen ihr Ruf nicht gedrungen war. Niemand kümmerte sich um sie, man wies ihnen elende, halb verfallene Baracken zu, sie mußten die wertvollen Hölzer, die sie im Fluchtgepäck mitgenommen hatten, zur Ausbesserung der Löcher in den Barackenwänden verwenden.
WAS ABER EIN RICHTIGER GEIGENBAUER IST, DER LÄSST DAS GEIGENBAUEN NICHT, sagte der Bürgermeister von Bubenreuth, als ich in seinem Wohnzimmer saß. Er war, als er hierher kam, elf Jahre alt. Schon in den Baracken fingen sie wieder mit ihrer Arbeit an. In einem Stall schmiedete ein Werkzeugmacher aus Eisenstücken, die er gesammelt hatte, die ersten Werkzeuge. Tag und Nacht arbeitete er, es waren harte Jahre, ABER JETZT HABEN WIR WIEDER EIN DAHEIM, UND WIR SIND DANKBAR DAFÜR.
Nein, niemand wollte diese Flüchtlinge haben, niemand wollte sie aufnehmen, man verglich sie mit den Besenbindern eines Nachbardorfes, das war das Erbärmlichste, was an Vergleich möglich war, denn es bedeutete, daß sie nicht nur arm waren, sondern daß man ihnen nicht traute.
Scheinbar kleine Begebenheiten, die verletzt haben, sind im Gedächtnis geblieben. Wie die Einheimischen zum Beispiel bei den Fronleichnamsprozessionen in der Reihe aufgeschlossen haben, GROSSER GOTT, WIR LOBEN DICH, wenn sich ein Vertriebener einreihen wollte. WIR SIND MENSCHEN DRITTER KLASSE GEWESEN.
Die nur 695 Einwohner des Nachbardorfes Bubenreuth hatten damals einen klugen Bürgermeister, er schätzte die Situation richtig ein, die Bewohner seines Dorfes schlossen sich seiner Meinung an.
Ob es damit zu tun hatte, daß die Bubenreuther vielleicht musikalischer waren als die Bewohner der umliegenden Gemeinden? (Es ist immerhin vorstellbar, daß es so gewesen ist.) Oder haben sie nur die Argumente begriffen, mit denen man ihnen die Vorteile einer positiven Entscheidung dargelegt hat? (Auch wenn dies vorwiegend der Fall gewesen sein sollte, wären sie zu loben, denn sie haben zweifellos richtig entschieden.)
Großvater Josef, der eine besondere Beziehung zu Musik hatte und seine Flöte im Fluchtgepäck mitgenommen hatte, las die Berichte von der Grundsteinlegung zur neuen Siedlung in Bubenreuth, die am 20. Oktober 1949 stattfand und über die ausführlich geschrieben wurde, er schnitt sie aus dem Erlanger Tageblatt aus und bewahrte sie auf. Den Satz, der bei der Grundsteinlegung gesprochen wurde, las er den Seinen vor: GOTT ZUR EHRE, DEN GEIGENBAUERN ZUR FREUDE, ZUM GLÜCK FÜR BAYERN UND REICH.
Vergelt’s Gott, sagte die kleine Großmutter Anna gerührt, daß man unseren Leuten wenigstens erlaubt, hier zu zeigen, was sie können.
Die meisten der Vertriebenen aus den im Süden Mährens gelegenen Gebieten waren fromm, sie dankten ihrem Herrgott, wenn ihnen etwas Gutes widerfuhr.
Aber, fügte sie nachdenklich hinzu, was wird aus dieser Siedlung, wenn die Geigenbauer wieder nach Schönbach heimgekehrt sind?
(Am Beginn des großen WUNDERS trugen sich die kleinen Wunder zu, sie ereigneten sich, eines hier, eines dort. Die Not hatte in den aus ihrer Heimat Vertriebenen Energien freigesetzt, die dazu beitrugen, die Länder, in die man sie gebracht hatte, zu verändern. Ihre Kraft mischte sich unter die in diesen Ländern vorhandenen Kräfte. Mit dem verzweifelten Wunsch, eine neue Heimat zu schaffen, in der man wieder leben, in der man arbeiten konnte, halfen sie wesentlich mit, die Heimat der anderen, denen dieses Land gehörte, aus dem Schutt und aus den Trümmern zu graben. Dies ist einer der Gründe dafür, daß von den Anfängen heute immer noch gesprochen wird.)
JEDE GEIGE HAT EINEN ANDEREN KLANG. Das wußten die Schönbacher schon, als in Italien die berühmten Meister Amati, Stradivarius und Guanerius wirkten. Schon im 16. Jahrhundert wurden im Egerland Geigen gebaut, eine mehrjährige Wanderzeit war den Gesellen streng vorgeschrieben, sie vervollkommneten ihre Kunst bei den italienischen Meistern, der eine oder der andere von ihnen ist vielleicht in Italien geblieben, unter den Lautenmachern von Brescia und Bologna sollen Schönbacher Namen vorgekommen sein. Die älteste im Egerland hergestellte Bratsche, 1664 gebaut von Johann Adam Pöbel in Bruck, einem zur Pfarre Schönbach gehörigen Dorf, wird im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg aufbewahrt.
Durch den freundlichen Ort Bubenreuth bei Erlangen gehend, habe ich, Anna, die ersten Häuser gesehen, die dort gebaut worden sind. Ich bin im Wohnzimmer des Bürgermeisters gesessen, das zugleich als Arbeitszimmer gebaut worden ist, wie es daheim in Schönbach so üblich war, ich habe mir die Geschichte der Geigenbauer aus Schönbach erzählen lassen.
Dankbar gedenkt man dort der Leute, die damals geholfen haben. Immer wieder wird im Zusammenhang mit dem Bau der Siedlung der Name eines Landrats genannt, Höhnekopp habe er geheißen, er habe alles vorangetrieben und zustande gebracht. Auch der Name des Bürgermeisters von Altbubenreuth, Paulus, der ein großes Stück Grund zur Verfügung stellte und letzten Endes für die Ansiedlung war, ist unvergessen geblieben. Das Geld habe die St.-Josephs-Stiftung gegeben.
Der Bürgermeister von Bubenreuth ist Geigenbauermeister, seine Instrumente gehen nach England und Korea, nach Japan und in die Schweiz. Die Frau Bürgermeisterin ist perfekt im Lackieren. Und die Gitarren, die jener Meister baut, der mich durch das Museum führte, gehören zu den besten der Welt.
Noch vor Weihnachten neunundvierzig zogen die ersten Familien in die neu erbauten Wohnhäuser ein. Bald arbeiteten sie wieder, die Boden- und Deckenmacher lieferten die Böden und Decken, die Schachtelmacher leimten die Zwischenteile auf die Böden auf, die Korpusmacher fügten die Decken hinzu, die Griffbrett- und die Saitenhaltermacher, Hals- und Schneckenschnitzer, Wirbeldreher und Stegschnitzer lieferten die von ihnen hergestellten Teile, die Geigenbauer endlich fügten die Teile zusammen, jeder arbeitete in seinem eigenen Haus. Man baute auch das Cello, die Bratsche, den Streichbaß, die Laute, man baute auch Zupfinstrumente, vor allem die immer moderner werdenden Gitarren.
Ja, auch heute noch werden Geigen nach dieser alten Methode in Arbeitsteilung gebaut, man kann nach Bubenreuth fahren und den Handwerkern in ihren Werkstätten zusehen, das sind aber vor allem die Schülergeigen, die auf diese Weise entstehen.
Wer eine Meistergeige besitzen will, kauft sie bei einem Geigenbauermeister seines Vertrauens, direkt in Bubenreuth.
Sechzig Meister leben und arbeiten in Bubenreuth und in den nahe gelegenen Orten, auch die Bogenbauer gehören dazu.
Auch Yehudi Menuhin hat eine Meistergeige aus Bubenreuth gekauft.
Die Schönbacherstraße, die Sudetenstraße, der Werkstättenweg. Als ich, Anna, in Bubenreuth bei Erlangen war, marschierte abends ein langer Zug Männer und Frauen in egerländischer Tracht durch die Gassen hinaus aus dem Ort, um die Sonnenwende zu feiern. Ich blieb stehen auf einem kleinen, von Bäumen überschatteten Platz, eine riesige, uralte Eiche breitete ihre Äste, dort steht der Geigenbauer, wie einst in Schönbach, er steht auf einer steinernen Weltkugel, die auf steinernen Schnecken ruht, er hält die bronzene Geige nicht so hoch, wie sein Vorgänger in der alten Heimat, er blickt nicht so selbstsicher geradeaus ins Land hinein, er hat den Blick gesenkt und blickt versonnen auf das Instrument herab, das in seinen Händen liegt.
Hier ist meine Geige, scheint der Mann auf dem Denkmal in Schönbach zu sagen, ich habe sie für euch gebaut, euch zur Freude, spielt sie, tanzt zu ihrer Musik. Sein Nachfolger in Bubenreuth bei Erlangen scheint nicht an Tanz zu denken, ein inniger Ausdruck liegt über seinem Gesicht und in seiner Haltung. Hier ist meine Geige, scheint er zu sagen, ich gebe sie euch und vertraue darauf, daß ihr sie lieben werdet, wie ich sie liebe, die Arbeit an ihr hat mir Heimat gegeben in einem Land, in das ich als ein Fremder gekommen bin. Nicht alle Geigenbauer hat man aus Schönbach vertrieben, einige hat man nicht weggehen lassen, auch wenn sie lieber mit den anderen gegangen wären, man hat sie zur Weitergabe ihrer Kenntnisse gebraucht.
Das Schönbacher Geigenbauerdenkmal steht noch, sagte mir ein Mann in Bubenreuth.
Ob die Aufschrift darauf noch deutsch ist?
Das weiß ich nicht, sagte der Mann. Schönbach, das immer deutsch gewesen sei, heiße jetzt Luby. Das soll Zarge heißen, sagte er.
(Dej mi rot, dej mi blau, sollen die tschechischen Arbeiter in den ehemals deutschen Betrieben der Glasstadt Gablonz noch lange nach der Vertreibung der Deutschen gesagt, sie sollen die deutschen Worte für sich übernommen haben.)
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Natürlich werde ich kommen, hatte ich gesagt und Judiths Beerdigung in Nürnberg gemeint. Als wir beide den Telefonhörer wieder aufgelegt hatten, Christian in Frankfurt und ich in Wien, dachte ich über diese spontane Zusage nach. Jahrzehntelang hatte ich nichts mehr von Judith gehört, ich hatte nicht einmal ihre Adresse gekannt, sie hatte mir keine Briefe geschrieben. War das, was uns verbunden hatte, wirklich Freundschaft gewesen? Ich stellte mir diese Frage, und wie mir sofort bewußt wurde, stelle ich sie mir um mehr als dreißig Jahre zu spät. Plötzlich wußte ich, daß ich, was mein Verhältnis zu Judith betraf, mit dem Wort Freundschaft leichtfertig umgegangen war.
War Judith meine, war ich Judiths Freundin gewesen? Hatten wir nicht, wie dies häufig der Fall ist, in derselben Gegend verbrachte Kinderjahre, Gymnasialjahre an derselben Anstalt, gemeinsame Erinnerung an Orte, Begebenheiten und Personen, hatten wir dies alles nicht nur irrtümlich mit jener viel tieferen Art der Beziehung gleichgesetzt, die zwischen Menschen besteht, die einander in Freundschaft verbunden sind? Was hatte ich für Judith, was hatte Judith für mich getan, was wären wir, wäre dies notwendig geworden, bereit gewesen, füreinander zu tun? Waren wir nicht in vielerlei Hinsicht geteilter, ja gegensätzlicher Meinung gewesen? Was überhaupt hatten wir wirklich voneinander gewußt, wieweit hatten wir einander wirklich gekannt?
Nachdem Judith Wien verlassen hatte, war keine Nachricht mehr von ihr gekommen, sie hatte mit Absicht jede Verbindung, nicht nur zu mir, auch zu allen anderen, die sie gekannt hatte, unterbrochen. Ihr Vater war bald gestorben, wenige Monate nach ihrer Abreise starb auch die Mutter, andere Verwandte kannten wir nicht. Jene Cousine ihres Vaters, die der Familie nach dem Krieg in Wien Unterkunft gewährt hatte, war nicht mehr am Leben. Es gab niemanden, der uns Auskunft geben konnte.
Ich lag schlaflos in dieser Nacht und dachte an Judith, wie sie damals gewesen war. Ich erinnerte mich daran, was sie sagte, als wir einander in Wien wieder trafen. Man muß die Vergangenheit begraben, hatte sie gesagt, man muß unter alles, was gewesen ist, einen Strich ziehen und ein ganz neues Leben beginnen. Man muß einfach vergessen, das ist die einzige Möglichkeit.
Das muß man aber auch können, hatte ich gesagt.
Dazu muß man sich zwingen, hatte sie geantwortet, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
Schon Judiths Weg nach Wien unterschied sich von vielen anderen Wegen, von denen wir wußten. Ihre Mutter stammte aus der Stadt Bodenbach an der Elbe, sie war mit der Tochter vor Weihnachten vierundvierzig dorthin zu ihrer Schwester gezogen, deren Mann gefallen war, der Vater, kurz vor dem Ende des Krieges frontuntauglich geworden, kehrte ebenfalls dorthin zurück, es gelang der Familie, beisammenzubleiben, was in jenen Monaten keine Selbstverständlichkeit war. Im Juli fünfundvierzig, berichtete Judith, habe man sie eines Nachts gegen zwei Uhr geweckt und zum Bahnhof getrieben, dort habe man sie in offene Kohlenwaggons gepreßt und über die Grenze nach Sachsen gebracht.
Wahrscheinlich, sagte Judith, hätten wir nach Mecklenburg in ein Lager gebracht werden sollen, aber der Vater wollte nicht in ein Lager, er wollte auch nicht nach Mecklenburg, er habe mit dem Wort LAGER Vorstellungen von Zwang und Gefangenschaft verbunden, habe während der Fahrt ununterbrochen auf die Frau und auf deren Schwester eingeredet, sie schließlich davon überzeugt, daß sie den Zug heimlich verlassen, daß sie abspringen, sich auf eigene Faust durchschlagen, einen Ort finden müßten, wo sie bleiben konnten und wollten, er habe sie schließlich überzeugt und so weit gebracht, daß sie sich dazu entschlossen, sie sei ohnedies sofort und von Anfang an für den Plan des Vaters gewesen, nur die Mutter und die Tante hätten sich gefürchtet, hätten Angst gehabt. Nicht vor dem Abspringen allein, sagte Judith, vorne auf dem Bremserhäuschen hinter der Lokomotive sei ein russischer Wachtposten mit einer Maschinenpistole gestanden, bereit, zu schießen, wenn er etwas gemerkt hätte.
Er habe aber zum Glück nichts bemerkt.
Judith erinnerte sich an den Ort LOMATSCH, dort sprangen sie vom fahrenden Zug, es war dunkel, sie rollten eine Böschung hinunter, liefen ein Stück, lagerten in einem Gebüsch, bis es hell wurde, gingen dann weiter, von Dorf zu Dorf. Dem Vater gelang es, einen Handwagen aufzutreiben, darauf hätten sie ihr geringes Gepäck gelegt.
Von Ort zu Ort zogen sie, bis sie schließlich in einer Kleinstadt, nahe der Stadt Chemnitz, Unterkunft und Arbeit fanden.
Dann, wiederum eines Nachts, seien sie über die GRÜNE GRENZE gegangen, der Vater habe nicht bleiben wollen, die Zustände seien unerträglich gewesen, er wollte nach Österreich, dort hätten sie ja Verwandte gehabt. Nur die Schwester der Mutter habe nicht mehr mitgehen wollen, die sei geblieben.
Eigentlich sind wir ja nicht gegangen, sagte Judith, sondern gekrochen, eine Hochspannungsleitung entlang, so hatte man uns den Weg beschrieben, GEROBBT, beinahe nichts von dem, was wir noch hatten, konnten wir mitnehmen, alles mußte zurückbleiben. Sie hätten dann die Orientierung verloren oder sie verloren zu haben geglaubt, sie hätten es auch dann noch nicht gewagt, sich aufzurichten, aufrecht zu gehen, als sie sich schon längst auf westdeutschem Gebiet befunden hätten, der Vater habe es schließlich gewagt, an die Tür eines Bauernhauses zu klopfen und nach dem Weg zu fragen. Die Bäuerin habe sofort Bescheid gewußt, Sie sind schon im Westen, habe sie gesagt, nicht weit hinter Plauen sei das gewesen, in der Nähe der Stadt Hof.
Sie sind nicht die ersten, sagte die Bäuerin, und Sie werden nicht die letzten sein.
Sie habe ihnen etwas Milch und zu essen gegeben.
Ich habe schon einen Blick dafür, wo die Leute herkommen, die bei uns anklopfen, sagte sie.
(Jahrzehnte später der Anblick der MAUER in Berlin, die elektrisch geladenen Zäune, die Wachttürme, die TODESSTREIFEN.
Hunderttausende, sagt eine Berlinerin, Hunderttausende sind in der Zeit, von der Sie reden, in den Westen gegangen.)
Zu Fuß zogen sie weiter, in WEIDEN hätten sie einen Zug erreicht, seien mit diesem Zug ein Stück gefahren, dann wieder zu Fuß gegangen, schließlich hätten sie Schärding erreicht, hätten mit einem Boot den Inn überquert, ein amerikanischer Posten habe sie aufgehalten, dann aber weitergehen lassen.
Er hat wohl ein Mädchen bei sich gehabt, sagte Judith, als sie mir dies erzählte, irgendwo im Gebüsch versteckt hat sicherlich ein Mädchen auf ihn gewartet, er hat die längere Unterbrechung einer Liebesstunde befürchtet oder gar deren Verhinderung, er hat mit seinem Gewissen gekämpft, sich dann aber für die Liebe entschieden. Er hat sich einfach umgedreht und uns gehen lassen. Wiederum überquerten sie, nachts und in einem bezahlten Boot, in der Nähe von Urfahr, die Donau. Ihr Ziel war Wien.
(Ein Stück weiter südöstlich, bei Mauthausen, hat Anni zwei Jahre vorher, um das Weihnachtsfest mit den wiedergefundenen Eltern verbringen zu können, die Donau ebenfalls in einem Boot, ebenfalls nachts, überquert. Es sind damals, in den Nächten, sehr viele in Booten unterwegs gewesen.)
Ich dachte an Judith und erinnerte mich an das winzige Schrebergartenhäuschen in Wien, das die Cousine des Vaters ihnen zur Verfügung gestellt und in dem sie mit ihren Eltern lange gelebt hatte. Die Wände waren dünn gewesen, obwohl die kleinen Räume beheizbar gewesen waren, froren im Winter die Lebensmittel, fror das Brot im Schrank, zogen sich Judith und ihre Mutter Erfrierungen an den Beinen zu. Morgens, im Winter, hatte mir Judith erzählt, sei die Decke vor ihrem Mund weiß bereift von der Feuchtigkeit ihres Atems gewesen.
Erst Jahre später fand sich eine bessere Unterkunft für die Familie. Zur Zeit der Herbstmesse neunundvierzig, als sie Plotzners Patentbett erprobte, hat Judith noch mit ihren Eltern in jenem Holzhäuschen am Wiener Stadtrand gewohnt.
Ich lag und dachte an Judith in dieser Nacht, sah sie über die klebrige Erde kriechen, geduckt über nasse Wiesen laufen, sah sie vom Kohlenwaggon auf den Bahndamm springen, über eine dreckige Böschung fallen, sich wieder erheben, nein, an ihren Kleidern klebte kein Schmutz, ich hatte Judith niemals schmutzig gesehen, selbst wenn sie im Sommer daheim auf den Feldern mithalf, als während des Krieges keine Arbeitskräfte zu bekommen waren, wenn sie Obst pflückte und Trauben von den Stöcken schnitt, selbst dann sah sie aus, als hätte sie eben erst gebadet oder frisch gewaschene Kleider aus dem Schrank angezogen. Nie hing ihr das Haar schweißnaß und verklebt in die Stirn, nie waren ihre Arme von Mückenstichen geschwollen, ihre Augen vom Staub gerötet oder von Kornhalmen zerstochen. Die Arbeiter auf den Feldern drehten sich nach ihr um, wenn sie kam, lachten ihr zu, sie lachte und winkte zurück. Wie Judith wollte ich sein, als ich Anni war, stand vor dem Spiegel, versuchte mein Kopftuch zu binden, wie sie es gebunden hatte, es gelang mir nicht, ich versuchte, mein Haar offen zu tragen, wie sie es trug, es wehte mir über die Stirn in die Augen, vergeblich strich ich es immer wieder seitlich zurück. Wie siehst du denn aus, sagte meine Mutter, WIE EINE ZIGEUNERIN, hast du denn deinen Kamm verloren? Es blieb mir nichts übrig, als wieder meine Zöpfe zu flechten, bis man mir endlich erlaubte, sie abschneiden zu lassen. Das Ergebnis war lächerlich, heute noch kann man es nachprüfen anhand einer damals entstandenen Fotografie, nie würde Anni wie Judith aussehen, nie würde Anni wie Judith sein.
Nein, es gelang mir nicht, Judiths Vollkommenheit auch nur annähernd zu erreichen, nicht in der Kleidung und nicht in der Frisur, nicht in der Haltung und nicht in der Sprache, es dauerte eine ganze Weile, bis ich zu dieser Einsicht kam, bis Anni nicht mehr versuchte, wie Judith zu sein, bis sie sich trotzig dazu entschloß, mit ihren Fehlern zu leben.
Dennoch, Jahre später, die Szene mit Christians silbernem Ring, als Anni wahrheitsgemäß Antwort gab und Judith zornig reagierte, sich von ihr abwendete und davonlief, dennoch das dunkle Gefühl, daß Christians Liebe ihr eigentlich gar nicht zustand, daß er sich nicht ihr, sondern Judith hätte zuwenden müssen, weil Judith klüger, schöner, geschickter, mit einem Wort, in jeder Hinsicht vollkommener war als sie.
Ich dachte an Judith, vielleicht war sie wirklich in meinem Zimmer, was wissen wir von den Toten, von ihrer Freiheit, von ihrem Losgelöstsein, eine Ahnung ihrer Gegenwart wehte mich aus den Vorhängen an, in denen die zitternden Schatten der Baumzweige tanzten, stieg aus den blassen Lichtschatten, die auf dem Teppich lagen. Ich hörte ihre Stimme, mit der sie auf Mutter und Tante einredete, ihnen Mut zusprach, sie überzeugte.
Spring, sagte Judith, und die Mutter, eine sonst ängstliche und vorsichtige Person, sprang vom Kohlenwaggon in die Nacht hinein, es geschah ihr nichts, sie verletzte sich nicht bei diesem waghalsigen Sprung vom fahrenden Zug, die Überzeugungskraft der mutigen Tochter hatte sie stark gemacht.
Von der Geschichte, die sie mir über den amerikanischen Wachtposten erzählt hatte, der die Familie nicht, wie es seine Pflicht gewesen wäre, am Überschreiten der Demarkationslinie ohne Papiere hinderte, sondern ziehen ließ, hatte ich mir von Anfang an ein anderes Bild gemacht als jenes, das sie dargestellt hatte. Wahrscheinlich hatte es dieses Mädchen, das angeblich irgendwo im Gebüsch auf den Liebsten gewartet hatte, gar nicht gegeben, dachte ich, es hatte nur in Judiths Phantasie existiert, wahrscheinlich hatte einzig und allein ihr Anblick den Amerikaner veranlaßt, sie ungehindert gehen zu lassen. Er konnte nicht widerstehen, als sie ihn erschrocken und bittend ansah, er konnte sich der Wirkung ihrer Stimme nicht entziehen, er vergaß einfach, was ihm aufgetragen war, und widersetzte sich nicht. Es gingen Veränderungen in ihm vor, gegen die er sich nicht zur Wehr setzen konnte. Vielen ist es vorher und nachher ähnlich ergangen, auch Georg, dachte ich, mußte es ähnlich ergangen sein.
Vielleicht war sich Judith der Wirkungen, die von ihrer Person ausgingen, gar nicht bewußt, oder jedenfalls nicht so sehr, wie man später behauptet hat. Sie versuchte einfach, etwas zu erreichen, was sie erreichen wollte, und es gelang, in den meisten Fällen jedenfalls gelang es, sie wünschte sich etwas und bekam es, selten schlug man ihr eine Bitte ab, wenn sie erfüllbar war. Sie war so sehr daran gewöhnt, Erfolg zu haben, wenn sie ihn haben wollte, daß es ihr nicht weiter auffiel, wenn er sich wirklich einstellte. Nie hat sie die Faszination, die von ihrer Person ausging, wissentlich dazu benützt, anderen zu schaden oder sie zu verdrängen. Trotzdem konnte man schuldig werden in ihrem Namen, sie gab den Anlaß zur Schuld, an der andere ein Leben lang zu tragen hatten, und einmal gab sie den Anstoß zu einem Unglück, das sich nicht mehr rückgängig machen, nicht mehr gutmachen ließ. Als es geschehen war, reagierte sie wie ein Kind, das sich im Bewußtsein seiner Schuld in einen Winkel verkriecht und sich die Augen zuhält, in dem Glauben, daß Unglück gelöscht werden kann, wenn man es nicht sieht.
Ich hätte alles nur noch ärger gemacht, wenn ich geblieben wäre, sagte Judith, die in meinem Zimmer war.
Du bist davongelaufen, sagte ich, das war schlimmer, als wenn du geblieben wärst. Du hast das Unglück nicht ertragen, das du verursacht hast, aber andere mußten es tragen.
Du bist mit schuld daran, daß ich davongelaufen bin, sagte Judith.
Ich weiß, sagte ich.
Ich wollte es nicht, sagte Judith, DAS NICHT.
Das habe ich immer gewußt, sagte ich. Du wolltest etwas ganz anderes. Hast du es wenigstens bekommen? Es kam keine Antwort, es konnte ja auch keine kommen.
Nachdem Judith Wien verlassen hatte und nach Deutschland gegangen war, kam keine Nachricht mehr von ihr. Jahre später schickte man uns einen Zeitungsausschnitt zu, auf dem eine Reporterin zu sehen ist, die Passanten in Stuttgart nach ihrer finanziellen Situation befragt, der Name der Reporterin war nicht genannt, sie sah wie Judith aus, konnte Judith sein, sicher waren wir nicht, daß sie es wirklich war.