Kitabı oku: «Die Früchte der Tränen», sayfa 5
Dann kam das Hochzeitsbild. Der Umschlag, in dem es steckte, trug keine Adresse, nicht einmal ihren durch ihre Heirat geänderten Namen gab sie uns bekannt. Wir haben geheiratet, Judith und Frank, stand auf der Rückseite der Fotografie, keine Anschrift, kein Datum, den verwischten Poststempel konnten wir nicht entziffern.
Wer war dieser Frank, dessen Frau sie geworden war? Wir wußten es nicht, und es gab niemanden, der uns Auskunft geben konnte. Er konnte ein Deutscher, er konnte auch ein Ausländer sein, ein Nordländer vielleicht oder ein Amerikaner.
Mir fiel auf, was die anderen anscheinend nicht bemerkten, weil sie nicht mehr an ihn dachten oder auch, weil sie ihn gar nicht gekannt harten, die Ähnlichkeit mit Christian. Frank sieht beinahe wie Christian aus, dachte ich sofort, als ich das Bild in der Hand hielt, äußerlich jedenfalls, er sieht ihm ähnlich, der Gesichtsschnitt, das glatte, zur Seite gebürstete Haar, die Haltung, die Körpergröße, die schmalen, zu den Schläfen hin leicht schräg verlaufenden Augenbrauen, die Nase, das Kinn. Ich erschrak über diese Ähnlichkeit, dann aber sah ich den fremden Ausdruck in Franks Augen, und ich sah vor allem die Hände, die eine, etwas unbeholfen herabhängend, die andere besitzergreifend um die Schulter der Braut gelegt. Vor allem diese eine Hand sah ich, die Judiths Oberarm umgriff, ihn umklammerte, sich in den dünnen Stoff des Brautkleides grub, so daß er an dieser Stelle Falten bildete. Die Spuren dieser Umklammerung mußten an Judiths Arm sichtbar geblieben sein, sie mußte am nächsten Tag blaue Druckstellen am Oberarm gehabt haben, dachte ich. Nein, das war nicht Christians Hand, und es waren vor allem nicht Christians Augen, nicht sein skeptischer, hinterfragender Blick. Franks Augen blickten zielstrebig, entschlossen, sie sahen am Betrachter des Bildes vorbei, waren auf einen imaginären Punkt gerichtet, der wahrscheinlich ZUKUNFT bedeutete, sonst nichts.
Nichts von dem war in Franks Augen, was Anni und Valerie traurig gestimmt hatte, als sie die kleine Fotografie betrachteten, die Christian bald nach seiner Ankunft in Deutschland geschickt hatte, sie riefen kein Mitgefühl hervor, ließen keine Zweifel ahnen, keine Spuren von Verunsicherung durch Vergangenes waren aus ihnen abzulesen. Frank war nicht Christian, war ein völlig anderer Mensch, das war mir, als der erste Schreck über die äußerliche Ähnlichkeit abgeklungen war, klar. Alle anderen Überlegungen, die wir über Beruf, Staatszugehörigkeit, Nationalität, durch den ungewöhnlichen, in unseren Ländern kaum gebräuchlichen Namen angeregt, anstellten, gehörten in den Bereich der Phantasie. Es blieb uns, abzuwarten, ob doch eines Tages eine Nachricht von Judith kommen würde, aber das war nicht der Fall. Sie wollte keine Verbindung mehr zu uns, sie wollte vergessen werden und wahrscheinlich wollte sie selbst auch vergessen.
7
Das letzte Weihnachtsfest der Jahrhunderthälfte, eine Gelegenheit, noch einmal rückblickend anzuhalten, Heinrich und seine Frau Valerie, Annis Eltern, in jener Küche zu besuchen, die ihnen wohlmeinende Verwandte drei Jahre zuvor als Wohnung zur Verfügung gestellt haben und die sie immer noch bewohnen. Auch das Mobiliar hat sich noch nicht verändert, es besteht immer noch aus den beiden eisernen Betten, der Waschkommode, auf deren gelb-rot geflammter, zerrissener Marmorplatte die Waschschüssel aus Zinkblech steht, die Valerie für eine einzige amerikanische Zigarette eingehandelt hat, dazu der Wasserkrug aus dem gleichen Material, aus einem schmalen Schrank, drei hölzernen Sesseln und einem Tisch. Wie vielen anderen ist auch ihnen der Schritt aus der Not der Anfänge heraus noch nicht gelungen. Es gibt zu viele im Land geborene Ärzte, die ohne Anstellung sind.
Am vierundzwanzigsten Dezember neunundvierzig sind auf Abschnitt achtzehn der Lebensmittelkarten zwei Eier aufgerufen worden, man konnte zwischen Kühlhauseiern und Kalkeiern wählen, die Kalkeier kosteten sechsundneunzig Groschen, die Kühlhauseier einen Schilling und achtzehn Groschen, durchschnittliche Einkommen haben zu jener Zeit zwischen 300 und 400 Schilling betragen.
Valerie hat sich, trotz des höheren Preises, für die Kühlhauseier entschieden, nun steht sie vor dem Tisch, der zugleich als Arbeitstisch, Eßtisch und Schreibtisch verwendet wird, und knetet Teig für die Weihnachtsbäckerei, die sie, in kleinsten Mengen, nach den seit langer Zeit in ihrer Familie vererbten Rezepten herstellen wird. Der kleine eiserne Ofen ist warm beheizt, es hat vor einiger Zeit eine Zuteilung an Brennmaterial gegeben. Valerie vermengt Zucker, Mehl, Fett und die erwähnten Kühlhauseier, die sie sorgfältig in Dotter und Eiweiß getrennt hat, zu kleinsten Mengen verschiedener Teigsorten, aus dem Radio, das immer noch auf dem Wandbrett steht, tönt Weihnachtsmusik. Heinrich hat einen der Sessel zum Fenster gestellt und liest in der Zeitung.
Eine Delegation der Interessengemeinschaft volksdeutscher Heimatvertriebener hat beim Bundesministerium für soziale Verwaltung vorgesprochen und um Gleichstellung der Volksdeutschen mit den österreichischen Staatsbürgern auf arbeitsrechtlichem Gebiet ersucht. Die Delegation begründete ihre Bitte mit der seit Generationen bestehenden Verbundenheit der Volksdeutschen mit Österreich sowie mit deren aktivem Anteil an der Arbeit des Wiederaufbaus. Sie ersuchte auch um Gleichberechtigung volksdeutscher Schulentlassener hinsichtlich der Besetzung von Lehrstellen und um Anerkennung des Berufsnachweises von Facharbeitern. Der Sozialminister versprach, die Vorschläge eingehend zu prüfen. Im Entwurf des Inlandarbeiterschutzgesetzes würde, sagte er, DER BEGRIFF DES AUSLÄNDERS EINGEHEND ZU PRÄZISIEREN SEIN.
(Heinrich und Valerie dürfen sich seit wenigen Monaten Staatsbürger nennen, bis dahin sind sie nicht nur keine österreichischen, sie sind überhaupt keine Staatsbürger gewesen. Auch Ausländer waren sie nicht, der Begriff des Ausländers war noch nicht GENAU PRÄZISIERT worden. Obwohl sie alle Nachteile zu tragen hatten, die mit der Situation von Ausländern verbunden waren, wurden sie auch der Rechte nicht teilhaftig, die Ausländern immerhin, in bezug auf ihre Zugehörigkeit zu einem als Ausland benennbaren anderen Staat, zugestanden werden mußten, sie konnten sich auf die Rechte keines Staates berufen, sie waren nicht nur heimatlos, sie waren auch rechtlos geworden. Obwohl der Bescheid, der ihnen zugegangen ist und der ihnen das Recht zusichert, sich wieder Staatsbürger nennen zu dürfen, bisher nur eine ideelle Verbesserung ihrer Situation gebracht hat, steht nun doch fest, daß sie im Lande bleiben dürfen. Wovon sie in diesem Lande leben werden, wissen sie noch nicht.)
Die Sendung, die vom Sender ROT-WEISS-ROT ausgestrahlt wird, während Valerie ihre kleinen Teigmengen mischt, heißt O, JUBEL, O, FREUD, GLÜCKSELIGE ZEIT.
Zwei Bundesräte der Volkspartei, liest Heinrich, haben in einer schriftlichen Anfrage an das Innenministerium darauf hingewiesen, daß die Kontrollstellen an den Demarkationslinien, an der Steyregger Brücke und an der Ennsbrücke, in unbewohntem Gebiet liegen, was, wie verbrecherische Vorfälle der letzten Zeit bewiesen haben, SCHWERE GEFAHREN AN LEBEN UND GUT für die Bevölkerung mit sich bringt. Die Bundesräte verlangen Aufnahme von Verhandlungen mit dem sowjetrussischen und dem amerikanischen BESATZUNGSELEMENT, mit dem Ziel, die Beseitigung der Kontrollen überhaupt zu erreichen oder wenigstens die Erleichterung, daß an Stelle der bisherigen Kontrollstelle an der Ennsbrücke die amerikanische Kontrolle bereits ab Linz im fahrenden Zug, die sowjetische Kontrolle, wenn sich nicht die gleiche Praxis ab der Station Ennsdorf erreichen lassen sollte, in der Bahnstation Sankt Valentin vorgenommen wird. Bei Eisenbahnfahrten von Linz in Richtung Budweis sollte die Kontrolle in die Züge oder in die Bahnstation Steyregg verlegt werden.
Schließlich verlangten die Antragsteller, daß die Kontrollorgane der Besatzungsmächte von je einem Organ der österreichischen Exekutive begleitet werden sollten. (Heinrich nimmt diese Meldung mit Genugtuung zur Kenntnis. Seine Tochter Anni ist von einem die Ausweise kontrollierenden Russen auf der Ennsbrücke aus dem Zug geholt worden, obwohl ihre Papiere ordnungsgemäß ausgestellt und mit der vorgeschriebenen Anzahl von Rundstempeln versehen waren.
Es ist Annis einzige Fahrt über die Demarkationslinie gewesen, bei der sie ordnungsgemäß ausgestellte und gestempelte Papiere besaß. Mehrmals vorher und nachher hat sie die Demarkationslinien mit von Freundinnen geborgten Ausweisen und Passierscheinen ohne Schwierigkeiten überschritten.)
Welche Gedanken tauchen vor Valeries innerem Auge auf, während sie sich der geliebten Beschäftigung hingibt, die kleinen Teigkugeln formt, knetet, betastet, mit den Fingerspitzen streichelt, ihre seidige Oberfläche befühlt? Welche Erinnerungsbilder befallen sie, versetzen sie in eine lange vergangene Zeit zurück, in jene Zeit, in der sie mit Heinrich und der kleinen Tochter in dem mährischen Landstädtchen, in dem sie geboren wurde und aufwuchs, glücklich gewesen ist? Vielleicht sieht sie sich in der Küche, ZU HAUSE, mit viel größeren Teigkugeln hantierend, vielleicht sieht sie sich selbst, den großen, bis zur Decke reichenden Christbaum schmükkend, während im Kachelofen das Feuer brennt, knistert, in jene Glut zusammenfällt, von der die Wärme langsam in die Kacheln steigen, von dort in das große Eckzimmer ausstrahlen, es am Heiligen Abend gemütlich erwärmen soll, während Schnee in weichen Flokken vor den Fenstern fällt, herabsinkt, die Geräusche der Straße dämpft. Vernehmen ihre Ohren das leise Gleiten von Schlittenkufen, das Tappen der Pferdehufe, das Klingeln von Glöckchen, die an den Pferdegeschirren befestigt sind, hört sie die Stimmen der Kinder, die sich im Schnee balgen, mit kleinen Rodelschlitten unterwegs sind, dem Abend entgegenfiebern, der mit seinem Glanz alle anderen Abende des Jahres überstrahlt?
Sieht sie nur freundliche Bilder, hat sie die anderen, dunkleren Bilder mit Absicht vergessen, verdrängt, sieht sie, während die Melodie eines Weihnachtsliedes aus dem Radio in ihre Küche dringt, wie sich Türen öffnen, Kerzen brennen, Christbäume erstrahlen, O JUBEL, O FREUD, es wäre vorstellbar, obwohl sie eigentlich nie dazu neigte, die Vergangenheit in rosaroten Farben zu sehen und auch hinsichtlich der Weihnachtsfeiern vergangener Zeiten hin und wieder kritische Bemerkungen in die vorweihnachtliche Stimmung eingestreut hat. (Der Kachelofen, weißt du noch, dieser verdammte Kachelofen, der im Eckzimmer gestanden ist, er hat niemals richtig brennen wollen, er ist überhaupt nicht richtig warm geworden, hätten wir den AMERICAN HEATING im Herrenzimmer nicht gehabt und die Türen aufgemacht, dann hätten wir zu Weihnachten immer gefroren.) Sie hätte Anlaß genug, weniger freundliche Bilder zu sehen, sie hat fünf lange Jahre der Not hinter sich, davor die bitteren Jahre des Krieges, davor die Hungerjahre nach dem ersten Krieg. Nur eine kurze Periode des Glücks als Liebende, als junge Ehefrau, liegen dazwischen.
Vielleicht denkt sie auch vor allem, während sie ihre winzigen Teigkugeln knetet, an ihre Eltern und an die jüngere Schwester, die jetzt in ihrer Dachkammer in dem Dorf bei Erlangen ebenfalls Weihnachtsvorbereitungen treffen, fragt sich, ob die kleine Kammer auch warm genug beheizt ist, ob die Familie genügend zu essen hat, ob sie nicht friert, ob sich die Mutter nach ihrer Krankheit wieder erholt hat. Vielleicht ist sie auch ihrer Tochter wegen von Sorge erfüllt. (Ich hab es dir gleich gesagt, das kann nicht gut ausgehen, du bist nichts und hast nichts, und wir haben nichts, was wir dir geben können, warum hast du dir diese Heirat nicht aus dem Kopf geschlagen?)
Heinrich nimmt inzwischen zur Kenntnis, daß, einer Meldung der Prager Zeitung SVET PRACE zufolge, alle Hotels und Restaurants in der Tschechoslowakei verstaatlicht, die Dorfwirtshäuser den landwirtschaftlichen Genossenschaften angeschlossen worden sind. Die kommunistische Partei, liest er, habe Weisungen zur Liquidierung der DORFREICHEN und zum Zusammenschluß der Kleinbauern und der mittleren Grundbesitzer herausgegeben.
Von dem Wort LIQUIDIERUNG erschreckt, läßt Heinrich die Zeitung sinken, zögert einen Augenblick, ehe er sie wieder aufnimmt und weiterliest.
Für den Fremdenverkehr wird schon wieder geworben, die Zonengrenzen stellen jedoch, liest Heinrich, ein Hindernis dar, eine Einreise aus Deutschland ist nur mit einem Militärpermit möglich, dieses gilt nur für die westlichen Besatzungszonen (das hat Heinrich ohnedies gewußt), der mitgenommene Geldbetrag dürfe nur vierzig Mark, also etwa zweihundertvierzig Schilling, betragen (das hat er nicht gewußt, aber zweihundertvierzig Schilling sind für ihn eine Menge Geld). In Deutschland sind Tagespensionen schon ab sieben Mark zu finden, in Österreich kosten sie zwischen sechs und zwölf Mark. In Spitzenhotels sind für den Tag bis zu zwanzig Mark zu bezahlen.
Auch vor Heinrichs innerem Auge tauchen wahrscheinlich jetzt Bilder aus lange vergangenen Tagen auf.
Im Radio sind die Weihnachtslieder verklungen, es ist jetzt von Weihnachtsbräuchen die Rede, Valerie dreht am Knopf, der Sender RADIO WIEN bringt die Sendung WEIHNACHTSFEST IN EINEM USIA-BETRIEB, sie stellt das Radio ab.
Was steht denn in deiner Zeitung, sagt sie zu Heinrich, während sie nach der Teigrolle greift, lies mir etwas vor.
Heinrich, im Hinblick auf die vorweihnachtliche Stimmung, die er nicht verderben will, wählt erfreuliche Nachrichten aus. Ein wichtiger Verhandlungspunkt der Gemeinderatssitzung am Tag vorher, liest er, ist die Neugestaltung des Stephansplatzes gewesen. Dieses Problem ist in bisher insgesamt achtunddreißig Sitzungen behandelt worden, es geht die gesamte Wiener Bevölkerung an, GANZ WIEN IST DARAN INTERESSIERT.
Die PUMMERIN würde in Sankt Florian neu gegossen werden, eine Spendenaktion sei geplant, um die nötigen dreihunderttausend Schilling aufzubringen. Es bestehe der Plan einer festlichen Überführung der fertigen Glocke auf der Donau, mit Anlegepausen in allen Ufergemeinden, als eine Art Bekenntnis zu Österreich.
Wenn die Besatzungsmächte damit einverstanden sind, sagte Valerie.
In den Zeitungen jener Tage blätternd, finde ich heute, nach so vielen Jahren, Nachrichten, die Heinrich, um seine Frau nicht zu beunruhigen, wahrscheinlich nicht vorgelesen hat. Ich finde auch die Listen mit den Namen derer, die ZUM VERFAHREN DER TODESERKLÄRUNG AUFGEBOTEN waren.
AUF ANSUCHEN DER ANTRAGSTELLER WIRD DAS AMTLICHE VERFAHREN ZUR TODESERKLÄRUNG VERMISSTER EINGELEITET UND DIE AUFFORDERUNG ERLASSEN, DEM GERICHT NACHRICHT ÜBER IHREN VERBLEIB UND IHR SCHICKSAL ZU GEBEN.
Namen und Geburtsdaten, vage Angaben über letzte Aufenthalte, Angabe von Orten, an denen die Verschollenen, Vermißten, noch nicht Heimgekehrten zum letztenmal gesehen wurden oder von wo ihre letzte Nachricht gekommen ist.
Verschollen in der Weite Rußlands, bei Rückzugsgefechten, in Gefangenenlagern, aber auch aus Häusern, Wohnungen geholt, in Züge, Lastwagen gestoßen, nie mehr aufgetaucht, nie mehr zurückgekommen. Alte Männer und Kinder werden gesucht, der deutschen Wehrmacht letztes Aufgebot, Verschleppte werden gesucht, Deportierte, von denen nie mehr eine Nachricht gekommen ist, Österreicher und Deutsche jüdischer Religion. Orte werden genannt, letzte Stationen ihrer Leidenswege, SEITHER FEHLT JEDE NACHRICHT.
Reinhard S., geboren 1917, wird seit den Kämpfen bei Breslau im Jahre 1945 vermißt. Seither fehlt jede Nachricht.
Peter B., geboren 1910, wurde vorhandenen Nachrichten zufolge mit einem Kriegsgefangenentransport von Stalingrad nach Uspestipan gebracht. Seither fehlt jede Nachricht.
Henoch K., geboren 1885 als Sohn des Aron K. und der Chane, geborene D., zuletzt wohnhaft in Wien, wurde Nachrichten zufolge 1942, von Wien nach Minsk gebracht. Seither fehlt jede Nachricht.
Hedwig hatte sich nach langem Zögern und aus Gründen der Not doch dazu entschlossen, einen Antrag auf Todeserklärung für ihren in Rußland verschollenen Mann Richard zu stellen. Wie aber hätte sie dem Gericht Nachricht geben können über den Verbleib und das Schicksal Richards, da doch gerade sein Verbleib und sein Schicksal ihr unbekannt waren.
DIE VERMISSTEN WERDEN AUFGEFORDERT, VOR DEM GEFERTIGTEN GERICHTE ZU ERSCHEINEN ODER AUF ANDERE WEISE VON SICH NACHRICHT ZU GEBEN. Wie konnte einer, der für tot erklärt werden sollte, weil er seit Jahren mit unbekanntem Aufenthalt verschollen, wahrscheinlich schon irgendwo begraben lag, vor einem Gericht erscheinen oder auf andere Weise von sich hören lassen, wie konnte er Nachricht geben?
Hedwigs Antrag wurde, wie unzählige andere Anträge gleichen Inhalts, von einem deutschen Gericht erledigt, Richard wurde in Deutschland, andere wurden in Österreich für tot erklärt, amtlich aus dem Leben genommen, aus dem Leben ausgestrichen, in ein papierenes Grab gelegt. Der amtliche Totenschein bedeutete eine Witwenrente für die Not leidende Frau, eine Waisenrente für die hinterbliebenen Kinder, bedeutete häufig, wie im Fall Hedwigs, nicht das Ende der Hoffnung auf die immer noch mögliche Heimkehr des Totgesagten, amtlich für tot Erklärten.
In den meisten Fällen jedoch hat sich diese Hoffnung, wie jene Hedwigs, niemals mehr erfüllt.
Immer noch fehlten Väter, Söhne und Brüder, immer noch trafen auf Bahnhöfen Transporte mit Heimkehrern ein, mit solchen, auf deren Rückkehr man mit Sehnsucht gewartet hatte, aber auch mit solchen, die nach ihrer Rückkehr vor Gräbern oder vor verschlossenen Türen standen. Der Krieg hatte zahllose Opfer gefordert, das Leben war trotzdem weitergegangen. Nach der furchtbaren Tragödie des Krieges spielten sich in der Heimat die einzelnen privaten Tragödien ab. In der Zentrale des Internationalen Roten Kreuzes in Genf waren allein 1949 hundertzwanzigtausend Briefe mit Suchmeldungen eingegangen, hundertvierunddreißigtausend Briefe wurden abgeschickt, nur fünfzehntausend Einzelfälle konnten gelöst werden. Zwei Drittel aller Anfragen betrafen deutsche Staatsangehörige, die an der Ostfront verschollen waren, auch zahllose Kinder wurden gesucht, die man den Eltern entrissen hatte. Aus der Gefangenschaft Entlassene berichteten über andere, die in ihrem Beisein verstorben waren oder die keine Nachricht geben konnten, obwohl sie noch lebten. Zu Kriegsende verschleppte Mädchen kamen als Frauen wieder und brachten in der Gefangenschaft geborene Kinder mit. Die jüngste Heimkehrerin aus Rußland, die wenige Tage vor Weihnachten neunundvierzig auf dem Wiener Südbahnhof ankam, hieß Gertrude Noll und war drei Monate alt.
Jetzt vor Weihnachten, rief die leitende Schwester der Bahnhofsmission, JETZT VOR WEIHNACHTEN KÖNNEN WIR SO EIN KLEINES KIND NICHT BRAUCHEN!
Die junge Mutter drückte die kleine Trude an sich und brach in Tränen aus. Sie hatte schwere Jahre hinter sich, schreckliche Jahre, Verschleppung, Gefangenschaft, Zwangsarbeit, sie war nicht verweichlicht worden, sie hatte in Rußland einen Mitgefangenen zum Mann genommen, hatte ihr Kind im Gefangenenlager geboren, sie hatte vieles ertragen müssen, aber auf diesen Satz war sie nicht gefaßt gewesen. Zu Weihnachten wurde das Kind in der Krippe gefeiert, das Kind, das in einem Stall geboren worden war, die Welt kniete nieder vor diesem Kind, die Menschen beschenkten einander, die Priester in den Kirchen standen in prächtigen Gewändern vor den Altären, die Glocken läuteten, Kerzen brannten, Weihrauchwolken verströmten exotische Düfte, tausendfach ertönte das Lied von der Heiligen Nacht, die diesem Kind gewidmet war, das den Frieden in die Welt bringen sollte. An den Fronten hatten, dem Kind zuliebe, die Waffen geschwiegen. Ihr Kind aber, das ebenso in Armut geboren war wie jenes vor zweitausend Jahren, wurde nicht aufgenommen, wurde in die Kälte verstoßen. Sie stand vor verschlossener Türe mit ihrem Kind, IN DER HERBERGE WAR KEIN PLATZ FÜR SIE.
Waren die Menschen in zweitausend Jahren nicht um einen Schritt weitergekommen, hatte sich an ihrer Dummheit und Selbstsucht seither überhaupt nichts geändert?
Eine Hilfsschwester hatte Mitleid und nahm die verstörte Mutter in ihre Wohnung mit, versorgte sie dort drei Tage lang und vermittelte schließlich über die evangelische Pfarrgemeinde eine Unterkunft bei der Heilsarmee.
Wie hätte Valerie, wäre ihr diese Geschichte zu Ohren gekommen, gesagt? Immer und überall, hätte sie gesagt, kommt es auf den einzelnen Menschen an.
Die österreichische Regierung setzte sich für die noch nicht Zurückgekehrten ein. WIR WOLLEN KEINE KRIEGSVERBRECHER SCHÜTZEN, WIR WEHREN UNS ABER DAGEGEN, DASS MENSCHEN WEGEN EINER KOLLEKTIVSCHULD UNSCHULDIG VERURTEILT WERDEN, NACHDEM SIE BEREITS FÜNF JAHRE IHRER FREIHEIT BERAUBT WURDEN UND DURCH SCHWERE KÖRPERLICHE ARBEIT GENÜGEND SÜHNE GELEISTET HABEN.
Nur die Frauen, Mütter, Schwestern der Heimatvertriebenen warteten vergeblich auf eine diesbezügliche Bitte oder ein hilfreiches Wort.
In Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage bedauerte der österreichische Außenminister, daß nach einer allgemein anerkannten Norm des Völkerrechts ein Staat bei einer ausländischen Regierung Interventionen nur zugunsten seiner eigenen Staatsbürger durchführen könne.
DEN ÖSTERREICHISCHEN VERTRETUNGSBEHÖRDEN FEHLT DAHER JEDE LEGITIMATION, OFFIZIELL FÜR NICHTÖSTERREICHISCHE KRIEGSGEFANGENE WEGEN ENTLASSUNG AUS DER GEFANGENSCHAFT ZU INTERVENIEREN. AUCH WENN DIE IN ÖSTERREICH BEFINDLICHEN ANGEHÖRIGEN DER KRIEGSGEFANGENEN ODER IN DER ANFRAGE GENANNTEN STAATEN ZURÜCKGEHALTENEN VOLKSDEUTSCHEN ZUM TEIL SCHON DIE ÖSTERREICHISCHE STAATSBÜRGERSCHAFT ERHALTEN HABEN, IST DIES KEINESFALLS AUTOMATISCH FÜR DIE GENANNTEN KRIEGSGEFANGENEN UND ZURÜCKGEHALTENEN GEGEBEN.
DAHER BESTEHT IN SOLCHEN FÄLLEN FÜR DEN ÖSTERREICHISCHEN STAAT KEINE VÖLKERRECHTLICHE LEGITIMATION ZU OFFIZIELLEN SCHRITTEN IM INTERESSE DIESER PERSONEN.
Wie hatte Heinrich zu dem Kind Anni gesagt, das nach seinen Vorfahren und nach deren Volkszugehörigkeit gefragt hatte?
Früher, hatte Heinrich gesagt, als du noch nicht geboren warst, sind wir alle Österreicher gewesen.
Den Leuten sind die Hände gebunden, sagte Valerie, diese Regierung darf ja nicht tun, was sie für richtig hält.
Fünf Jahre nach dem Krieg und noch immer besetzt, sagte Valerie, was das kostet.
Drei Monate später informierte die WIENER ZEITUNG ihre Leser in einem Bericht über die bisherigen Besatzungskosten.
Bis 1949 waren an die Amerikaner 407 Millionen, an die Engländer 841 Millionen, an die Franzosen 735 Millionen Schilling, an die Russen 2,5 Milliarden Schilling bezahlt worden.
1949 hatte die vierfache Besetzung Österreich 518,7 Millionen Schilling gekostet. Zusammen mit dem Umtausch alliierter Militärschillinge hatte der Betrag, der für die Besatzungsmächte ausgegeben werden mußte, über fünf Milliarden Schilling betragen. (Das monatliche Einkommen eines Beamten mit Maturastatus im gehobenen Verwaltungsdienst machte am 1. Jänner 1950 vierhundertsechsunddreißig Schilling aus.)
Fünf Jahre nach dem Krieg und noch immer kein Friedensvertrag, sagte Valerie, dabei wollen wir doch nichts als den Frieden!
Bewußt die erste Person der Mehrzahl verwendend, die eigene Person einbeziehend, engagierte sie sich für den Staat, der sie als gleichberechtigte Bürgerin angenommen hatte. Genoß sie die Rechte dieses Staates, fielen ihr auch Pflichten zu. Es gibt niemanden in diesem Land, der nicht den Frieden will, sagte sie.
Am letzten Tag des fünften Friedensjahres erwähnte der Wiener Bürgermeister diesen leidenschaftlichen Friedenswillen des Volkes, aber er sprach auch von Kriegsangst, welche die Menschen erfüllte, er äußerte sich sorgenvoll im Hinblick auf das kommende Jahr. Nur der amerikanische Sonderbotschafter Averell Harriman sagte Österreich eine hoffnungsvolle Zukunft voraus. Vergeblich warteten die Heimatvertriebenen in Österreich an ihren eigenen oder an fremden Radioapparaten auf einen Satz in den Neujahrsbotschaften und Neujahrsreden der Großen des Landes, der sich auf ihr Schicksal bezogen hätte. Niemand gedachte ihrer mit einem an sie gerichteten, tröstenden oder Hoffnung gebenden Wort.