Kitabı oku: «Die Früchte der Tränen», sayfa 6
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Briefe kamen aus Deutschland. Die Bewirtschaftung der Butter sei aufgehoben worden, schrieb Hedwig, jetzt könne man Butter frei kaufen, das Pfund koste zwei Mark vierundfünfzig Pfennig. Man hat gefürchtet, daß es Hamsterkäufe geben wird, schrieb sie, aber das ist nicht eingetreten. Die Leute kaufen nicht mehr, als sie früher gekauft haben, sie haben ja auch nicht mehr Geld als vorher. Man kauft ja nur, was man braucht. Nur für den Zucker wird es noch eine Zeitlang Marken geben.
Nach Baden-Württemberg sollen jetzt achttausend Flüchtlinge aus Schleswig-Holstein, aus Niedersachsen und Bayern kommen, schrieb Hedwig. Sie werden umgesiedelt, man wird für sie Wohnungen bauen. Schade, daß wir nicht auch umgesiedelt werden, dann würde man uns vielleicht eine Wohnung geben. Vielleicht wäre Mutter dann nicht immer krank, und die Kinder kämen in bessere Schulen.
Die nächsten drei Zeilen in dem Brief waren von der Zensur mit schwarzer Farbe dick durchgestrichen worden. Valerie hielt den Brief mit der durchgestrichenen Stelle gegen das Licht, aber man konnte nichts von dem erkennen, was die schwarze Farbe verdeckte. In Stuttgart soll es schon wieder herrliche Geschäfte geben, schrieb Hedwig im nächsten Absatz, abends viele Lichtreklamen. Ferdinand ist dort gewesen, er hat mir geschrieben.
Er sei in Stuttgart gewesen, schrieb Vetter Ferdinand an Hedwig, er sei über die Königsstraße gegangen, er sei WIE ERSCHLAGEN gewesen vom Anblick der Geschäfte und dem Angebot der Waren in den Auslagen, er habe geglaubt zu träumen, ein Geschäft neben dem anderen, dazwischen sogar schon Kaffeehäuser und Kinos, der Satz WIE IM FRIEDEN sei ihm eingefallen, jener Satz, den man gebraucht habe, wenn man sich während des Krieges nach unerreichbarem Luxus gesehnt habe. Seidenstoffe, Schuhe, Handtaschen, sogar Schmuck sei in den Auslagen ausgelegt, schön angeordnet und arrangiert, dann, als die Dämmerung eingefallen sei, die Lichtreklamen, er sei sich vorgekommen wie in einem Märchenland. Die Leute hätten sich vor den Schaufenstern gedrängt.
Dahinter freilich hocke das Elend noch immer wie vorher. Er sei ja ein neugieriger Mensch, er sei durch die Tore gegangen und habe die hinter den Toren liegenden Höfe betreten. Dort liege der Schutt noch herum, die Mauern seien ohne Verputz, man trete in Abfallhaufen und in Pfützen, die Leute hätten Stricke gespannt und Wäsche zum Trocknen aufgehängt, WIE IN EINEM FLÜCHTLINGSLAGER, er habe notdürftig zusammengezimmerte Bretterhütten gesehen, in denen offensichtlich Menschen wohnten.
So sei es fast auf der ganzen Königsstraße gewesen, vom Bahnhof weg bis zum Ende. Es ist mir eingefallen, schrieb Vetter Ferdinand, daß dies die beiden Seiten unserer Gegenwart sind, schon wieder Reichtum auf der einen Seite, noch immer bittere Armut auf der anderen. VORNE PRUNKFASSADEN, DAHINTER EIN NIEMANDSLAND, hinter der immer noch schönen Fassade des Kronprinzenpalais ein von Trümmern übersätes Gelände, aus dem Eisenträger hervorragten, ideal für lichtscheues Gesindel. Abseits von den schönen neuen Geschäften gäbe es, wie überall, aus Latten und Zeltplanen gezimmerte Notverkaufsstände, Behelfsläden. Und dann wieder ein Bürohaus mit großen Glasfenstern, er habe, schrieb Ferdinand, das Gefühl gehabt, die Menschen, die sich hinter den riesigen Scheiben bewegten, seien nur Puppen gewesen, von unsichtbarer Hand bewegte Marionetten.
Papa hat man das zweite Bein abgenommen, schrieb Annis Freundin Helga aus Hessen, Mama ist sehr verzagt.
Ich habe eine Lehrstelle bei der hiesigen Kleinbahn bekommen, die Leute dort sind sehr nett zu mir.
(Fast eineinhalb Millionen Vertriebene und Flüchtlinge hatte man nach dem Ende des Krieges nach Hessen gebracht, obwohl über zwanzig Prozent des vorhandenen Wohnraums zerstört oder von der Besatzungsmacht beschlagnahmt worden waren.
DIE AUS DEM GEDRÄNGTEN ZUSAMMENLEBEN DER FLÜCHTLINGE MIT DEN EINGESESSENEN RESULTIERENDEN SPANNUNGEN, DIE BESONDERS IN DEN LANDGEMEINDEN AUFTRETEN, sagte der zuständige Ministerialbeamte in einer Rede, BEHERRSCHEN HEUTE UNSER SOZIALES, WIRTSCHAFTLICHES UND POLITISCHES LEBEN.)
Nein, immer noch kein Ende der Not. Immer noch grub man Tote aus den verschütteten Kellern, immer noch lebten sehr viele in Flüchtlingsbaracken, in Bunkern und Kellerlöchern, Flüchtlinge kamen über die Grenze nach Westdeutschland, die Mittel reichten nicht aus, um das Elend zu beseitigen und sie alle menschenwürdig unterzubringen.
(Über zweieinhalbtausend Flüchtlinge aus Ostberlin kamen zu jener Zeit in den Westen der Stadt, sie konnten nicht weitertransportiert werden, da die russische Besatzungsmacht die durch die Ostzone führenden Züge streng kontrollierte. In Berlin nahm die Arbeitslosigkeit ständig zu, nur wenige der Flüchtlinge konnten ihren Fähigkeiten und ihrer Ausbildung entsprechende Arbeitsplätze bekommen.)
Über die Trümmerfelder deutscher Großstädte zogen Kinder und suchten nach Eisen, Kupfer und Blei. Für ein Kilogramm Kupfer zahlten Händler eine Mark und zehn Pfennig, für ein Kilo Blei fünfzig Pfennig, für ein Kilo Messing fünfundvierzig Pfennig, für ein Kilogramm Stahlschrott zwei Mark. Zwölfjährige schleppten Eisenträger, zogen Handwagen über den Schutt, kleine Schwerarbeiter, die zum Unterhalt der Familien beitrugen und ihre Schulaufgaben aus Müdigkeit nicht erledigen konnten. Siebenjährige handelten mit amerikanischen Zigaretten und machten Geschäfte mit Besatzungssoldaten. Waisen suchten ihre Eltern, Väter und Mütter suchten ihre verschollenen Kinder. Unter der schwarzen Bevölkerung Amerikas wurden Adoptiveltern für farbige Mischlingskinder gesucht.
ÄTSCH, MIR HAM HALT A ECHT’S NEGERLA, sagt der Anführer einer Gruppe von Sternsingern zum Sternträger einer anderen Gruppe, die Karikatur findet sich in der Zeitung NÜRNBERGER NACHRICHTEN vom 5. Jänner 1950. Ein schüchterner Versuch, die Öffentlichkeit zugunsten der kleinen Farbigen günstig zu beeinflussen.
Ein Flüchtlingssprecher ermahnte die Flüchtlinge und die Heimatvertriebenen, treu zusammenzuhalten, ABER NICHT, UM EINE REVOLUTION ZU ENTFACHEN, SONDERN UM DIE MENSCHENRECHTE ZU WAHREN.
Was das Elend der Heimatvertriebenen betrifft, sagte der österreichische Innenminister, so sei die Regierung bestrebt, das Los dieser Menschen in jeder Beziehung zu erleichtern. ALLERDINGS, ICH WARNE DAVOR, BEI DIESER HEIKLEN FRAGE MIT GROSSEN VERSPRECHUNGEN ZU ARBEITEN. WER MIT VERSPRECHUNGEN ARBEITET, WER DEN ARMEN TEUFELN HOFFNUNGEN MACHT, DIE NICHT IN ERFÜLLUNG GEHEN KÖNNEN, DER WIRD SEHEN, DASS ER DIESE LEUTE NICHT NUR SICH SELBER, SONDERN AUCH DIESEM LAND ZU FEINDEN MACHT. WIR MÜSSEN UNSER LAND NACH UNSEREN BEDÜRFNISSEN AUFBAUEN, UND WIR MÜSSEN IN ERSTER LINIE AN UNSERE EIGENEN STAATSBÜRGER DENKEN.
Valerie, die sich als Staatsbürgerin fühlte, fragte sich trotzdem in Augenblicken der Depression, ob es nicht besser gewesen wäre, mit den vielen anderen nach Deutschland zu gehen.
In Deutschland, sagte sie zu Heinrich, hätte man uns besser geholfen, dort hat man die Heimatvertriebenen als Neubürger angenommen und hat ihnen wenigstens für den Anfang etwas Geld zum Leben gegeben.
(Wäre ich nur nach Deutschland gegangen, sagte Edith K. aus Siebenbürgen, die man zu Kriegsende nach Rußland verschleppt hatte und die erst vier Jahre später nach Österreich entlassen worden war. Für jeden Tag der Gefangenschaft hätte ich acht Mark bekommen. Sie können sich ausrechnen, wie viel Geld das gewesen ist.)
Heinrich warf seiner Frau, wenn sie solches sagte, einen traurigen Blick zu. Du weißt, sagte er dann immer, warum ich nicht von hier weggegangen bin.
Valerie schwieg, sie wußte Bescheid. Schon als Student hatte Heinrich sich gewünscht, in Wien leben zu dürfen, er hatte alle seine Hoffnungen auf dieses Leben in Wien gesetzt, er hatte sich den Anfang in Wien hart, aber doch etwas anders vorgestellt.
Daß ich damals nach Deutschland gegangen bin, sagt Hedwig, Valeries jüngere Schwester, ist unser Glück gewesen. In Österreich wären wir Bettler geblieben, in Österreich hätte ich nicht gewußt, wie ich die Eltern und die Kinder ernähren soll. Auch hier, sagt sie, war der Anfang sehr schwer. Auch die Einheimischen haben Not gelitten. Aber man hat uns wenigstens anerkannt, und man hat uns geholfen, wo es möglich war.
(Deutsche Zeitungen veranstalteten 1950 eine Umfrage mit dem Ergebnis, daß die meisten Menschen über zu niedrige Einkommen und zu hohe Lebenshaltungskosten klagten. Ein Lehrer verdiente etwa vierhundert Mark, ein mittlerer Beamter zweihundertfünfzig, ein Facharbeiter zweihundert Mark. Ausgebombte Familien sahen keine Möglichkeit, die nötigsten Möbelstükke, Wäsche oder Hausgerät anzuschaffen, selbst der Kauf eines Kleides, eines Mantels für den Winter, die Anschaffung von Schuhen bedeuteten unlösbare Probleme.)
Du kannst dir vorstellen, sagt Hedwig, wie es uns und den Flüchtlingen gegangen ist, auch wenn wir kleine Unterstützungsbeiträge bekommen haben.
Dann die Arbeitslosigkeit, sagt Hedwig. Sie half bei den Bauern auf den Feldern mit, auch der alte Vater arbeitete noch schwer, später fuhr sie mit dem Fahrrad in die nahe Stadt Erlangen und wusch die Wäsche einer amerikanischen Familie.
Nie, sagt Hedwig, hat mir die Amerikanerin etwas zu essen für mich und für die Kinder mitgegeben, sie ist wahrscheinlich gar nicht auf den Gedanken gekommen, mich zu fragen, ob wir genug zu essen hätten.
Sie hat auch nicht kochen können, sie hat überhaupt keine Vorstellung von richtigem Kochen gehabt. Sie hat ein Stück gefrorenes Fleisch aus dem Kühlschrank genommen, hat mit einer Hacke ein Stück davon abgehackt, hat es in die Pfanne geworfen, rasch abgebraten und dann ihrem Mann auf den Teller gelegt. Jeden Tag hat sich das gleiche abgespielt. Der Mann hat ein kleines Stück von dem Fleisch abgeschnitten, hat daran herumgekaut, hat es wieder ausgespuckt, hat dann den Teller weggeschoben und ist gegangen. Das Fleisch hat die Frau dann in den Abfalleimer geworfen.
Wahrscheinlich ist das gar nicht böser Wille gewesen, sagt Hedwig, daß sie mich nie gefragt hat, ob ich ein kleines Stück von dem Fleisch haben will, sie hat sich vielleicht gar nicht vorstellen können, daß es Leute gibt, die Hunger haben.
Ein Stückchen von dem Fleisch, habe ich manchmal gedacht, sagt Hedwig, und ich könnte für die ganze Familie eine herrliche Suppe kochen. Vielleicht hätte sie mir etwas gegeben, wenn ich sie darum gebeten hätte, aber ich habe es nicht gewagt, sie zu bitten, und ich wollte auch nicht als Bettlerin dastehen.
Dabei sind wir doch wirklich arm wie Bettler gewesen.
(Friedl, Christians Schulkollege aus dem Gymnasium, das auch Anni besucht hat, noch mit siebzehn Jahren einberufen und an die Front geschickt, in amerikanischer Gefangenschaft beinamputiert, hatte um diese Zeit als Student in Freiburg mit siebenundfünfzig Mark monatlich auszukommen. Fünfundzwanzig Mark, sagt Friedl, habe sein Zimmer gekostet, vom Rest mußte er den Lebensunterhalt bestreiten.
Wenn ich Brot gekauft habe, sagt Friedl, dann habe ich es drei Tage lang liegen lassen, altes Brot gibt mehr aus als frisches.
Natürlich habe ich Hunger gehabt. Erst 1951 hat es hundertfünfzig Mark zusätzlich für das Semester gegeben, von diesem Geld mußten die Bücher gekauft werden.
1984 sagt ein Mann, der im Zug von München nach Berlin unterwegs ist und von der Zeit nach dem Krieg erzählt: Zum Glück ist mein Bruder gefallen, sonst hätte ich, als ich eine Anstellung bekam, nicht einmal eine passende Hose anzuziehen gehabt.)
Heinrich und Valerie immer noch in der Küche mit dem Steinfußboden, in einem kleinen Schaff aus Zinkblech wusch Valerie die Wäsche, spannte dann einen Strick vom Fensterhaken zur Wand, hängte die Wäschestücke daran zum Trocknen auf. Zwei Gassen weiter war das Brausebad, TRÖPFERLBAD oder VERTIKALSTROMBAD sagten die Wiener.
Hedwig immer noch mit den beiden Alten und den Kindern in den winzigen Kämmerchen unter dem Dach, immer mißtrauisch beobachtet von den Hausleuten, fremd in der neuen Umgebung, keine Möglichkeit, in eine Stadt zu übersiedeln.
Judith mit ihren Eltern im Schrebergartenhaus ihrer Tante am Stadtrand von Wien, ein winziges Zimmerchen, eine Küchenecke, ein Feldbett, das abends aufgeschlagen wurde, zwei übereinandergestockte Bettstellen an der Wand, Wasser aus dem Brunnen im Gärtchen, der an kalten Wintertagen zugefroren war, auch auf dem Eimer, den man ins Haus geholt hatte, bildete sich eine Eiskruste über Nacht, die Milch auf dem Tisch fror zu weißen Kristallen.
Man muß wissen, was man will, sagte Judith zu Anni, die neben ihr auf dem unteren Stockbett saß. Man muß ein Ziel haben und immer dran denken, ob einen das, was man unternimmt, auf dem Weg zu diesem Ziel weiterbringt oder ob es einen zurückwirft.
Ich habe ein Ziel, sagt Judith. Ich möchte wieder so leben können, wie wir zu Hause gelebt haben.
Wieder leben, wie man zu Hause gelebt hatte, wieder besitzen, was man zu Hause besessen hatte, das wollten viele in dieser Zeit. Daran dachten sie, davon träumten sie, wenn sie an den beleuchteten Fenstern fremder Häuser vorbeigingen, die jenen Glücklichen gehörten, die durch Krieg und Bomben ihren Besitz nicht verloren hatten, die verschont geblieben waren, jedenfalls was den materiellen Besitz betraf. Manche träumten auch davon, einmal vielleicht, in einer nicht allzu fernen Zukunft, besser zu leben, als sie daheim gelebt hatten, manchen ist dies auch gelungen.
NICHTS MEHR BESITZEN wollte Narcisse, die blutjunge Pianistin aus Böhmen, als sie endlich an einem Ort angekommen war, an dem sie bleiben konnte, keine Möbel, keine Teppiche, keine Vorhänge an den Fenstern, keinen überflüssigen Gegenstand mehr, nichts von dem, was sie zu Hause besessen hatte, nur ein Klavier.
Wie und wo übten Pianisten, die kein eigenes Klavier besaßen, in jener Zeit?
Ein später sehr bekannter Pianist soll in der Auslage eines Klaviergeschäftes geübt haben, in der ein Flügel stand, man hatte es ihm erlaubt, weil man sich davon einige Werbewirkung versprach.
Narcisse übte nachts, in der Kantine des Eisenbahnausbesserungswerkes in Eßlingen am Neckar, sie spielte die Nächte durch, wenn die Arbeiter in ihren Betten lagen und schliefen. Ein Klavier zur Verfügung zu haben, wenn auch nur nachts, war Glück, war für den Anfang genug, mehr wünschte sie nicht. Erst Jahre später erfüllte sich ihr Traum von einem eigenen Flügel. Sie war glücklich. Was brauchte sie mehr?
Frei sein von der Herrschaft der Dinge, vielleicht hatte sie das gewollt, oder nichts mehr besitzen, woran man sein Herz hängen, was man eines Tages doch wieder verlieren konnte. Ohne die Dinge hätte sie leben können, nicht ohne ihre Musik.
NATÜRLICH KONNTE DAS NICHT SO BLEIBEN, da lagen die Noten auf dem Fußboden herum, man mußte sie unterbringen, da waren die Bücher, die sich vermehrten. Da kamen Gäste aus der Heimat, man hatte sie zu bewirten, man brauchte Teller, Löffel, Tassen. DIE HABE ICH HEUTE NOCH.
Eine Bekannte stellte ihr einen schönen alten Schrank vor die Tür, dem sofort ihre Liebe gehörte. Dann kam eines zum anderen, die Dinge vermehrten sich wieder, man kam nicht aus ohne die Dinge, man hatte neu zu überdenken, was man anstrebte, was man wollte, man hatte seine Beziehung zu den Dingen neu zu formulieren.
NUR NOCH WAS ICH WIRKLICH HABEN WOLLTE, sagt Narcisse, NUR NOCH, WAS MIR AM HERZEN LAG.
Aber gerade das, was man aus Neigung erwirbt, ist es ja, was man schmerzlich vermißt, wenn es einem wieder genommen wird. NIMM NUR DEINE WICHTIGSTEN SACHEN MIT, ALLEM ÜBRIGEN SAGE ADIEU UND WEINE DEN DINGEN KEINE TRÄNE NACH, ES STEHT NICHT DAFÜR. So hatte Heinrichs Onkel Hermann an seine noch in Mährisch Trübau verbliebene Schwester geschrieben, als feststand, daß man sie mit einem Lastwagen abholen und nach Österreich bringen würde, aber Friederike, Heinrichs Mutter, hatte zu diesem Zeitpunkt nichts mehr von dem besessen, was ihr lieb gewesen war. Das Eisenbett mit dem Drahteinsatz, das Küchenstockerl, den Korb mit Wäsche, den sie gerettet hatte, nahm man ihr beim Grenzübertritt ebenfalls ab. HÖR AUF, MAMA, pflegte Valerie zu sagen, wenn die Schwiegermutter immer wieder damit anfing, von den ihr geraubten Dingen zu reden, ICH BITTE DICH, MAMA, HÖR AUF.
Wenn Anni in späteren Jahren etwas verlor, was von einigem Wert gewesen war, sagte sie stets: REG DICH NICHT AUF, WIR HABEN MEHR VERLOREN. Anni hat nicht nur den Ausspruch von ihr übernommen, sie hat das Argument begriffen und es zu einem Teil ihrer Lebensphilosophie gemacht.
Man hatte die Zerstörung der Dinge erlebt, an die man sein Herz gehängt hatte, oder sie waren einem geraubt worden. Man war bereit dazu, aus diesem Verlust zu lernen, wie immer er vor sich gegangen war, oder man hatte jedenfalls vorgehabt, daraus zu lernen. Trotzdem fing man schließlich doch wieder damit an, zu sammeln, zusammenzutragen.
Wann hat Heinrich, einen in Tücher gewickelten Gegenstand in den Händen, die Wohnung betreten, die er, Jahre später, mit Valerie in einer nahe Wien gelegenen niederösterreichischen Kleinstadt bewohnte, ein glückliches Lächeln im Gesicht, den Gegenstand vorsichtig auf den Tisch gestellt, mit den Worten: HEUTE HABE ICH JEMANDEN MITGEBRACHT, die Tücher entfernt, sich über Valeries Entzücken gefreut, mit dem sie zur Kenntnis nahm, um WEN es sich handelte? Eine alte Uhr mit kunstvoll geschnittenem Perpendikel, auf Alabastersäulen ruhend, bunte Stroh- und Papierblümchen unter Glas, ähnlich jener, die er ZU HAUSE besessen hatte.
Wann hat Valerie, im Keller des Hauses, in dem sich diese Wohnung befand, sich mit einem Schrei auf das kleine Nähtischchen aus poliertem Nußholz gestürzt, das ein Wohnungsnachbar eben mit einer Holzhacke in handliche Teile zerlegen wollte, um es im Wohnzimmerofen verbrennen zu können? Der Mann fragte sie lachend, ob sie DAS GERÜMPEL denn haben wolle, er schenkte es ihr, sie trug es glücklich in die eigene Wohnung hinauf, in die kleine Platte aus Nußholz war ein Band aus helleren Hölzern eingelegt, von den winzigen Blättchen aus Perlmutt waren nicht mehr alle vorhanden, aber sie hatte das Tischchen sofort in ihr Herz geschlossen.
Was empfand die Malerin Elisabeth aus Gablonz, als sie eines Tages in Berlin die Wohnung jenes Schleichhändlers betrat, dessen Adresse ihr im Zusammenhang mit dem Schwarzmarkt für Heizmaterial genannt worden war und den sie dann, alles Geld, das sie daheim hatte finden können, in der Tasche, aufsuchte, um etwas Kohle zu kaufen? Sie sei, sagt Elisabeth, wie im Traum durch die Räume dieser behaglich beheizten Wohnung gegangen. Sie sei in ein Zimmer geführt worden, in dessen Mitte ein Flügel stand, so jedenfalls sei es ihr in Erinnerung geblieben, dieser Flügel bilde einen zentralen Punkt in ihrer Erinnerung. Auf dem Flügel, der mit einer seidenen Decke abgedeckt gewesen sei, sei eine silberne Schale gestanden, die Schale sei angefüllt mit Früchten gewesen, die sie nur noch vom Hörensagen gekannt habe, Orangen, Bananen, Äpfel, sie habe sich gefragt, ob das Wahrheit sei oder ob sie träume, diese Wärme, dieser Überfluß, all dies inmitten des furchtbaren Elends, inmitten der zerstörten, zertrümmerten Stadt Berlin.
WENN ICH SO ETWAS NOCH EINMAL IM LEBEN BESITZEN SOLLTE, habe sie beim Anblick des Flügels und der mit Früchten gefüllten Schale gedacht, dann werde ich immer an diesen Augenblick denken. Und sie habe auch daran denken, sich daran erinnern müssen, immer wieder, sagt sie, habe sie dieses Bild, das ihre Augen damals aufgenommen hatten, gesehen.
Was empfand Anni, als sie die prachtvoll möblierten Räume der Wohnung betrat, in der ihr Großonkel Hermann mit seiner zweiten Ehefrau Esther lebte? Neid? Sehnsucht nach, wenn auch bescheidenerem Wohlstand, der sie zu Hause umgeben hatte, in dem sie aufgewachsen war?
Durch Krieg und Kriegsfolgen Zerstörtes, Verlorengegangenes baldmöglichst in ähnlicher Form wieder erwerben zu können, hat sie sich das in jenen Augenblicken gewünscht?
Soweit die Erinnerung damals Gefühltes festgehalten hat, empfand sie nichts Derartiges. Sie nahm wahr, was sie mit den Augen erfaßte, die angenehmen Formen der alten Möbel, die, wie sie wußte, noch nicht lange im Besitz der Verwandten waren, die große Wohnung in der Rotenturmstraße war einer Bombennacht zum Opfer gefallen, nichts war erhalten geblieben. Die neue Wohnung war noch prächtiger eingerichtet worden, als es die alte gewesen war. Annis Augen erblickten die weich gepolsterten Sitzmöbel, die schönen Kommoden, die hübschen Gegenstände auf dem Biedermeiertischchen, sie nahmen wahr und registrierten, aber Anni fühlte kein Verlangen danach, ähnliches zu besitzen. Der Prunk, den sie nicht gewohnt war, dieser zur Schau gestellte, geschickt arrangierte Prunk, irritierte sie, machte sie verlegen, sie fühlte eine Art Scham angesichts dieses Überflusses, all dieser überflüssigen, in ihrer nutzlosen Schönheit entbehrlichen Dinge, ein Unbehagen erfaßte sie, das erst wieder wich, als sie das Haus schon verlassen hatte. Dieses Unbehagen taucht mit der Erinnerung an den Besuch in der Wohnung ihres Großonkels Hermann wieder auf.
Anni hatte einen Entschluß gefaßt, nichts davon ihren Eltern mitgeteilt, sie hatte sich heimlich zu diesem Besuch entschlossen, mit ihm einen Zweck verbunden. Sie wollte versuchen, was ihre Eltern unversucht ließen, wozu sich die Eltern nicht hatten entschließen können. Sie wollte die Frau ihres Großonkels um Hilfe bitten. Esther, das ahnte sie, verfügte über Mittel, diese Hilfe zu geben, sie würde, so hoffte Anni, dazu bereit sein, den Verwandten, die sie in glücklicheren Tagen so gerne besucht hatte, die sie umsorgt und bewirtet hatten, helfend zur Seite stehen.
Verlegen also, aber entschlossen, durchschritt Anni die schön möblierten Räume, betrat mit schon schäbig gewordenen Schuhen das glänzende Parkett und den weichen Teppich, wartete höflich, bis sie aufgefordert wurde, sich niederzusetzen, nahm dann auf einem mit Seide bezogenen Bänkchen Platz.
Was trinkst du, fragte die Tante, Tee oder Kaffee?
Anni entschloß sich für Tee, obwohl sie sicher war, daß sie Mühe haben würde, ihn zu trinken, sie hatte keinen Durst, obwohl ihr Hals trocken war, sie hatte auch keinen Appetit auf den Kuchen, den das Mädchen auf einer schön geformten Platte servierte. Sie würde, das fühlte sie, keinen Bissen davon hinunterbringen, obwohl sie mittags nicht viel gegessen hatte.
Die Tante bemerkte Annis Verlegenheit, aber sie ließ sich Zeit, goß den Tee in die Tassen, schob Anni die Zuckerdose zu, Anni nahm ein Stück Zucker, nahm auch von dem Kuchen, aß aber nicht.
Nun, sagte die Tante schließlich, warum bist du gekommen?
Jetzt mußte gesagt werden, was zu sagen war, nun hatte sich herauszustellen, was Hermanns Großnichte wollte, und es stellte sich heraus. Anni bat Esther um Geld.
Nicht für mich, versicherte sie, nein, für die Eltern, die nicht in der Lage waren, die Mittel zum Kauf einer Wohnung aufzubringen, nicht einmal den Betrag, der zur Anzahlung nötig war. Anni schilderte die Zustände, die der Tante bekannt sein mußten, sie beschrieb die Verhältnisse, unter denen die Eltern immer noch zu leben gezwungen waren, sie stieß mit rauhem Hals und trockener Zunge Sätze hervor, andere Sätze, als sie zu sagen vorgehabt hatte, sie redete eine ganze Weile und blickte dabei auf den Tee in ihrer Tasse, in dem der Zukker langsam zerging. Erst als es nichts mehr zu sagen gab, blickte sie auf.
Die Tante trug eine Brille mit goldenem Rand, hinter den Gläsern wirkten ihre Augen groß und kalt.
Um welchen Betrag handelt es sich, fragte Esther.
Anni nannte den Betrag.
Was kannst du für Sicherheiten bieten, fragte Esther.
Anni stockte. Daran hatte sie nicht gedacht.
Die Augen hinter der Brille veränderten sich, es schien, als ob Esther sich über die Verlegenheit der Nichte amüsiere. Bei diesem Betrag mußt du mir doch Sicherheiten bieten, sagte sie.
Wir würden das Geld zurückzahlen, sagte Anni trotzig. Das genügt nicht, erwiderte Esther. Du wirst zugeben, daß ich mich darauf nicht verlassen kann.
Auf meine Eltern kann man sich immer verlassen, stieß Anni hervor.
In der Situation, die du eben geschildert hast? sagte die Tante. Kannst du mir wenigstens etwas als Sicherheit geben, was Wert hat, fügte sie hinzu, irgendein Pfand? Anni überlegte, dann zog sie den Ring vom Finger, den der Vater ihr an jenem letzten Weihnachtsabend überreicht hatte, den sie noch daheim in B. verbracht hatten, jenem letzten Weihnachtsabend vor dem Ende des Krieges, es war ein Ring aus rötlichem Gold, geschmückt mit einem altmodisch gefaßten Brillanten. Der Ring hatte jenem Mädchen namens Luise gehört, das Heinrich seit seiner Schülerzeit in Mährisch Trübau gekannt hatte, mit dem er verlobt gewesen war, jener Luise, die jung gestorben war. Er hatte ihn ihr gekauft, es war ihr Verlobungsring gewesen. Nun sollte die Tochter ihn tragen, und Anni trug ihn auch, sie nahm ihn mit auf ihre im letzten noch möglichen Augenblick beschlossene Flucht, sie liebte diesen Ring und legte ihn niemals ab. Jetzt aber schien der Zeitpunkt gekommen, es trotzdem zu tun.
Ich habe nur diesen Ring, sagte Anni, ich gebe ihn dir als Pfand.
Die Tante lächelte, nahm den Ring, drehte ihn vor ihrer Brille hin und her, trat damit ans Fenster, um ihn besser betrachten zu können, kam wieder zurück.
Der Ring ist nicht viel wert, sagte sie, aber ich werde ihn schätzen lassen.
Da griff Anni nach dem Ring und steckte ihn wieder an den Finger zurück. Ihr Hals war noch trockener geworden. Nein, sagte sie, lieber nicht. Wir werden schon einen Weg finden, um das Geld zu bekommen.
Wie du meinst, sagte die Tante.
Abends lag Anni mit Fieber im Bett, besorgt legte ihr Valerie kalte Kompressen auf die Stirn, sie halfen nicht, am nächsten Tag stieg das Fieber auf vierzig Grad. Heinrich brachte aus dem Krankenhaus Medikamente nach Hause, aber das Fieber wollte nicht sinken. Eine besonders bösartige Grippe kursiere in Wien, sagte der Kollege, den Heinrich ans Bett der schwerkranken Tochter gebeten hatte, überall lägen die Leute krank, einige seien gestorben.
Anni träumte von kalten Augen hinter großen, in Gold gefaßten Brillengläsern. Es dauerte lange, bis sie gesund wurde und sich wieder erholte.
Ich will hier raus, sagte Judith, ich will wieder wie ein Mensch leben.
Das glaub ich dir, sagte Anni, das wollen wir alle.
Aber sie tun nichts dafür, sagte Judith, sie tun viel zu wenig dafür. Sie sitzen in diesem Stall und finden sich ab, sie werden sich jedenfalls total abfinden, wenn das noch längere Zeit so weitergeht. Sie werden stumpf, und sie werden alt.
Sie meinte ihre Eltern, die fortgegangen waren, um Bekannte zu treffen, es war ein Sonntagnachmittag, und die beiden Mädchen waren allein in dem Schrebergartenhaus.
Was sollen sie denn machen, fragte Anni. Es gibt keine Arbeit für deinen Vater, und es gibt keine Wohnungen, außer, wenn man dafür bezahlen kann.
Andere haben eine Wohnung durch das Wohnungsamt bekommen, sagte Judith trotzig.
Das sind Einzelfälle, erwiderte Anni, das weißt du ja. Das Wohnungsamt kann auch nicht zaubern, sagte sie. Sie dachte an ihren Besuch bei der Frau ihres Großonkels Hermann. Andere haben jedenfalls schon eine Wohnung, und sie haben auch eine Beschäftigung, rief Judith, irgend jemand hat sich gefunden, der sie ohne Arbeitsbewilligung beschäftigt hat. Sie schlug mit den Händen auf das hölzerne Bettgestell, auf dem sie saßen, Tränen schossen ihr in die Augen.
(Die Zeitspanne, in der alle Flüchtlinge die gleichen Möglichkeiten hatten, war sehr kurz, sagt 1980 eine ehemalige Beamtin des Wohnungsamtes einer westdeutschen Stadt, bald teilten sie sich wieder in verschiedene Schichten. Da waren jene, die hartnäckig waren, in gewisser Weise rücksichtsloser als die anderen, Ellenbogenmenschen, die auf der Treppe des Wohnungsamtes saßen, oder des Rathauses, die nicht weggingen, immer wieder kamen, bis man ihnen schon deshalb eine Wohnung gab, weil man sie endlich loswerden wollte. Die Bescheidenen, die Stillen, gerieten ins Hintertreffen. Schon vom Charakter her kann man nicht davon sprechen, daß alle die gleichen Chancen gehabt hätten, sagt sie. Das galt, wenn es überhaupt je gegolten hat, nur für die allererste Zeit.)
Andere sind ausgewandert, weggegangen, sagte Judith. Es gibt die verschiedensten Möglichkeiten, man muß sich nur darum kümmern, man muß sie wahrnehmen wollen.
Zum Auswandern sind unsere Eltern zu alt, sagte Anni. Ich sehe die beiden auf dem Stockbett im Gartenhaus sitzen, sehe ihre jungen Gesichter, in denen die Jahre noch keine sichtbaren Spuren hinterlassen haben, höre ihre noch unverbrauchten Stimmen, ich versuche mich an Sätze zu erinnern, die sie damals gesprochen haben. So wie du, meinte Judith, würde ich es nicht machen. Du hast dir das alles nicht überlegt.
Wie meinst du das, sagte Anni.
Du weißt schon, wie ich es meine, erwiderte Judith.
Die Burschen müssen jetzt vermögende Mädchen heiraten, das hatte eine Verwandte von Christian wenige Jahre zuvor zu einer Bekannten gesagt, zumindest war dies behauptet worden, die Bekannte hatte es weiter erzählt, Anni war das Gesagte zu Ohren gekommen. Nie ist geklärt worden, ob dieser Satz wirklich in der zitierten Form ausgesprochen worden ist, Anni fühlte sich trotzdem gekränkt, sie war arm, sie war nicht vermögend, sie hatte plötzlich das Gefühl gehabt, durch ihre Armut weniger wert geworden zu sein.
Hatte Judith nur ähnliches gemeint, hatte sie, auf ihre eigene Situation bezogen, ähnliches angedeutet, andeuten wollen? In Anni wurden Erinnerungen wach, sie hatte den vor Jahren gehörten Satz nicht vergessen, sie fühlte sich wieder gekränkt, weil sie nun von Judith Ausgesprochenes in umgekehrtem Sinn auf sich bezog. Nur Liebe, sagte Judith, das können wir uns in unserer Situation gar nicht leisten.
Man kann gemeinsam etwas aufbauen, sagte Anni, in ihrer Stimme waren Auflehnung und Trotz, vielleicht ist das dann mehr wert als etwas, das einem einfach in den Schoß gefallen ist.
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