Kitabı oku: «Hütet euch vor dem kriminellen Pfaffen», sayfa 2

Yazı tipi:

Manchmal hatte ich en Eindruck, sie spielte ihren Mitmenschen eine Rolle vor, nämlich die eines lebensbejahenden und fröhlichen Menschen, aber tief in ihrem Inneren war sie von Zweifeln und negativen Gedanken geplagt. Das konnte ich auch häufig feststellen, wenn ich sie unvermutet angerufen habe. Dann war sie teilweise mürrisch, fast unfreundlich, wenn es ihr gerade nicht in den Kram passte, wohingegen sie ein vollständig anderer Mensch zu sein schien, wenn sie selbst den ersten Schritt eines Anrufes getan hatte.

Ich wartete also zwei Tage ab, als ich aber weiterhin keinen Anruf erhielt, beschloss ich trotzdem ins Krankenhaus zu gehen und mir persönlich ein Bild über ihren Gesundheitszustand zu machen. Ein wenig schüchtern betrat ich das Krankenzimmer und war bestürzt: Sie lag im Bett, erhielt über eine Atemhilfe zusätzlichen Sauerstoff und rang nach Luft.

Ich schluckte, ging zu ihrem Bett, nahm ihre Hand und sagte mit leiser Stimme: „Ich weiß, dass du nicht wolltest, dass ich komme, aber ich möchte dir nur sagen, dass wir alle in Gedanken bei dir sind und für dich beten. Wenn es dir recht ist, komme ich morgen ganz kurz wieder, um zu sehen, ob es dir wieder besser geht.“

Daraufhin ging ich noch einmal im Schwesternzimmer vorbei, um mich zu vergewissern, ob mein Name samt Telefonnummer für Notfälle in den Patientenunterlagen vollständig erfasst war, wie es in der Patientenverfügung schriftlich festgelegt worden war. Eigentlich war das nur eine Vorsichtsmaßnahme, da Dr. Pohl mit seiner Unterschrift unter der Patientenverfügung schon vor Monaten eigenhändig bestätigt hatte, über meine Bevollmächtigung informiert zu sein.

„Es tut mir leid“, antwortete die Krankenschwester auf meine Frage. „Bei uns liegen keine Daten für einen Ansprechpartner vor. Wenn Sie mir aber jetzt Ihre Adresse nennen, werde ich sie sogleich nachtragen.“

Da war ja etwas gründlich schiefgelaufen. Ich war wütend auf Dr. Pohl. Tante Sophie hatte immer so von ihm geschwärmt, was für ein verständnisvoller, zuverlässiger und guter Arzt er sei und jetzt, wo sie wirklich Beistand, Hilfe und Unterstützung von mir brauchte, hatte er einfach vergessen, was er zuvor in seinen Arztterminen mit ihr besprochen hatte. Die Krankenschwester war aber freundlich, und sie traf sicherlich auch keine Schuld. Ohne meinen Ärger über Dr. Pohl zu zeigen, ergänzte ich daher lediglich meine Angaben zu den gewünschten Daten und verabschiedete mich anschließend.

In den folgenden Tagen rechnete ich mit dem Schlimmsten. Jeden Tag besuchte ich sie kurz im Krankenhaus in ihrem Zimmer, um zu sehen, wie es ihr ging, und ob ich etwas für sie erledigen konnte. Keine großen Gespräche, dafür war sie zu schwach. Sie sollte sich einfach nur erholen. Wie durch ein Wunder verbesserte sich ihr Gesundheitszustand ganz langsam Tag für Tag mehr, sie wurde wieder kräftiger und gesprächiger. Nach zwei Wochen war sie nahezu genesen. Wie sehr freute sie sich, als ich plötzlich am Tag ihrer Entlassung unvermutet an ihrer Zimmertür anklopfte, um sie mit dem Auto nach Hause zu bringen. Sie hatte auf ihre Selbstständigkeit immer großen Wert gelegt und auch diesmal wieder geplant, sich eigenständig eine Taxe zu rufen.

„Nein, so was!“, rief sie begeistert aus, als sie mich sah. „Liebe Julia, es ist ja sooo schön, dass du mich abholst!“

Doch die schwere Krankheit hatte Kraft gekostet, das Laufen fiel ihr fortan schwerer und der Arzt verordnete ihr wegen der Sturzgefahr einen Rollator. Mit dem Gedanken an einen Rollator konnte sie sich so gar nicht anfreunden. Sie als ehemalige Sportlerin, die einst mit Leidenschaft zum Schwimmen und Rudern ging, sich zu langen Wanderungen aufmachte oder Radtouren durch die Berge unternahm, wollte keinen Rollator. Wenn überhaupt verließ sie sich auf ihre zwei Gehstöcke. Mühsam konnte ich sie dazu überreden, mit mir gemeinsam in einem Sanitätsgeschäft einen Rollator auszusuchen und einige Tage später abzuholen.

„Ich brauche ihn aber eigentlich gar nicht“, behauptete sie dennoch weiterhin. „Ich kann ihn aber bei mir in der Wohnung in den Flur stellen – für alle Fälle.“

Als er aber erst einmal in ihrer Wohnung stand und sie keiner beobachtete, benutzte sie ihn dort erstaunlicher Weise doch immer häufiger.

Ihre elegante Wohnung befand sich in einer schönen, alten Villa direkt in der Stadt, lag jedoch leider im ersten Stock. Die wenigen Stufen in die erste Etage zu erklimmen, fiel ihr zunehmend schwer, und sie verließ immer weniger ihr Zuhause. Bald befasste sie sich schweren Herzens doch mit dem Gedanken, sie aufzugeben und in ein Seniorenstift zu ziehen. Vorausschauend wie sie war, hatte sie sich bereits vor Jahren dort angemeldet und brauchte jetzt nur noch auf ein für sie geeignetes Appartement zu warten. So einfach war das jedoch nicht, da es Tante Sophies Wünschen gemäß dennoch eine gewisse Größe, einen schattigen Balkon und einen Blick über die Stadt haben sollte.

Nach mehreren erfolglosen Anläufen fand sich endlich ein hübsches, kleines Appartement, das genau Tante Sophies Vorstellungen entsprach. Wir planten die künftige Einrichtung und beauftragten ein Umzugsunternehmen, das auch das gesamte Verpacken der Einrichtungsgegenstände übernehmen sollte.

„Du hast mir schon so viel geholfen, kümmere dich jetzt lieber wieder um deine Familie“, meinte meine Tante wie immer mitfühlend. „Am Umzugstag selbst brauchst du wirklich nicht zu kommen, da hat mir das Ehepaar Stark ihre Hilfe bei dem Umzug ganz fest versprochen.“

Ich verließ mich darauf, rief am Tag vor dem großen Umzug vorsichtshalber doch noch einmal an: „Ich wollte nur noch einmal nachfragen, ob alles gut läuft, oder ob ich noch etwas helfen kann?“

„Meine Raumpflegerin hat einiges organisiert, aber leider hat das Ehepaar Stark kurzfristig in dieser Woche eine Reise nach Florenz gebucht, und konnte sie jetzt nicht mehr verschieben.“

Ich spürte sofort, dass sie ziemlich verzweifelt war und sich nur nicht getraut hatte, mich erneut um Hilfe zu bitten.

„Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich bin morgen um 7.00 Uhr da, bis das Umzugsunternehmen kommt, können wir noch alles regeln.“

Sie seufzte erleichtert über meinen Vorschlag.

Am nächsten Morgen erkannte ich den Grund ihrer Besorgnis: Absolut nichts war geplant, geräumt und organisiert – Familie Stark hatte die fast 90 – jährige einfach im Stich gelassen! Lediglich einige angebliche Freunde und Bekannte hatten die Gunst der Stunde genutzt und sich Wertgegenstände wie Elektrogeräte, wertvolles Geschirr und Gläser, edle Möbel und Teppiche usw. unter dem Vorwand, dass sie die Dinge ja künftig nicht mehr unterbringen könne, unter den Nagel gerissen.

Nunmehr in Eile versuchten wir festzulegen, welche Teile eingepackt werden sollten und welche nicht.

Etwas verwundert war ich damals schon über die plötzlich abwertenden Bemerkungen von Tante Sophie, die Familie Stark betrafen: „Was soll ich denn mit diesen Unmengen von Bildern, Fotos und Gemälden von Familie Stark anfangen? Ich habe doch überhaupt keinen Platz mehr dafür.“

Das war zwar richtig, aber es klang nicht so, als ob sie das bedauern würde. Ganz im Gegenteil erweckte Tante Sophies Verhalten zunehmend den Eindruck, dass sie den Wandschmuck von Familie Stark nicht mehr wirklich schätzte und gerne darauf verzichten wollte. Irgendetwas musste zu einem gewaltigen Bruch zwischen ihr und der ehemals angehimmelten Familie Stark geführt haben, aber, gläubig wie sie war, sprach sie niemals schlecht über andere Leute und machte höchstens Andeutungen.

Doch für ihre Verhältnisse entglitten sogar ihr schon einige negative Äußerungen, wie z.B.: „Was soll ich mit dieser pinkfarbenen Stola? Ich habe sie letzte Woche von Frau Stark geschenkt bekommen, kann sie deshalb ja nicht gleich wegschmeißen – Pack sie mal erst mal ein.“

Pünktlich um 8.00 Uhr klingelten drei stämmig gebaute Möbelpacker des Umzugsunternehmens an Tante Sophies Haustür. Wir baten sie herein und führten sie gemeinsam durch die Wohnung, um ihnen zu zeigen, welche Dinge verpackt und mitgenommen werden sollten.

Noch bevor sie einen Handschlag ausgeführt hatten, warf der kleine, dickliche Angestellte einen gierigen Blick auf Tante Sophies handgeschnitzte, edelhölzerne Truhe, die im Flur stand und fragte unumwunden: „Wenn ich das richtig verstehe, soll die da nicht mit. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich sie für mich mitnehme?“

Tante Sophie war total überrumpelt. Ich warf einen Blick auf den auffällig großen Kasten mit dem schweren, gewölbten Deckel. Nun, die Truhe war bestimmt einmal höllisch teuer gewesen, und eigentlich war sie ein wirklich schönes Stück, aber weder Tante Sophie noch ich konnten sie in unserer Wohnung unterbringen.

„Ja, dann nehmen Sie nur…“, stimmte sie dann hilflos zu. „Ich habe sowieso keinen Platz mehr dafür.“

Obwohl das stimmte, ärgerte ich mich über den Möbelpacker. Er hatte ganz dreist die Überforderung der alten Dame durch den Umzug für seine Zwecke ausgenutzt. Da es ihre eigene Wohnung war, bestand überhaupt gar keine Eile die restlichen, dort verbleibenden Möbelstücke schnell loszuwerden. Wir hätten sie in aller Ruhe verkaufen oder Freunden eine Freude damit machen können. Verärgert musste ich beobachten, wie die Männer ihr wertvolles Beutestück als allererstes in den Möbelwagen schleppten, bevor sie nur einen Finger für Tante Sophie krumm machten. Ich versuchte aber mir nichts anmerken zu lassen, schließlich waren wir in den nächsten Stunden auf das Wohlwollen dieser Leute angewiesen. Was half es uns, wenn sie im Gegenzug nur „Dienst nach Vorschrift“ machten und spontan auftretenden Problemen und Aufgaben wenig flexibel gegenüber standen?

Es gelang mir, glaube ich, diesen für meine Tante großen Meilenstein ihres Lebens, den voraussichtlich letzten Umzug, doch noch halbwegs angenehm zu gestalten. Bis spät nachts räumte ich ihre letzten Umzugskartons aus, um ihr das neue Heim so schnell und schön wie möglich gemütlich einzurichten.

Sie lebte sich in ihrer Wohnung in dem Wohnstift, glaube ich, auch gut ein, zumindest hörte ich nie ein Wort des Bedauerns.

5.Nachlassende Kräfte

Ein weiteres Jahr verging, und sie hielt sich an unsere Abmachung: Sobald etwas Ungewöhnliches geschah und sie Hilfe benötigte, rief sie mich an und teilte es mir mit.

Anfang September läutete wieder das Telefon und Tante Sophie meldete sich, um mich über die neuesten Entwicklungen zu informieren: „Ich wollte dir nur kurz mitteilen, dass ich morgen ins Theresienkrankenhaus gehe. In den letzten Wochen habe ich große Schmerzen im Unterbauch gehabt. Der Chefarzt Dr. Pohl hat mit mir geschimpft, weil ich die von ihm dagegen verschriebenen Medikamente nicht regelmäßig genommen habe und hat mich jetzt aufgefordert, zur medikamentösen Einstellung eine Woche zu ihm ins Krankenhaus zu kommen. Bitte kümmere dich weiter um deine Familie und besuch mich nicht. Du weißt ja, ich möchte das nicht so gern.“

Das klang nicht akut besorgniserregend, und ich hielt mich wie versprochen an die Abmachung, sie nicht zu besuchen.

Die Woche verging wie im Flug. Am Donnerstag rief mich meine Schwiegermutter an, die meinen damals schwer krebskranken Schwiegervater, der zufälliger Weise zu der Zeit in dem gleichen Krankenhaus untergebracht war, besucht hatte.

„Stell dir mal vor, wen wir im Krankenhauscafé getroffen haben: Deine Tante Sophie“, erzählte sie. „Wir haben gemeinsam Kaffee getrunken, Kuchen gegessen und uns dabei ganz reizend unterhalten. Sie hat sich darüber beschwert, dass ihr im Krankenhaus keiner helfen konnte. Sie meint, ihr Aufenthalt dort ist somit völlig sinnlos und kostet den Krankenkassen nur Geld. Darum hat sie beschlossen, spätestens am Samstag auf eigenen Wunsch hin entlassen zu werden. Sie ist wirklich trotz ihres hohen Alters noch wahnsinnig fit, deine Tante Sophie, und sie weiß, was sie will.“

Ich hatte deshalb keinen Anlass, mir Sorgen zu machen. Zwar wunderte ich mich etwas, dass sich Tante Sophie am Wochenende nicht wieder bei mir zurückmeldete. Vielleicht hatte es mit der vorzeitigen Entlassung ja doch nicht so geklappt, wie sie es sich vorgestellt hatte. Mario und ich kennen es nur zu gut aus Krankenhäusern, dass man die meiste Zeit mit stundenlangem, Nerv tötendem Warten verbringen muss, ehe ernsthaft etwas geschieht. Verzögerungen sind da an der Tagesordnung.

Völlig überrascht war ich daher, als ich am Montagabend auf dem Geburtstag meines Schwiegervaters, der seinen letzten Ehrentag nochmals zu Hause feiern wollte, unvermittelt einen Anruf aus dem Krankenhaus auf meinem Handy erhielt: „Frau Reber hat mich gebeten, Sie anzurufen. Ihr geht es außerordentlich schlecht, und sie bittet Sie, so schnell wie möglich hier vorbeizukommen.“

Wie konnte es nur innerhalb so kurzer Zeit so unvermutet zu einer derartigen Verschlechterung ihres Zustandes kommen? Fluchtartig fuhren wir von der Geburtstagsfeier aus direkt ins Krankenhaus.

Ich hasse diese Krankenhausbesuche! Zu oft habe ich nach der Frühgeburt von Mario diese schwach ausgeleuchteten, endlos langen, leeren Gänge gehen müssen, ängstlich besorgt, welche schlechten Nachrichten und Kummer nun wieder auf mich warten würden – aber nur nichts anmerken lassen. Ein Todkranker darf die Sorgen und die Angst seiner Mitmenschen nicht spüren! Also schlucken, stark sein, lächeln und Optimismus ausstrahlen, auch wenn es schwer fällt!

Die letzte Tür im Gang führte zu Tante Sophies Zimmer. Es war das Sterbezimmer, wie ich von meiner Mutter wusste. Kurz durchatmen und dann klopfen. Keine Antwort. Ich öffnete also trotzdem die Tür und sah sie: Schwach war sie, etwas geistesabwesend und verwirrt, aber sie erkannte mich und freute sich offensichtlich sehr, mich zu sehen.

„Ich habe die Krankenschwestern so oft gebeten, dass sie dich anrufen und dir Bescheid geben, aber keine hat mich ernst genommen“, jammerte sie.

Sie tat mir so unendlich leid – so schwach, ausgeliefert und verletzlich.

„Morgen komme ich wieder“, versprach ich ihr. „Wir werden dann gemeinsam mit dem Arzt sprechen und versuchen zu klären, was mit dir in den letzten Tagen geschehen ist. Mach dir also keine Sorgen mehr, ich bin jetzt ja da.“

Erleichtert schloss sie die Augen und schlief ein.

Vorsichtshalber ging ich danach noch einmal zum Schwesternzimmer, um mich zu vergewissern, dass wenigstens diesmal, wie vorab besprochen, meine Personalien vollständig in Tante Sophies Patientenakte vom Chefarzt weitergegeben und aufgenommen worden sind. Ich war schon ein wenig sprachlos und entsetzt, dass das wieder nicht geschehen war. Das konnte ja wohl langsam kein versehentlicher Fehler mehr sein! Langsam gewann ich den Eindruck, dass es Absicht war, dass ich nicht informiert wurde. Gott sei Dank hatte Tante Sophie in ihrer Handtasche wenigstens ein kleines Kärtchen mit meiner Adresse und Telefonnummern gehabt, das sie der Krankenschwester in ihrer Not gegeben hatte, damit sie mich anrufen konnte. Jetzt war es aber endgültig an der Zeit, den Herrn Doktor am nächsten Tag bei der Visite persönlich zu fragen, weshalb ich abermals nicht von Tante Sophies schlechtem Zustand informiert worden war.

Am nächsten Morgen war ich schon relativ früh im Krankenhaus, weil nicht genau klar war, wann die hohen Herren ihre Visite abhielten.

Tante Sophies Gesundheitszustand hatte sich über Nacht nochmals verbessert, und sie hatte bereits meinem Besuch entgegengefiebert.

„Rede du doch bitte heute für mich mit Dr. Pohl und frag ihn, warum es mir so schlecht gegangen ist“, bat sie mich verzweifelt. „Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern. Ich höre doch ohne mein Hörgerät so schlecht, und hier nimmt mich im Augenblick sowieso niemand ernst.“

Das war das erste Mal, dass ich sie in ihrem Namen vertreten sollte, und ich wusste ihr Vertrauen sehr zu würdigen.

Wir mussten noch eine ganze Weile warten, bis es endlich an der Tür klopfte, und Herr Dr. Pohl samt Visitenanhang das Krankenzimmer betrat. Er war eigentlich nicht unfreundlich, vielleicht für einen Arzt ein wenig zu aalglatt und zu mitfühlend und mitleidig, als wenn er sich mit jemandem unterhielte, der etwas schwer von Begriff wäre.

„Was genau zu dem plötzlichen Absturz geführt hat, kann ich Ihnen auch nicht erklären“, antwortete er mir auf meine Frage nach der Ursache von Tante Sophies schlechtem Gesundheitszustand immerhin ehrlich. „Vielleicht hat sie zu viele Medikamente gleichzeitig genommen, die sich gegenseitig nicht vertragen haben oder es waren Nebenwirkungen eines Medikamentes. Klar ist jedoch, dass sie am Donnerstagnachmittag plötzlich in ihrem Zimmer zusammengebrochen ist und in ein lebensbedrohliches, tagelang andauerndes Delir verfallen ist und mit dem Tod gekämpft hat.“

Also war es noch an jenem Tag, als sie mit meinen Schwiegereltern gemeinsam im Café gesessen und ihre Entlassung geplant hatte, zu dem Zusammenbruch gekommen. Sehr verwunderlich alles.

Erstaunlicher Weise beantwortete er meine nächste, wichtige Frage, bevor ich sie selbst hätte stellen können.

„Ich habe Sie nicht informieren lassen, weil ich Sie nicht kannte“, versuchte er sich bei mir einzuschmeicheln und mich milde zu stimmen. „Frau Reber hat zwar Ihre Adresse bei mir hinterlegt, aber ich war mir nicht sicher, ob es sich dabei um eine wirklich vertrauensvolle Person handelt. Wenn ich Sie natürlich vorher gekannt hätte…“

Eigentlich trotzdem eine Frechheit. Er gab zu, dass er mich bewusst nicht hatte anrufen lassen, angeblich um Tante Sophie zu schützen. Weshalb gab es denn dann eigentlich die „Christliche Patientenverfügung“ überhaupt, deren Vorlage er Tante Sophie selbst zum Ausfüllen überreicht hatte, wenn er als Arzt eigenmächtig entscheiden würde, dass die gewählte Person ungeeignet ist? Aber er hatte eine ganz geschickte Art seinem Gegner den Wind aus den Segeln zu nehmen: Es gelang ihm, sich als ehrlich, selbstlos und mit guten Absichten darzustellen. So richtig konnte ich ihn noch nicht einschätzen und wusste auch nicht so recht, was ich von ihm halten sollte.

Ich besuchte Tante Sophie nun täglich im Krankenhaus und im Gegensatz zu früher schien sie sich nun auf meine ständigen Besuche im Krankenhaus zu freuen. Ganz im Gegenteil, als ich mich einmal stattdessen mit meinem Vater verabredet hatte, befürchtete sie sofort, dass ich aus irgendeinem Grund verärgert war, rief mich an und wollte sich entschuldigen. Dadurch merkte ich, wie wichtig ihr meine Besuche geworden waren. Wie durch ein Wunder war sie wieder vollständig genesen, vorbei das Delirium, und sie weihte mich nun endlich in die auf mich zukommenden bürokratischen Aufgaben ein. Gemeinsam füllten wir Anträge für die Kostenerstattung von der Krankenkasse aus, füllten Überweisungen für die vielen Rechnungen, die inzwischen angefallen waren, aus und fanden trotzdem noch viel Zeit über vergangene Zeiten zu reden. Sie hatte auch ihren Humor wiedergewonnen.

„Es ist schon schwer mit dem Altwerden“, scherzte sie einmal. „Du weißt schon, mir geht es wie den drei Affen: nichts sehen, nichts hören ….“

Ihr Hörgerät war im Krankenhaus verloren gegangen und auch der Bügel ihrer Brille durch das Liegen abgebrochen, wodurch sie bis zur Reparatur kaum etwas sah.

Ein Ereignis ist mir noch besonders gut im Gedächtnis geblieben: Als ich sie zum dritten Mal besuchte –sie war inzwischen schon wieder von ihrer kurzzeitigen Verwirrtheit genesen- saß sie aufrecht in ihrem Bett, die Handtasche auf die Beine gestellt und starrte entsetzt in ihr Portemonnaie.

„Sie haben mir alles herausgenommen, als ich krank im Bett lag“, stellte sie erschüttert fest. „Mein ganzes Geld und meine EC – Karte. Wir müssen sie unbedingt sperren lassen. Bitte wähle für mich diese Nummer der Bank.“

Welche unglaubliche Niedertracht, die Wehrlosigkeit einer todkranken alten Dame derart auszunutzen! Fassungslos riefen wir zusammen ihre Bank an und ließen die EC – Karte sperren, wobei es ihr inzwischen noch nicht einmal Probleme bereitete, ihre mehrstellige Kontonummer aus dem Gedächtnis heraus anzugeben.

„Wieviel Geld hattest du denn in deinem Portemonnaie?“, fragte ich.

„Nun, ich habe diesmal 500 € mitgenommen. Die anderen Male, wenn ich im Krankenhaus war, bin ich hinterher immer noch einmal extra mit der Taxe hierher gefahren und habe mich mit Scheinchen bei den einzelnen Helfern bedankt. Das wollte ich mir diesmal ersparen. Außerdem brauche ich hier ja auch immer etwas Geld, um mir kleine Sonderwünsche zu erfüllen, und - so viel sind ja 500 € nun auch wieder nicht, oder?“

Nun, ich sah das zwar etwas anders, aber das passte zu ihr: Sie war immer ungemein großzügig, bedankte sich mit sehr generösen Geldgeschenken und erkaufte sich auf der anderen Seite damit die Freundlichkeit der Mitmenschen. Jede Kellnerin freute sich natürlich und empfing sie herzlich, wenn sie als Stammgast das Restaurant besuchte, und doch war nie ganz klar, ob diese Freundlichkeit wirklich durch ihre Persönlichkeit und Ausstrahlung oder doch nur durch ihre außerordentliche Großzügigkeit hervorgerufen worden ist. Wahrscheinlich spielte häufig beides eine Rolle, aber es gab sicher auch eine Vielzahl von Mitmenschen, die ihre Freigiebigkeit ausgenutzt haben, was ihr aber oft nicht verborgen blieb.

Im Krankenhaus glaubte ihr aber keiner der Angestellten, dass sie tatsächlich mit 500 € in die Klinik gekommen war, und sie hielten sie immer noch für ein wenig verwirrt.

„Lass sie doch denken, ich sei ein wenig plem – plem, denn das macht mir nichts aus“, versuchte sie mich zu beruhigen, als ich mich über die herablassende Art einer Krankenschwester aufregte.

„Die Leute unterschätzen mich immer und glauben, dass ich vieles nicht mitkriege“, vertraute sie mir ein wenig nebulös an. „Doch da täuschen sie sich. Der Tresorspezialist Priese, zum Beispiel, hat mir damals beim Einbau meines Safes eine Safekarte überreicht, mit der ich bei Bedarf jederzeit einen Schlüssel nachmachen könne. Als die Schlüssel dann aber tatsächlich einmal verloren waren, wollten sie davon nichts mehr wissen. Stattdessen haben sie mir ein neues, teures Schloss verkauft und dachten, ich würde nicht mitbekommen, dass sie mich betrogen haben.“

Viel später sind mir das Ausmaß und der Sinn dieser Bemerkung erst richtig klar geworden.

Mein Vertrauen in die Richtigkeit ihrer Aussagen wurden belohnt, als ich später einen Blick auf ihren Kontoauszug werfen durfte: Sie hatte am Tag vor dem geplanten Krankenhausaufenthalt 1000 € von ihrem Konto abgehoben, eine Hälfte davon hatte sie in dem Safe in ihrer Wohnung deponiert, die andere hatte sie wirklich mitgenommen.

Ein derartig niederträchtiger Diebstahl musste meiner Meinung nach wenigstens bei der Polizei angezeigt werden, aber sie weigerte sich standhaft.

„Der, der das Geld genommen hat, wird es schon brauchen“, wiederholte sie immer wieder.

Diese eigenartige Logik konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen, jedoch passte sie gut zu dem Spruch aus ihrem Tagebuch:

Tut dir jemand wirklich weh,

dann bedenke, diesem jemand geht es schlecht,

sonst hätte er es nicht getan.

Als sie nach zwei Wochen entlassen wurde, war sie glücklich wieder in ihre Wohnung im Wohnstift zurückkehren zu können und voller neuer Pläne. Sie überlegte, ob sie an dem dort angebotenen Computerkurs teilnehmen sollte oder vielleicht auch an einem Englischkurs. Ich erinnere mich noch, wie sie strahlend in ihrem Sessel saß, die Arme ausbreitete und mich voller neugewonnener Lebensfreude in den Arm nahm.

Leider verpufften diese Pläne wieder, als sie der Alltag einholte. Ganz im Gegenteil, es war ihr peinlich, den vielen neugierigen Fragen und dem Tratsch ihrer Mitbewohner über ihren Gesundheitszustand ausgesetzt zu sein, und sie igelte sich zunehmend in ihrer Wohnung ein. Selbst das Essen ließ sie sich nun im Zimmer servieren und verließ ihre Wohnung zu einem kleinen Spaziergang leider viel zu selten. Immerhin schaffte sie es, mit mir gemeinsam die im Wohnstift ansässige Bank aufzusuchen und mir für ein kleines Unterkonto eine Vollmacht auszustellen. Fortan war ich jetzt wenigstens in der Lage, für sie die Bürokratie und Überweisungen eigenständig zu erledigen.

Es ging gerade einmal vier Wochen gut, dann erreichte mich am Samstagmorgen wieder ein Anruf von ihr. Dass es ihr nicht gut ging, konnte man sofort an ihrer Stimme erkennen und sie versuchte diesmal auch gar nicht erst, die Fröhliche zu spielen. Ich glaube, durch die lange Krankenhauszeit hatte sie gelernt, mir gegenüber ihre heitere Maske, wenn ihr eigentlich gar nicht danach war, abzulegen – und das war gut so.

„Liebe Julia, kannst du heute bitte einmal bei mir vorbeikommen?“, fragte sie frei raus und hustete dann fürchterlich. „Ich möchte dir gerne etwas geben. Mir ging es heute Nacht ganz elend – so elend, dass ich dachte, der Herrgott würde mich holen wollen.“

Oh je, das klang ja ganz schlecht. Ich warf mir den Mantel über, sprang ins Auto und fuhr in das Wohnstift und tatsächlich: Sie war nicht einmal angezogen und lag nur mit ihrem weißen Bademantel bekleidet auf dem Sofa.

Als sie mich sah, zog sie sich zum Sitzen hoch, nahm einen Schlüsselbund aus ihrer Bademanteltasche und gab ihn mir. „Nimm bitte diesen Schlüssel und schließ damit den Safe auf“, bat sie mich. „ Bring mir dann bitte die schwarze Kiste, die darin steht.“

Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als ich die große schwarze Lederkiste vor uns auf den Wohnzimmertisch stellte. Tante Sophie öffnete mit zittrigen Händen das kleine Schloss, machte den Deckel auf und jede Menge wunderschöne Schmuckstücke -Ketten, Ringe, Ohrringe, Broschen und sogar ein glänzender kleiner Goldbarren- kamen zum Vorschein.

„Ich möchte dir alles jetzt schon geben. Ich brauche es ja nicht mehr.“

Ich war geschockt und den Tränen nahe. Nein, das wollte ich nicht. Es war wie ein endgültiger Abschied und ich weigerte mich.

Sie bestand darauf: „Klar - du musst ihn nehmen, und ich bitte dich, mach mir die Freude und trag ihn auch. Er wird wunderschön an dir aussehen. Nur meine goldene Uhr, die möchte ich erst noch ein bisschen behalten, die bekommst du dann später. Nur leider ist die Batterie alle.“

Das war das geringste Problem: Ich nahm sie, verließ die Wohnung und ließ sie bei einem nahegelegenen Uhrmacher wechseln.

Als ich nach ungefähr einer halben Stunde wieder in ihre Wohnung zurückkam, hatte sie sich in dieser Zeit trotz ihrer Schwäche vom Sofa erhoben, mühsam mit dem Rollator zum Safe gequält und die Schmuckkiste wieder dort eingeschlossen.

„Nun, es kann doch sein, dass jemand mir den Schmuck wegnimmt, wenn ich hier hilflos auf dem Sofa liege“, versuchte sie zu erklären.

Ich war überrascht, dass sie derart misstrauisch geworden war. Ich war doch nur kurz weg gewesen, und die Wohnung war immerhin abgeschlossen gewesen.

Dann drängte sie mich wieder, das Schmuckkästchen an mich zu nehmen, und ich erklärte mich sehr widerstrebend bereit, es für sie aufzubewahren, bis es ihr wieder besser gehe.

„Morgen kommen Herr Stark und seine Frau nachmittags zum Kaffee zu Besuch“, erwähnte sie unvermutet.

Da ich Herrn Stark auf Tante Sophies Geburtstagfeier wenig sympathisch gefunden und auch seine herrschsüchtige Art dort nicht gemocht hatte, wollte ich ihm nicht unnötig begegnen. Ich beschloss, einen Tag verstreichen zu lassen und mich erst am folgenden Tag, also dem Montag, wieder bei ihr nach ihrem Gesundheitszustand zu erkundigen.

Schon früh am Morgen stand ich vor ihrer Wohnungstür und klingelte.

Sie öffnete und empfing mich unwirsch: „Was willst du denn schon wieder hier?“

Nach dieser unerwarteten, unfreundlichen Begrüßung wäre ich am liebsten sofort wieder umgekehrt und gegangen. Aufdrängen wollte ich mich wirklich nicht und hatte eigentlich andere Dinge zu tun.

Doch ich erwiderte freundlich: „Dir ging es am Samstag so schlecht, da wollte ich mich nur vergewissern, ob es dir heute wieder besser geht.“

Mit ihrem Rollator ging sie wieder zurück zu ihrem Sessel, setzte sich und jammerte verzweifelt: „Ich kann meinen Schlüsselbund nicht finden und mein Blutdruckmessgerät ist auch weg.“

„Er kann doch nicht weg sein“, antwortete ich. „Wir werden ihn bestimmt finden. Wann hast du den Schlüsselbund denn das letzte Mal gehabt?“

„Gestern als Starks da waren. Sie haben ihn bestimmt mitgenommen.“

Herr Stark war mir zwar unsympathisch, aber weshalb um alles in der Welt sollte er ihren Schlüsselbund mitnehmen?

Sie war total außer sich. „Du weißt nicht, was er gestern getan hat“, deutete sie geheimnisvoll an. „Aber nein, ich darf dir das nicht sagen.“

„Wenn du meinst, Herr Stark habe ihn versehentlich eingesteckt, ruf ihn doch einmal an und frag nach“, schlug ich ihr vor, was sie auch sofort tat.

Doch ich war überrascht: Eben war sie noch aufgewühlt gewesen, fast aggressiv.

Als sich aber nun Frau Stark am Telefon meldete, war Tante Sophie plötzlich wieder komplett verwandelt und gab sich nahezu so freundlich wie immer: „Entschuldige die Störung, liebe Brigitte. Ich vermisse heute meinen Schlüsselbund und wollte nachfragen, ob ihr ihn vielleicht gestern eingesteckt habt.“

Da Frau Stark offenbar auch keine hilfreichen Angaben über den Verbleib des Schlüsselbunds machen konnte, suchte ich einfach weiter, während sich Tante Sophie höflich von ihr verabschiedete.

Nach kurzer Zeit fand ich in der Tat das Blutdruckmessgerät, das die Pflegerin wohl vom Tisch auf den Stuhl gelegt hatte, und kurz darauf entdeckte ich auch den Schlüsselbund, der sich versehentlich noch in der gleichfarbigen Hose befunden hatte, die Tante Sophie am Morgen in den Waschkorb gegeben hatte.

Tante Sophies Unmut war im Nu wie weggeblasen, und sie war unendlich dankbar, dass die verlorengegangenen Dinge wieder aufgetaucht waren.