Kitabı oku: «Hütet euch vor dem kriminellen Pfaffen», sayfa 3

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Nun widmete ich mich wieder dem eigentlichen Grund meines Kommens: Ihrem Gesundheitszustand, und der war offenkundig sehr schlecht. Es war erkennbar, dass ärztliche Hilfe unbedingt notwendig war: Sie hustete schwer und ihr Atem rasselte. Da sie auf keinen Fall wieder ins Krankenhaus wollte, vereinbarte ich am Nachmittag einen Termin bei einer nahegelegenen Ärztin, und Tante Sophie ließ sich darauf ein.

Wie unendlich schwer war für sie die kleine Strecke von der Wohnung runter zum Auto und dann erst der Weg vom Auto aus die Treppen hoch bis in die Arztpraxis. Wir mussten ansitzen und lange warten, bis wir endlich an der Reihe waren.

Wie von mir befürchtet, diagnostizierte die Ärztin eine Lungenentzündung, erklärte sich aber dazu bereit, diese hausärztlich im Wohnstift zu betreuen. Tante Sophie war glücklich, wieder in ihre Wohnung zurückkehren zu dürfen.

Anschließend besorgte ich für sie die notwendige Medizin, Obst, Säfte und Suppen, wie die Ärztin verordnet hatte.

„Ich bin dir ja so dankbar“, begrüßte sie mich wieder, als ich mit meinen Einkäufen zurückkam und erstattete mir sogleich meine Auslagen. „Ich habe noch eine Bitte an dich: Bitte, nimm mein wertvolles Silbergeschirr mit, bevor er sich das auch noch nimmt.“

Tante Sophie deutete mit einer Handbewegung auf die Silberschale, die Silbervase und die dazugehörige Silberkanne, die zur Dekoration auf ihrem Wohnzimmerschränkchen standen. Während ihres Umzugs in das Wohnstift hatte sie mir anvertraut, dass ihr diese Prachtstücke besonders am Herzen lagen, da sie einst Geschenke ihres Mannes gewesen waren. Für Tante Sophie überwogen daher zweifellos die immateriellen Werte des Silbergeschirrs, und trotzdem wollte sie sich so überstürzt davon trennen?

Ich war völlig sprachlos. Wie kam sie darauf, dass er, vermutlich meinte sie den von ihr ehemals so sehr verehrten Pastor Stark, gegen ihren Willen ihr Silbergeschirr an sich nehmen sollte? Jetzt übertrieb sie aber doch etwas mit ihrem Misstrauen, fand ich und weigerte mich, es einzustecken, zumal es für sie mit vielen schönen Erinnerungen verbunden war. Sie war zwar nicht zufrieden damit, hatte aber nicht mehr die Kraft zu diskutieren.

Leider war es nur wenige Tage möglich, einen erneuten Krankenhausaufenthalt zu vermeiden.

Ich war gerade im Auto auf dem Weg zum Einkaufen, als mich der Anruf der behandelnden Krankenhausärztin erreichte: „Ihre Tante ist heute hier eingeliefert worden. Sie hat berichtet, dass Sie die Patientenverfügung haben, und ich möchte Sie daher bitten, zur Aufnahme der Personalien möglichst schnell ins Krankenhaus zu kommen.“

Das klang ernst. Sie lag noch in der Aufnahmestation, hinter einem der aneinandergereihten Plastikvorhänge.

„Da ist er ja wieder, mein Engel Julia, und wird alles für mich regeln“, begrüßte sie mich an jenem Tag schwer atmend.

Die Ärztin nahm mich zur Seite, notierte sich meine Adresse und sprach dann über den schlechten Gesundheitszustand meiner Tante, und dass man sich Gedanken machen müsse, ob es nicht langsam Zeit wäre, nicht mehr gegen den Tod anzukämpfen. Ich verstand erst nicht so richtig, was sie meinte.

„Ihre Tante ist schwer herzkrank“, erklärte sie daraufhin. „Daher kommt auch ihre Atemnot. Wenn wir die jetzige Medikation einschließlich der Herzmedikamente absetzen würden, ließen wir der Natur ihren Lauf. Wir würden ihr natürlich stattdessen Schmerzmittel und angstlösende Medikamente verabreichen. Jetzt ist durchaus der Zeitpunkt, wo wir langsam darüber nachdenken müssen.“

Ich war geschockt und spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten. Natürlich war sie sehr krank, das hatte ich auch gesehen – aber so, dass keine Hoffnung auf Besserung mehr bestand?

Das Leben hatte mir gezeigt, dass auch die Prognosen der Ärzte nicht immer richtig waren, und der Glaube daran, dass sich alles zum Guten wendet, förmlich Berge versetzen kann. Auch bei meinem Sohn Mario hatten sie nach seiner Geburt gesagt, dass er später einmal schwerstbehindert sein würde, und zu welch einem aufgeweckten, lebensfrohen Jungen, wenn auch mit einigen körperlichen Einschränkungen, hat er sich trotzdem entwickelt!

Das weitere Vorgehen sollte im Fall meiner Tante aber der Chefarzt entscheiden und mit uns besprechen. Ich setzte mich traurig an ihr Bett, nahm ihre Hand, streichelte sie, und sie freute sich sichtlich. Wir warteten auf den Chefarzt, stundenlang, aber der kam nicht. Gegen Abend erfuhren wir, dass er wegen eines Termins das Haus bereits schon längst verlassen hatte, und meine Tante die Nacht leider in der Aufnahmestation verbringen müsste, da alle Zimmer belegt waren.

Am folgenden Morgen war sie in ein Einzelzimmer verlegt worden, erhielt ein wenig Sauerstoff zur Atemerleichterung, wodurch es ihr ein klein wenig besser ging.

„Liebe Julia, ich möchte mich noch einmal bei Adolf Starks Tochter Eva und ihrer Familie bedanken“, begann sie nach der Begrüßung. „Gibst du mir bitte das Telefon und wählst die Nummer?“

Evas Ehemann meldete sich am anderen Ende der Leitung.

„Ich bin im Krankenhaus“, japste Tante Sophie nach Luft ringend. „Mir geht es sehr schlecht. Ich möchte mich noch einmal bei euch ganz herzlich bedanken, dass ich euch manchmal besuchen durfte.“

„Ich kann dich kaum verstehen“, antwortete Evas Ehemann kurzangebunden. „Eva ruft zurück.“ und - legte einfach auf!

Tante Sophie war vollständig fassungslos: „Jetzt hat er die auch schon angesteckt!“

„Hör mal, Julia, ich habe mir heute Nacht etwas überlegt“, keuchte sie dann. „Ich möchte nicht mehr, dass Adolf auf meiner Beerdigung die Ansprache hält, sondern die Pastorin Kluge. Du hast doch auch gesagt, dass du die Pastorin Kluge nett findest, als wir sie neulich zusammen getroffen haben. Und bei dem, was er gemacht hat, … nein, aber das darf ich dir nicht sagen…“

Ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, womit der Pastor Stark Tante Sophie so unsagbar verletzt hatte, dass sie ihn sogar als Trauerredner bei ihrem Begräbnis nicht mehr haben wollte. Was war nur vorgefallen?

„Ja, ich fand die Pastorin nett“, bestätigte ich. „Die Entscheidung, wen du als Trauerredner einsetzen möchtest, musst du aber ganz alleine treffen. Wenn du aber von deinem alten Entschluss, Herrn Stark dafür zu wählen, abweichen willst, musst du das aber selbst handschriftlich verfassen. Nur dann kann ich das für dich durchsetzen, da du bereits beim Beerdigungsinstitut Herrn Stark als deinen Trauerredner schriftlich genannt hast.“

„Gut, dann gib mir bitte einen Zettel und einen Stift“, bat sie.

Unter großer Anstrengung verfasste sie mit krakeliger Schrift im Bett sitzend das Schreiben, das ich dann zur Aufbewahrung in meine Handtasche steckte.

Kurz darauf klingelte tatsächlich das Telefon und Eva meldete sich. Tante Sophie wiederholte mit viel Mühe nochmals die Worte, die sie bereits an Evas Ehemann gerichtet hatte, und hielt dabei den Hörer so weit entfernt vom Ohr ab, dass ich das Gespräch unwillkürlich mitverfolgen musste.

„Es tut mir leid, dass du wieder im Krankenhaus bist“, antwortete Eva. „Ich kann dich aber schlecht verstehen. Ich werde dich im Laufe der Woche anrufen, wenn es dir wieder besser geht, außerdem höre ich, dass du Besuch hast…“

Das Gespräch war sehr kurz und, wie ich fand, erschreckend herzlos, wenn man bedenkt, dass sich hier eine Sterbende vielleicht ein letztes Mal von ihren Lieben verabschieden wollte.

Doch Tante Sophie war nicht so anspruchsvoll.

„Immerhin hat sie ja doch zurückgerufen“, überlegte sie laut. „Vielleicht sollten wir das Schreiben ja wieder vernichten. Ja, es ist besser so. Zerreiß es bitte wieder!“

Mir war völlig unklar, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, doch ich zerriss das eben noch so mühsam verfasste Schreiben vor ihren Augen und warf es in den Papierkorb, allerdings mit einem etwas unguten Gefühl.

Ich besuchte sie wieder täglich und es war auch diesmal wie ein Wunder: Es ging ihr von Tag zu Tag besser. Ich kann mich noch daran erinnern, welche Freude sie daran hatte, als ich ein altes Fotoalbum von mir mitbrachte. Wir betrachteten gemeinsam ganz alte Fotos von Ausflügen und Reisen, die sie als Kind in den dreißiger und vierziger Jahren mit meinem Vater, ihren und seinen Eltern, damals schon mit dem Auto, gemeinsam unternommen hatte.

Sie erzählte mir von ihrer furchtbaren Schulzeit in der katholischen Grundschule, wo sie fast täglich von ihrem Lehrer mit kräftigen Schlägen auf den Rücken „gezüchtigt“ beziehungsweise misshandelt wurde, obwohl sie eine durchaus gute Schülerin war. Eines Tages weigerte sie sich endgültig zur Schule zu gehen und ihre Eltern fanden eine ungewöhnliche Lösung, um sie vor den körperlichen Übergriffen des Lehrers zu schützen: Sie ließen sie evangelisch umtaufen, sodass sie fortan eine andere Schule besuchen durfte, wo weniger aggressiv von den Lehrern geschlagen wurde.

„Nein“, antwortete sie auf meine entsprechende Frage, „ich habe meine Schüler später niemals geschlagen, obwohl es damals durchaus noch üblich war.“

Tante Sophie blätterte in dem alten Fotobuch und deutete auf ein verblichenes Schwarz-Weiß-Foto: „Das ist mein Vater vor unserem Geschäft. Damals war er noch gesund. Wir hatten schon in frühen Jahren in unserem Laden die Erlaubnis, losen Alkohol zu verkaufen. Vorbeifahrende Kohlenhändler nahmen dieses Angebot gerne an, und wir konnten damit gutes Geld verdienen.“

Sie senkte den Kopf und sprach leise weiter: „Leider hat sich mein Vater durch die ständige Gegenwart von Alkohol selbst zum Trinken verleiten lassen. Das hat sein Wesen total verändert. Er wurde aggressiv und sogar handgreiflich.“

Ich hatte schon davon gehört und konnte mich sogar noch vage darin erinnern, wie er meine Mutter und mich als kleines Kind einmal wegen einer Nebensächlichkeit wutentbrannt aus seinem Haus geschmissen und uns sogar noch lallend hinterhergebrüllt hatte. Seitdem hatte ich ihn nie wiedergesehen. Wenn er betrunken war, soll er auch seine Frau sehr brutal behandelt haben. In unserer Familie wurde sogar erzählt, dass er Tante Sophies Mutter während eines Streites brutal gewürgt haben soll.

Es war selten, dass Tante Sophie so unangenehme Dinge aus ihrer Vergangenheit erzählte, meistens beschränkte sie sich auf erfreuliche Ereignisse und schöne Erlebnisse, wie von ihrem treuen Schäferhund Rolf, der sie während der Schulzeit jeden Morgen den langen Weg zur Straßenbahn begleitete und dann in der noch autoarmen Zeit selbstständig und alleine wieder nach Hause lief. Sein Foto stand noch im Wohnstift auf ihrem Nachttisch.

„Die unangenehmen Zeiten habe ich vergessen“, behauptete sie immer, aber ich glaube, sie wollte einfach nicht darüber sprechen.

Stattdessen schwärmte sie von dem Zusammenhalt der Familie und den feucht-fröhlichen Familienfeiern in den Fünfzigern, die auch auf vielen Fotos festgehalten sind.

Diesmal dauerte ihr Krankenhausaufenthalt zehn Tage, dann konnte ich sie wieder aus dem Krankenhaus abholen und nach Hause bringen. Doch im Gegensatz zu dem letzten Mal setzte sie sich etwas ratlos in ihrer Wohnung auf den Sessel, diesmal keine große Freude und auch keine Zukunftspläne. Irgendwie schien sie selber nicht damit gerechnet zu haben, wieder gesund zu werden, und der Lebensmut war ihr offenbar abhandengekommen.

Das konnte nicht lange gut gehen, und es dauerte nur eine Woche, dann ging alles wieder von vorne los: Anruf vom Krankenhaus am frühen Morgen, dass Tante Sophie schon wieder mit akuten Herzproblemen eingeliefert worden ist, diesmal jedoch auf der Intensivstation lag.

Der Besuch in der Intensivstation war für mich am allerschlimmsten. Wie oft habe ich Mario nach seiner Geburt in der Intensivstation besucht, jedes Mal voller Angst, wie es ihm geht, und ob er überhaupt noch am Leben ist. Ich wusste genau wie das abläuft: Erst voller Sorge vor der Station klingeln, nach einer kleinen Ewigkeit kommt eine Schwester und zeigt den Raum, wo man sich die sterilen Kittel anziehen kann. Schon allein dieser fürchterliche stechende Geruch der Sterilisationsmittel und das schrille Klingeln der Alarmtöne erinnerten mich an zurückliegende, schreckliche Zeiten, die ich eigentlich vergessen wollte, und trieben mir die Tränen in die Augen. Jetzt wieder, wie gewohnt, zusammenreißen, keine Schwäche zeigen, schlucken, kräftig durchatmen und sich allein auf die Patientin konzentrieren.

Als ich das Zimmer betrat, lag sie in dem Bett am Fenster und schlief friedlich.

Doch sie musste gehört haben, dass jemand gekommen war, denn sie öffnete die Augen.

„Dass du wieder gekommen bist!! Liebe, liebe Julia!“, flüsterte sie dankbar. „Du bist immer da, wenn man dich braucht“.

Ich hielt ihre Hand und sie döste noch ein wenig, bis der Arzt kam und sie untersuchte. Er machte mir noch einmal klar, wie schwach Tante Sophies Herz war, wollte sie aber trotzdem im Laufe des Tages auf die Normalstation verlegen lassen, was dann auch geschah. Jedoch diesmal fühlte ich, dass sie aufgegeben hatte und der ganze Lebensmut von ihr gegangen war. Sie schien sich den Tod jetzt förmlich zu wünschen und sehnte sich als gläubige Christin sogar nach einem weniger beschwerlichen Leben nach dem Tod.

Trotz allem sah es eine Zeitlang so aus, als würde sie sich abermals erholen. Ganz langsam ging es wieder bergauf, und ich hoffte schon, sie zum dritten Mal in Folge halbwegs genesen aus dem Krankenhaus abholen zu können.

Es war ein Schock für mich, als ich sie am Samstagmorgen besuchte, und sich ihr Gesundheitszustand plötzlich über Nacht dramatisch verschlechtert hatte.

Trotzdem erkannte sie mich und freute sich sichtbar über mein Kommen, eine Unterhaltung wurde aber schwieriger. Wir hörten stattdessen gemeinsam geistliche Chormusik von meinem CD-Player, und ich hielt dabei ihre Hand. Als das Vaterunser gesungen wurde, faltete sie die Hände betend zusammen und richtete ihren Blick anbetend nach oben. Ich bewunderte sie für ihren tief empfundenen Glauben und hoffte, dass sie dafür belohnt wurde. Das sollte die letzte Erinnerung für mich an Tante Sophie werden.

6.Plötzlicher Abschied

Der folgende Tag entwickelte sich als einer der schrecklichsten meines Lebens.

Wie gewohnt ging ich am nächsten Morgen die langen Krankenhausgänge entlang, grüßte die netten Krankenschwestern, die ich inzwischen schon kannte, klopfte kurz an Tante Sophies Zimmertür, trat aber, da ihr die Antwort inzwischen schon schwer geworden war, ohne abzuwarten ein.

„Guten Morgen“, grüßte ich und ging zu ihrem Bett.

Fassungslos blickte ich kurz darauf auf Tante Sophie: Noch niemals zuvor hatte ich einen toten Menschen gesehen, doch in diesem Augenblick war mir sofort klar, dass sie verstorben war. Die Hautfarbe war gelblich und sah ein wenig aus als wäre sie aus Wachs. Panikartig verließ ich den Raum und holte eine Krankenschwester.

Ein kurzer Blick ihrerseits genügte, und sie bestätigte meinen ungeheuerlichen Verdacht.

„Vor einer halben Stunde haben wir sie noch gewaschen und ihr Bett gerichtet“, sagte sie. „Dass es so schnell geht, hätten wir nicht gedacht. Ich hole den Chefarzt Dr. Pohl, damit er den Totenschein erstellen kann. Sie können sich inzwischen noch einmal in Ruhe von ihr verabschieden.“

Daraufhin verließ sie das Zimmer, und ich war wieder allein mit Tante Sophie.

Mir liefen die Tränen über die Wange, als ich zu ihrem Bett ging und ihr sanft über die Wange strich: „Jetzt hast du es geschafft.“, flüsterte ich. „Du hast es dir ja so sehr gewünscht… Ich hoffe, es wird jetzt alles so, wie du es dir ersehnt hast.“

In diesem Augenblick trat schon Dr. Pohl ein, und ich hatte keine Zeit mehr, weiter zu trauern. In vielen Jahren habe ich gelernt mit solch schweren Situationen umzugehen. Ich lasse dann keine Gefühle mehr an mich heran und reagiere wie fremdgesteuert. Wenn dieser Zustand wieder vergeht und kein akuter Handlungsbedarf mehr erforderlich ist, breche ich meistens zusammen, und es geht mir dann dafür besonders schlecht.

Ganz sachlich sprach ich also mit dem Arzt der Palliativstation, der Tante Sophie schon so viele Jahre lang behandelt hatte. Vor Wochen hatte ich ihn ja bereits bei einer Visite bei Tante Sophie im Krankenhaus kennengelernt.

„Ihr Lebenswille war erschöpft“, stellte er fest und ich stimmte ihm zu. „Ich gebe zu, dass es sicherlich ein Grenzfall war. Als Chefarzt der Palliativstation bin ich definitiv gegen die aktive Sterbehilfe, da es viele andere Möglichkeiten gibt, der Natur ihren Lauf zu lassen und den Betroffenen medikamentös Schmerzen und Ängste zu nehmen. Seit Freitag haben wir ihre Medikamente, speziell ihre Herzmedikamente, abgesetzt, um ihren Wunsch nach einem Übergang in ein höheres Leben zu erfüllen und uns nicht durch die Einnahme lebensverlängernde Arzneien dagegen zu stemmen.“

„Wieso hat er das nicht vorher mit mir abgesprochen?“, schoss es mir sogleich durch den Kopf. „Ich habe doch die Patienten- und Betreuungsverfügung, was ihm auch durchaus bewusst ist. Trotzdem hat er alles hinter meinem Rücken alleine entschieden.“

Dennoch war ich dermaßen mit der Situation überfordert, dass mir die Kraft fehlte, mich mit ihm jetzt und hier zu streiten, zumal ich nicht sicher behaupten konnte, dass es eine Fehlentscheidung war.

Es klopfte, Schwester Kristina betrat das Zimmer und unterbrach damit eine weitere Diskussion.

„Wir haben jetzt die unangenehme Aufgabe, alle Wertgegenstände der Verstorbenen zu erfassen und in Briefumschlägen zu versiegeln“, erklärte sie mir. „Das wird eine Weile dauern. Wir packen auch ihren Koffer, und Sie können dann alles zusammen in etwa einer Stunde abholen. Es besteht auch die Möglichkeit für Freunde und Angehörige, sich anschließend noch einmal von ihr zu verabschieden. Bitte benachrichtigen sie die, wenn es Ihnen möglich ist.“

Ich nahm daraufhin Tante Sophies Adressbuch vom Nachttisch, wobei mein Blick auf einen handgeschriebenen Zettel auf ihrem Rollator fiel. Es handelte sich unverwechselbar um die zackige Handschrift von Pastor Stark, die ich schon oft gesehen hatte.

„Im Fall des Todes sofort Pastor i.R. Adolf Stark benachrichtigen!!!“, stand dort in dem für ihn üblichen Kommandoton.

Die Krankenschwester war meinem Blick gefolgt und fragte: „Möchten Sie Herrn Stark benachrichtigen oder sollen wir das tun?“

Bei Tante Sophies Geburtstagsfeier hatte ich diesen Menschen als arrogant und überheblich empfunden. Deshalb verspürte ich in dieser schwierigen Situation auch nicht den geringsten Wunsch mit ihm zu sprechen oder gar seine Weisungen entgegenzunehmen. Ich wollte einfach nur in Tante Sophies Sinne entscheiden, wie ich es fühlte und für richtig empfand, und mir nicht von einem Fremden reinreden lassen. Also bat ich die Krankenschwester, Herrn Stark zu informieren.

Gegen 9.30 Uhr verließ ich das Krankenhaus und fuhr nach Hause, um wie versprochen Angehörige und Freunde zu benachrichtigen und mich mit dem Beerdigungsinstitut in Verbindung zu setzen. Ich war gerade zu Hause angekommen, hatte nur kurz meinem Mann von dem traurigen Ereignis berichtet, als schon das Telefon klingelte. Es meldete sich der Leiter des Wohnstifts, in dem meine Tante in den letzten Jahren gewohnt hatte.

Herr Meierle klang ein wenig aufgeregt: „Guten Morgen, Frau Anoir. Zunächst möchte ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid zu dem Tod Ihrer Tante aussprechen. Sie war bei uns allen außerordentlich beliebt, und wird uns sicherlich mit ihrer fröhlichen Art sehr fehlen. Soeben hat mich Herr Stark angerufen, mir von dem Ableben berichtet und mir mitgeteilt, dass er gleich in das Wohnstift kommen will, um die Wohnung von Ihrer Tante aufzusuchen. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich ihm den Zutritt verweigert habe, da Frau Reber zu Lebzeiten eine Zugangsberechtigung über den Tod hinaus ausschließlich auf Ihren Namen in unserem Wohnstift hinterlegt hat. Ich kann Ihnen bei Bedarf auch gerne eine Kopie davon machen. Herr Stark erwiderte daraufhin, dass er nun seinerseits ein Schriftstück vorlegen will, dass auch einen Zutritt in die Wohnung rechtfertige. Ich bin ja gespannt, um was es sich da handelt.“

Ich war total sprachlos. Was um Himmels Willen wollte Herr Stark nur eine Stunde nach dem Tod meiner lieben Tante in ihrer Wohnung?

„Ich danke Ihnen sehr, dass Sie mich darüber informiert haben“, brachte ich dann hervor, und nach weiteren freundlichen Worten beendeten wir das Gespräch.

Anschließend telefonierte ich, wie versprochen, das Adressbuch durch und machte einen Termin bei dem Beerdigungsinstitut zur Absprache von Details aus. Wieder klingelte das Telefon.

Diesmal war es mein Mann: „Ich bin ins Krankenhaus gefahren, um mich noch einmal von Tante Sophie zu verabschieden. Stell dir vor, die Krankenschwestern haben mich gleich abgefangen. Ich soll dir ausrichten, dass Herr Stark hier gewesen ist und die Herausgabe der hinterlassenen Gegenstände von Tante Sophie gefordert hat. Da sie bereits mit dir Absprachen getroffen hatten, haben sie Herrn Stark die Herausgabe verweigert, möchten sich jetzt aber rechtlich absichern und verlangen deshalb nun entsprechende schriftliche Vollmachten.“

„Das kann doch wohl nur ein schlechter Traum sein!“, dachte ich perplex. „Sicherlich wache ich gleich auf und meine Sorgen und Probleme haben sich schlagartig in Luft aufgelöst.“

Doch leider geschah nichts dergleichen. Stattdessen musste ich weiterhin versuchen, meine Aufgaben pflichtgemäß zu erfüllen. Das fiel mir im Augenblick sowieso schon sehr schwer, und zu allem Überfluss stellte sich mir Herr Stark auch noch dauernd in den Weg.

„Ich habe gleich einen Termin mit dem Beerdigungsinstitut“, antwortete ich. „Danach werde ich sogleich in das Wohnstift fahren und eine Kopie der Vollmacht anfertigen lassen. Herr Meierle hat mir das bereits angeboten.“

Es war ein kalter, frostiger Tag und nicht ganz einfach in der Stadt einen Parkplatz in der Nähe des Beerdigungsinstituts zu finden. Ich musste erst ein wenig suchen, ehe ich mich in eine kleine Parklücke zwängen konnte.

Das Beerdigungsinstitut fand ich aber schnell, öffnete die Tür und betrat den Laden. „Guten Tag“, grüßte ich. „Ich habe einen Termin mit Frau Reude. Es geht um die Beerdigung von Frau Reber.“

„Einen Augenblick, bitte. Ich werde sie holen.“

Instinktiv stieg in mir eine unangenehme Vorahnung auf, dass gleich etwas nicht nach Plan laufen würde. Ich konnte eigentlich gar nicht sagen, wie ich darauf kam.

Nach kurzer Zeit schritt eine hagere, grauhaarige Frau mit einem aufgesetzten Lächeln den Gang entlang auf mich zu, begrüßte mich säuerlich und bat mich in den Besprechungssaal.

„Wir haben ein Problem“, begann sie. „Eben hat mich Pastor Stark angerufen und mir mitgeteilt, dass er die gesamte Beerdigung organisiert.“

Als hätte mir jemand in die Magenkuhle geboxt, stieg plötzlich eine leichte Übelkeit in mir hoch, und ich wäre am liebsten aus dem Laden gerannt. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Ich kam mir vor wie der Hase in der Fabel vom Hasen und dem Igel. Überall, wo ich hinkam, war Herr Stark in Igelform schon vor mir da.

„Aber… aber meine Tante hat mir doch diese Aufgabe zu Lebzeiten übertragen“, stieß ich hervor. „Sie hat mit mir auch ganz genau abgesprochen, wie sie sich den Ablauf vorstellt, bis ins kleinste Detail! Und ich habe auch eine Vollmacht, die mich dazu berechtigt.“

„Nun, Pastor Stark hat auch gesagt, dass er damit beauftragt worden ist…“, entgegnete sie und mir war sofort klar, wem sie mehr Glauben schenkte. „Wenn Sie wirklich eine Vollmacht haben, dann möchte ich Sie bitten, sie zu besorgen und sie mir hier vorzulegen.“

Das war einfach nicht zu fassen! Überall wurden mir bei meinem Tun Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ohne irgendetwas besprochen zu haben, verließ ich wie ein Sünder erfolglos den Laden und machte mich nun auf den Weg zu dem Wohnstift.

Hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre. Alle waren sehr nett und hilfsbereit. Die Empfangsdame führte mich auf meinen Wunsch hin umgehend zu dem Leiter Herrn Meierle. Herr Meierle war ein kleiner, etwas untersetzter Herr mit einer Halbglatze und einer runden Brille auf der Nase. Ich hatte ihn schon mehrmals bei meinen Besuchen von Tante Sophie kennengelernt. Er begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln und bot mir einen Platz an. Wie wohltuend war seine reizende Art nach den ganzen schrecklichen Erlebnissen an diesem Tag.

„Nun, die ganze Angelegenheit kommt mir sehr eigenartig vor“, begann er das Gespräch. „Ich habe sämtliche Unterlagen, die Frau Reber vor ihrem Tod hier im Wohnstift hinterlegt hat, noch einmal durchgesehen. Es ist ganz eindeutig, dass ausschließlich Sie die Vollmacht und eine Zugangsberechtigung zur Wohnung haben. Ich habe mich lieber noch einmal genau rückversichert. Immerhin ist Pastor Stark in der Stadt ein einflussreicher Mann. Aber ich kann definitiv sagen, dass ich kein Freund von ihm bin – ganz im Gegenteil. Mir sind hier aus dem Wohnstift Geschichten bekannt… - aber das darf ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls haben Sie meine volle Unterstützung. Die von ihm in seinem Telefonat heute Vormittag angesprochene Vollmacht hat er bis jetzt auch noch nicht vorbeigebracht. Er ist trotz Ankündigung bisher noch nicht einmal hier erschienen.“

Die ganze Angelegenheit schien immer mysteriöser zu werden.

Er stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und holte von dort einige Unterlagen und überreichte sie mir. „Hier ist die Vollmacht, und ich habe Ihnen schon gleich eine Kopie davon gemacht. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie jetzt gerne in Frau Rebers Wohnung. Sie hat trotz ihrer schweren Krankheit noch veranlasst, dass sie versiegelt wird, das heißt, dass ausschließlich Sie als Bevollmächtigte die Möglichkeit haben, die Wohnung zu betreten. Zum Öffnen der Wohnung muss das Personal vorab die Betretungsbefugnis kontrollieren und schließt dann mit einem speziellen Schlüssel auf.“

Ich wunderte mich. Weshalb hatte Tante Sophie denn solche Vorsichtsmaßnahmen getroffen? Gerne ging ich aber auf Herrn Meierles Angebot ein und ließ mich von ihm in die Wohnung führen. Dort angekommen verabschiedete er sich von mir, und ich war nun allein in der kleinen, nett eingerichteten Wohnung.

Ein seltsamer Augenblick: Eigentlich hätte sie lächelnd auf dem Lehnstuhl sitzen und mir Eis und Himbeeren oder sonst etwas Leckeres anbieten müssen. Schwer vorstellbar, dass sie dort nie wieder sitzen würde. Ich zwang mich, mich darauf zu konzentrieren, was ich erledigen wollte. Gezielt ging ich zu dem kirschbaum-farbigen Biedermeierschrank, schloss die Schranktür auf und entnahm ihm den Aktenordner vom Beerdigungsinstitut. Wie ich wusste, befand sich in ihm eine Liste mit Adressen, an die die Trauerkarten zu versenden waren. Ich legte die Vollmachten auf den Ordner und verließ die Wohnung wieder, um nun nochmals zum Beerdigungsinstitut zu fahren.

Diesmal empfing mich Frau Reude selbst schon im Laden und bat mich wiederum in das Besprechungszimmer. Siegesgewiss legte ich die Vollmacht auf den großen runden Holztisch auf ihren Platz. Sie setzte ihre Brille auf und begann, sie haarklein zu studieren, als suche sie einen Fehler oder eine Unvollständigkeit. Als ihr das aber nicht gelang, schloss sie die Mappe.

„Das scheint ja soweit in Ordnung zu sein. Ich werde jetzt Pastor Stark anrufen und ihn fragen, ob er etwas dagegen hat, wenn Sie die Formalitäten übernehmen.“

Unglaublich, welche Macht diesem Pastor zugestanden wurde. Wer gab ihm das Recht darüber zu entscheiden, ob ich die Formalitäten übernehmen durfte oder nicht? Innerlich kochte ich vor Wut und Ohnmacht, aber im Sinne eines schnelleren Vorankommens versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen.

Frau Reude verließ das Besprechungszimmer und ging in den Nebenraum. Ich hatte den Eindruck, dass ich den Inhalt des Gespräches nicht mitbekommen sollte, was mich dazu bewog, die Ohren zu spitzen. Die beiden schienen sich gut zu kennen. Ich hörte noch, wie sie Herrn Stark von der Gültigkeit meiner Vollmacht berichtete, doch dann wurde das Gespräch so leise, dass ich nichts mehr verstehen konnte.

Nach einer Weile kam sie zurück und erklärte mit ihrem aufgesetzten Lächeln: „Es ist alles geklärt. Pastor Stark will den Trauergottesdienst abhalten. Den Rest können Sie ruhig machen – das macht eh nur Arbeit, wie er sagte.“

Eine unbeschreibliche Überheblichkeit! Keine Rede davon, dass er die geforderte Vollmacht in keiner Weise vorweisen konnte und somit überhaupt keine Befugnis hatte sich einzumischen.

Endlich konnten wir mit dem eigentlichen Anliegen meines Besuches beginnen. Vieles hatte Tante Sophie ja bereits vorbereitet, jedoch blieben noch einige Dinge übrig, die ausgesucht oder geplant werden mussten. Ich wählte zum Beispiel wunderschöne, elegante cremeweiße Karten sowie dazugehörige Umschläge mit einem grauen Rand und Silberstreifen aus, weil ich mir sicher war, dass sie Tante Sophie gefallen würden. Für sie war der Tod nichts Trauriges – Schwarzes gewesen. Auch das bedrohliche schwarze Kreuz, das mir Frau Reude für die Karte vorschlug, wollte ich so nicht akzeptieren. Für Tante Sophie war das Kreuz als Symbol des Glaubens etwas unendlich Schönes gewesen.

Zum Abschluss unseres Gesprächs kam Frau Reude noch mit einem neuen Vorschlag: „Frau Reber ist ja so sozial eingestellt gewesen. Sie hat mir gegenüber mehrmals den Wunsch geäußert, dass die Trauergäste anstelle von Blumenkränzen an eine wohltätige Organisation spenden sollen. Was halten Sie davon?“

Ich zögerte etwas, da mir davon eigentlich nichts bekannt war. Tante Sophie hatte sich sogar selbst für ihren Sarg einen üppigen Blumenschmuck ausgesucht und einen entsprechenden höheren Geldbetrag dafür vorgesehen. Das passte alles nicht ganz zusammen, zumal Tante Sophie zu Lebzeiten eine große Blumenliebhaberin gewesen war. Ich konnte das Gegenteil aber auch nicht beweisen und musste darauf vertrauen, dass Frau Reude die Wahrheit sagte. Etwas widerstrebend stimmte ich dem Vorschlag also zu.